Wirklichkeit und Gegenteil

Wenn wir von Zeit reden, reden wir auch von der Wirklichkeit. Wir können sagen, Wirklichkeit ist das, was wirkt – und hätten damit nichts gesagt, wir hätten einfach nur auf eine banale Faktizität verwiesen.
Wirklichkeit ist vielmehr das, was auf die richtige Weise geschieht und das setzt voraus, daß es einen bereits geschehenen Akt erneuert. Natürlich will ich auf den Mythos hinaus. Die richtige Weise kann nur eine zeitübergreifende Gültigkeit meinen, Wiederholung ist demzufolge ein Ritual. Wiederholung ist jedoch nur dann ein Ritual, wenn die damit verbundene Aktion einen klar umrissenen Sinn aufweist, sich also auf ein mythologisches Vorbild beruft.
Nun aber ist die Wirklichkeit vielmehr durch ihr Gegenteil zu begreifen. Es ist oft so, dass man erst durch den Antipoden den eigentlichen Sinn umreißt – und oh wie oft wissen wir den Gegenpart gar nicht zu benennen. Man mag also schnell bei der Hand sein und sagen: Das Gegenteil von Wirklichkeit sei allemal die Phantasie. Damit aber, das wird man wissen, sagt man, daß die Welt, wie sie ist, nicht wirkt, denn die Phantasie hat uns die Welt so gestaltet. Ich will es aber nennen, ich will sagen: Das Gegenteil von Wirklichkeit ist das Profane, das Belanglose, das Flüchtige. Ein flüchtiger Schmerz ist keiner, eine flüchtige Liebe ist keine… Das Gegenteil der Wirklichkeit ist all das Arme, das ohne mythische Vorbilder auskommen muß.

Das Zeitverständnis der Antike war ein zyklisches, ein rückwärts gewandtes, aus dem sich die Zeitstränge in die Jetztzeit emporschwingen, aus der Überlieferung, aus dem Urgrund lässt sich alles ableiten, die Zukunft verheißt hier nur den Untergang – da wird die Zeit zu Ende sein, der Zusammenbruch ist nahe, alles versinkt, um neu zu erstehen. Oh ja – dort brennt bereits der Horizont und nur die Urflut wird die Flammen löschen, aber nur, um das ganze Universum zu überschwemmen. Doch zyklisch meint eben: Der Spatz wird wieder fliegen und ein kleines Grün ragt wieder vor, um alles neu zu beginnen. In diesem Sinne feierte man Hochzeit, Geburt, ein neues Jahr, und überhaupt jedes Ereignis, denn es ist wortwahr ein Zyklus.
Ist aber nun unsere Zeit gefragt, so wird man leicht erkennen, daß die emotionale Besetzung die Zeitachse geradezu umdreht. Da ragt die Zukunft als ein neues Ereignis in die Luft, ein Füllhorn geradezu – wir sehen ja nur dem Besseren entgegen, da vorne liegt das mit zimtenen Griesbrei umfriedete Schlaraffenland. Die Zukunft ist kein seit Urzeiten vorbestimmtes Schicksal, trägt nicht das Gewandt vergänglichen Moders, sondern ist ein Spielraum von Freiheit, beeifert den Modus der Möglichkeit – und diese Möglichkeit ist eben auch – das Gegenteil von Wirklichkeit, in diesem Falle eine seelenlose Tatsache. Dann, noch etwas weiter – wir überschreiten diese Grenze – es ist JETZT – wir gehen hindurch, und: Das Mögliche wird Geschichte und verbleibt auf ewig unverändert hinter uns zurück. Und Fakt wird Tod. Was sich nicht mehr ändern lässt, steht still, erstarrt und Stillstand ist freilich der Tod.
Mit Seneca rufen wir hinunter ins Tal:

„Darin täuschen wir uns nämlich, dass wir den Tod vor uns sehen: Zu einem großen Teil ist er schon vorbeigegangen. Alles, was von der Lebenszeit hinter uns ist, hat der Tod in Besitz.“

An einem Nagel

Ich nehm gern an, du seist ein Bild
Zum gucken da, zum hängen hin
Ein Bild, Reflex der Farben

