Foto1: In Bewegung

Es ist kein Unterschied auszumachen zwischen der Fotographie eines längst verstorbenen Menschen und eines vergessenen. Es scheint, als sei uns das Verschwinden und das Vergessen erst durch das Ansehen einer Fotographie bewußt, nicht durch das Ansehen allein, sondern durch das papierene Wunder, wenn wir behalten, worauf sich die Augen richten, das vorangegangene Kramen in Zeitkartons, das eine zerfleddert, das andere schon gilb, das nächste matt befleckt. Nur ein paar Schatten, nur ein wenig Licht ist dafür verantwortlich, daß wir der Täuschung eines Augenblicks aufsitzen.
Ich betrachte die abgebildete Person und frage, hat sie ihr Schicksal geahnt? Befindet sich da nicht ein wissendes Grübchen an der Seite eines melancholischen und tapferen Lächelns? (Deute ich das Lächeln als tapfer, weil ich heute viel mehr über die Geschichte der Person weiß als sie selbst zu diesem Zeitpunkt?)
Wurde mir jemals, während der Auslöser klickerte, bewußt, daß es eines Tages einen Betrachter über mir geben könnte, der mehr über mein Gesicht weiß als ich? Furcht die Sonne, das Kunstlicht, die Zeit ins Gesicht, schreibt die Reproduktion des Moments die Zukunft aus? Ich will wissen, wo sich dieser Augenblick befindet. Vergangen sein kann er nicht, sonst könnte ich ihn nicht auf diesem Foto erkennen. Ich halte den Beweis dafür in der Hand. Es ist alles angerichtet, wie es war, das Haus, das weiße Haus, der Schotterweg (man hätte den Kieselsteinen Namen geben müssen – sie hätten sich heute in meinen Augen wiedererkannt; Familiennamen für Kieselsteine: Splitt, Gravel, Gneis, Schiefer, Griffel), in einer Zeit bevor Asphalt, in einer Zeit, da Wege begangen und nicht befahren, in einer Zeit der Fotolinsenbeobachtung, nicht in dieser Zeit sondern in dieser Möglichkeit. Sie steht in Pantoffeln und verabschiedet mich im Auto, das Auto, das viel früher wiederkehrt als ich, den Fahrer des Automobils, der mit ihr zusammen lebt, die Christina Winter ist. Die Kamera sieht das Auto rot, die Tür noch geöffnet, um keine Barriere entstehen zu lassen. Kein Barriereabschied, sie in Schürze aus Polyethylenterephthalat, ich in Baumwolle, nicht sichtbar, fast wie die Kamera blinzelnd, ohne mit ihrer Erinnerung konkurrieren zu können. Sie hat den Abdruck geduzt, die Oberfläche geschaffen, die mich jetzt angeht. Christina steht dort, und wenn der Weg beim gehen erst entsteht, gibt es den Weg zu diesem Augenblick, wenn ich jetzt aufstehe und das Haus verlasse, in Bewegung bleibe. Nicht muß ich zu diesem Ort, ich muß den Moment erreichen, ich muß nirgendwo hingehen, ich muß nur in Bewegung bleiben.

Veröffentlicht von

Michael Perkampus

Michael Perkampus war Moderator der Literatursendung Seitenwind für Radio Stadtfilter in Winterthur. Er ist Autor, Übersetzer und Herausgeber des Phantastikon.