Octavio Paz – Die doppelte Flamme

Als Leidenschaft und nicht nur als Idee ist die Liebe in der Neuzeit revolutionär gewesen. Die Romantik hat uns nicht gelehrt zu denken, sie hat uns zu fühlen gelehrt. Das Verbrechen der modernen Revolutionäre war es, dass sie das affektive Element aus dem revolutionären Geist ausgemerzt haben. Und die große moralische und geistige Misere der freiheitlichen Demokratien ist ihre Gefühllosigkeit. Das Geld hat die Erotik konfisziert, weil Seelen und Herzen schon ausgedörrt waren.
Obgleich die Liebe noch immer das Thema der Dichter und Romanciers des 20. Jahrhunderts ist, ist sie in ihrem Innern verwundet: dem Begriff der Person. Die Krise der Idee der Liebe geht einher mit dem Verschwinden der Seele. Die Idee der Liebe war während eines Jahrtausends der moralische und geistige Impuls unserer Gesellschaften gewesen. Sie entstand in einem Winkel Europas, und wie das Denken und die Wissenschaft des Okzidents hat sie sich weltweit verbreitet. Heute droht sie zu verschwinden: ihre Feinde sind nicht mehr die von einst, die Kirche und die Moral der Enthaltsamkeit, sondern die Promiskuität, die aus der Liebe einen Zeitvertreib macht, und das Geld, das sie in Sklaverei verwandelt. Soll unsere Welt wieder gesunden, muss die Therapie eine doppelte sein: die politische Regeneration schließt das Wiedererstehen der Liebe mit ein. Beide, Liebe und Politik, sind abhängig von der Renaissance des Begriffs, der die Achse unserer Zivilisation gewesen ist: die Person. Ich denke nicht an eine unmögliche Rückkehr zu den alten Konzeptionen der Seele; ich glaube, dass wir, bei Strafe des Erlöschens, notwendig eine Vision vom Mann und von der Frau brauchen, die uns das Bewusstsein der Singularität und der Identität einer jeden Person wiedergibt. Eine zugleich neue und alte Vision, eine Vision, die in zeitgerechten Begriffen jedes menschliche Wesen als ein einzigartiges, einmaliges und kostbares Geschöpf betrachtet. Es ist Sache der schöpferischen Vorstellungskraft unserer Philosophen, Künstler und Wissenschaftler, nicht das uns Fernste wiederzuentdecken, sondern das Vertrauteste und Alltäglichste: das Geheimnis, das jeder von uns ist. Um die Liebe neu zu erfinden, wie der Dichter forderte, müssen wir den Menschen neu erfinden.

– Octavio Paz, Die doppelte Flamme, Bibliothek Suhrkamp (204-205)

Das Gebrüder-Grimm-Projekt

Auf die Frage, wann und ob das Gebrüder-Grimm-Projekt erscheinen wird, möchte ich sagen: Es wird erscheinen. Nur sind 200 Märchen nicht im Spaziergang zu lesen. Wenn wir bis jetzt noch nicht damit beginnen konnten, so hat das seinen Grund in der momentan mangelhaften Technik, die mir zur Verfügung stünde. Das Grimm-Projekt wird in einem Studio aufgezeichnet, das mir bislang nicht die gewünschte Zeit zur Verfügung steht. Ein weiterer Grund der Verspätung betrifft den administrativen Bereich, der gegenwärtig noch nicht zu meiner Zufriedenheit geklärt ist. Da es sich hierbei um eine Referenzwerk handeln wird, sind jegliche Fehler indiskutabel.
Auch beginnen gerade die Arbeiten am Gesamtkonzept zur MITTE DER UNENDLICHKEIT. Da es sich hierbei nicht lediglich um einen Roman sondern um ein Multimedia-Ereignis handeln wird, ist das Gesamtvolumen noch nicht ganz absehbar, genießt aber meine absolute Priorität und Aufmerksamkeit.