Ich nehm gern an, du seist gemalt
Von Regenbogenfingern
Gemalt, herumzulichtern
In den Räumen, die du schmückst

In die Feder

Über das Gedicht sprechen, als könnte man es greifen, hört man an allen Ecken und Enden etwas wispern, flöten, gar tumulten, aber wieder vergessen; hört das eine nicht gern, vor allem dann, wenn es sich um deklarierte Standortbestimmungen des Gedichts handelt, wo doch eines fest steht: das Gedicht wird niemals einen Standort beziehen, niemals festsitzen in der Pfanne menschlichen Ermessens; das Gedicht will stets alles sein und ist eben nicht der Wort gewordene Moment, mit Zement wie eine Mauer hochgezogen.

Ich selbst habe mich bisher zurückhalten können, und das, obwohl ich mich a, als Lyriker verstehe (und ich muss betonen, dass ich in meiner Arbeit keinen generischen Unterschied zwischen Lyrik und Prosa mache), und b, zu allen möglichen Aspekten der Literatur bereits Aussagen getroffen habe. Ich habe mich unverrückbar in die Tiefe begeben und für einen kausalen Anstand, wie er vor allem in Deutschland alle Lebensbereiche durchquickt, nichts übrig. Über das Phänomen der Wahrnehmung lasse ich mich nicht selten aus, sie ist ein Bestandteil meines ganzen komplexen und labyrinthischen Schaffens geworden. Daß ich nirgendwo hingehöre stimmt nur für meine Sprache, und weil das Gedicht viel mehr mit dem Bodensatz eines Mutterwortes zu tun hat als die Prosa, sprechen wir immer auch über eine Eschatologie des Gedichts, wenn wir etwas Standort nennen wollen (in der Annahme, daß es einen Punkt gäbe, von dem sich die ganze Welt überblicken ließe).

„o tretet zu mir her, und betrachtet, was ihr fehler nennt, aus meinem standorte“ – Lessing

Daß sich ein Gedicht stets im Werden befindet, daß es sich, während es geschrieben, und sogar während es gelesen wird, noch nicht entwickelt hat, steht dem Wort schon selbst zu Gesicht; daß das Erdichten dem Schreiben identisch ist, daß es Erfindung bedeutet und das Einfassen dessen, was man aus dem immerwährenden Gedankenstrom herausreißt, deutet an, wo wir das, was ein Gedicht will, zu suchen haben. Man sieht ja gleich, daß hier jedes technische Geschwätz überflüssig ist, und daß wir dorthin kehren müssen, wo das Gedicht schließlich zu Hause ist: dort, wo etwas zur Sprache drängt, ohne Kommunikation sein zu wollen. Etwas diktiert (lat. dictare) und spricht dem Schreiber in die Feder – das schließt das Konzept völlig aus und steht hinter dem, was ein Gedicht ist, denn es ist nie das, was feststeht; die Symbole tanzen für jeden anders. Entnähmen wir dem Atlantik einen Tropfen Wasser, wer wollte herausfinden, berechnen und nachweisen, woher dieser Tropfen genau stammt, mit Länge und Breite? Selbst wenn etwas derartiges möglich sein sollte (der Versuch, die Wirklichkeit erstarren zu lassen ist ein unnützer Kraftaufwand, der schon sehr lange betrieben wird), würde man das Wogen des Meeres ignorieren, die Tatsache, daß unser gefangener Tropfen in der nächsten Sekunde bereits hundert Meilen westwärts, südwärts, egalwohinwärts sich mit einem anderen Tropfen vermählt, aufgeteilt, neu gefügt und weiter schwuppwegs geplantscht wäre? Oh ja, das würde man gerne wollen, man würde gern das Meer einfrieren, damit man Bewegung, Entwicklung und Verwicklung vermeide, damit man endlich alle Tropfen, die ein Meer enthalten kann, endgültig zu kartographieren wüsste. Für immer gültig, für den Sohn, den Enkel, den Urenkel.
Sämtliche Magie müsse aus der Wirklichkeit verschwinden gemacht werden. Und genau dann gäbe es kein Gedicht mehr. Ein Gedicht ist also auch Magie, ist Zauberspruch, Beschwörung, ist unfassbar (deshalb das groteske Gebaren der Reimer, die den Meereinfrierern die Hand reichen, damit endlich alles klar sei und die lexikalische Dichterei den Nachweis erbringe: es ist ja alles Schweiß und Fleiß, was sich da Lürick nennt, und man kann’s den Kindern mütlich neben der Mathematik unter den Brei mischen). Ah Perfido!

Kunst um der Kunst Willen

Am 25. Mai 1895 wurde Oscar Wilde innerhalb eines Verleumdungsprozesses wegen “Unzucht” zu zwei Jahren Zuchthaus mit Zwangsarbeit verurteilt. Der Marquis von Queensberry hatte Wilde öffentlich beschuldigt, als Homosexueller zu posieren, wogegen der Irische Dichter Klage erhob. Eine kluge Idee war das nicht, denn es konnte im Laufe der Verfahrens bewiesen werden, dass Wilde nicht nur “posierte”.
Dass gleichgeschlechtliche Liebe einen Affront gegen die viktorianische Gesellschaft darstellt, verwundert wenig. Doch Wilde wurde nicht ausschließlich wegen seiner sexuellen Orientierung verfolgt, als vielmehr wegen seiner Maxime: “Kunst um der Kunst willen.” Die Anklage führte diese Aussage an, um Wildes verdorbenen Charakter nachzuweisen.

Früher war Paris sehr fremd

Ich bin gekommen, und morgen werde ich erschöpft in deinem Auto sitzen, um durch die Champagne zu mäandern.
Heute gelingt es mir nicht mehr, über Bert nachzudenken, ohne seine Flammen auch auf Madeleine zu beziehen. Das Feuer stand im Mittelpunkt meiner ersten Reise nach Paris, über das ich nichts wußte, außer: wer Paris nie gesehen hat, ist niemand, der meine Aufmerksamkeit verdient, ihm fehlt die Leidenschaft, die uns zusammenbringen könnte.
Unsere Romantiker waren nicht so gut auf die französische Metropole zu sprechen. In seiner “Reise nach Frankreich” notiert Friedrich Schlegel:
In Paris findet man alles für die Sinnlichkeit, aber nichts für die Phantasie.
Verwundern darf das nicht; auch nicht, daß Kleist etwas Ästhetisches vermerkt, denn in der Großstadt zeigten sich anscheinend Entfremdung und psycho- wie soziopathische Zustände des modernen Menschen und seiner zweiten, von der Zivilisation deformierten Natur, besonders kraß.
Die Gasbeleuchtung gab es erst am 1817, die Boulevards waren ebenfalls noch nicht erbaut. Haußmann hatte das geniale Paris noch nicht geschaffen.
Was Kleist, Tieck und Eichendorff jedoch als Gemeinplatz in ihre Schriften einfließen ließen, war ja nicht zuletzt die Klage gegen die vorgefundene Dominanz des kalten Verstandes über die Empfindungen.
Eine Parallele zu heute hieße: vor lauter Pornographie entdecken wir den Körper nicht mehr. Wir fühlen uns frei, nach Herzenslust zu kopulieren – jeder Körper ist austauschbar. Doch unter dem Schein dieser angeblichen Freiheit ist die Sinnlichkeit gänzlich abwesend und die Unzufriedenheit nimmt gefährliche Züge an. In meiner eigenen Freiheit fand ich die Suche wieder. Sie war ein Treiben-Lassen, ich war jung und wunderlich, durch keine Erziehung beschämt, begriff den Sinn als Ordnung, die ich verstehen konnte: das Universum, die Natur – hält sich nicht mit unserem Verständnis auf, reagiert aber auf unsere Vorstellung von Welt und Zusammenhang. Daher war mir nicht auszuschließen, daß es eine Epoche der Zauberei gegeben hatte. Die Zauberei: was wären wir unter anderen Bedingungen? Warum habe ich erlebt, was ich erlebt habe? Ich habe es mit anderen erlebt, aber sie erlebten alles für sich, doch in meiner Vorstellung gab es diese Trennung nicht. In meiner Vorstellung erging es Madeleine wie mir. Deshalb zogen wir uns an.