März, Zwanzig, Neun

„Waren wir gestern besoffen, Herr Perkampus?“
„Sehr. Wir waren alle besoffen. Jeder waren wir besoffen. Im übrigen mein erster Waffengang seit ich einzog in das Winterthur.“

Ich hatte damals, in der Urveranda, noch damit begonnen, meine ersten Tage hier zu dokumentieren. Die Luft wurde mir eng, die erste Rettungsmaßnahme war, eine Wohngemeinschaft zu installieren. Alles oder Nichts ist auch diesmal meine Maxime geblieben. Ich verabscheue das Mittelmaß.
Hier wollte ich etwas Neues beginnen, wollte mich ausbreiten über einer Flut aus Notizen. Hier wollte ich meine Übungen beenden und beginnen, zu schreiben. Ich bin sehr ins Hintertreffen geraten, mein Kosmos ist übervoll. Ich lebte nie an Orten, ich lebte in Herzen oder ich lebte gar nicht. Jetzt lebe ich in keinem Herzen mehr, deshalb besehe ich mir den Ort etwas genauer, streife zwischen Gebäuden hindurch, in manche gehe ich hinein. Das sind Höhlen, nichts weiter. Sehr moderne Höhlen. Ich frage mich, was ich hier mache. Ich frage mich, warum ich schließlich alle Herzen wieder verlassen habe, wo mir doch jeder Ort egal ist ohne pulsierendes Blut. Meine Reise ist noch nicht zu ende, aber ich bin angekommen in einem Glücksfall provozierter Konstellationen.

„Ich habe eine Neigung zu spelunkieren, Gestalten zu beobachten, zb. die kurzhaarige kleine alte Dame, die sich sehr rot einen Mund ins Gesicht gemalt hat, weil sie ansonsten keinen hätte. Zusammen mit dem einfältigen Schwuchtel (der mir an die Hose wollte, weil ich beweisen musste, dass mein Arsch der Knackigste im ganzen Lokal ist, was ich allerdings den Damen zeigte, er aber wollte seine Chance, aber ich war friedlich, brach ihm nicht die Hand) bildete sie ein skurriles Paar. Oder der Babyshamble-Gekleidete, der mich genausogut an eine Karikatur Ben Beckers erinnerte.“
„Und am Montag klettern Sie auf die Bühne und tun, als ob Sie nie weg gewesen wären.“
„Das kann man so sagen, ja.“

März, Vierzehn, Neun

14.33

In zwei Wochen teilt sich das Meer. Der Roman hat wieder Fahrt aufgenommen, dann die Gala, dann das geteilte Meer, da müssen wir durch die Wassermassen schreiten, dann das geliebte Herz beruhigen, nichts ist geschehen, nichts hat sich verändert, aber es bedarf kleiner Veränderungen. Unterbrechung des dritten Kapitels, bevor ich vergesse zu essen. Magnitudo.

[…]Ich sehe hinaus, ich sehe immer nur aus allem hinaus: meinem Körper, dem Fenster, hinaus. Meine Iden des März, die prophetischen Winde, die an der Tür klopfen. Kreiseln auf der Stelle jeder Stele, Ränkespielen der Isobaren, Taupunkt über den schweißgetränkten Laken zahlreicher Liebesnächte mit ihrer intimen Akrobatik, mit ihrem Kesselkrieg, der so manches Haar gekrümmt.
Du stehst in diesem Traumfunkeln, stehst da, bist nackt wie der Sonnenschein, mit deinen wunderschönen Mammas, deiner Scham, wo ich hingehöre, woraus ich komme, in die ich hinein muß, will ich jemals wieder komplett sein.[…]

Ein Buch ist unmöglich allein zu schreiben. Man benötigt Impulse, Konstellationen, Zeiten, Träume. Die Wahrnehmung will geworfen sein wie ein Fischernetz. Meine Sprache ist Wahrnehmung, ein wirbelndes Leben.

16.07

Das dritte Kapitel abgeschlossen.