Von vielen gelesen, von wenigen verstanden, sind die Manifeste des Surrealismus nicht wirklich die Geburtsstunde dieser Geisteshaltung, wohl aber der Pariser Bewegung.
Womöglich wäre es richtiger, von vorneherein Unterscheidungen zu treffen, etwa zwischen dem lateinamerikanischen Surrealismus, der es als einziger zu literarischen Weihen schaffte (Octavio Paz, Pablo Neruda, Boris Vallejo, um nur einige wenige zu nennen) und dem Pariser Surrealismus, der durch Salvadore Dali zum Ausverkauf in Disney-Club-Manier mutierte und der punktgenau mit dem Tode André Bretons, dieses alles überragenden Mannes, am 28. September 1966 endete.
Auch Manifeste kursierten zu diesem Zeitpunkt unter den Surrealisten (es war die Zeit der Manifeste schlechthin, jeder, der etwas auf sich hielt, verfasste mindestens eines davon) eine Menge. Doch erst 1924 formierte sich eine Gruppe um Breton und um die Zeitschrift “La Révolution Surréaliste”. In Bretons Manifest bekam der Surrealismus (einen Begriff, den man von Apollinaire entlehnte) folgende Philosophische Bedeutung:
“Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis heute vernachlässigten Assoziationsformen, an die Allgewalt des Traums, an das absichtsfreie Spiel des Gedankens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich an ihre Stelle setzen zur Lösung der hauptsächlichen Probleme des Lebens.”
Durch Breton und sein Gefolge erlebte die Romantische Idee der Entgrenzung eine neue und starke Blüte, in seiner Faszinationskraft nur mit Oscar Wilde zu vergleichen, kam Breton als Tabubrecher und besaß die Sensibilität und Ernsthaftigkeit, in dem, was als unbedeutende und lächerliche Spielerei begann, Ausdrucksformen und eine neue Weltsicht zu erkennen.
In Sätzen wie “Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.” – hat Breton das ganze Interesse der Künstler wieder in die ewig gültige Wahrheit der Magie und des Wunderbaren verlegt, wie sie vom Anbeginn der Menschheit überliefert ist. In einem Feldzug gegen die Vernunftgläubigkeit ging es nicht mehr um die bis dahin konstruierte Realität, sondern um das Wandeln dieser eindeutig miesen und schlechten Konstruktion in die wahre Realität, die naturgemäß nur surreal sein kann. “Das Bewundernswerte am Phantastischen ist, dass es nichts Phantastisches mehr gibt: es gibt nur noch das Wirkliche.”
Aber nicht um die Erneuerung der Kunst geht es Breton, sondern um eine Revolution auf dem Gebiet des Geistes herbeizuführen. Darin würde alle Kunst, die nur Schwindel ist, abgeschafft, weil alles selbst Kunst ist – was ist der Traum anderes als ein Kunstwerk. Breton kämpft insbesondere gegen den herrschenden Rationalismus, der zu dieser Zeit in Frankreich besonders heftig grassiert. Dass dieser Kampf verloren zu sein scheint, musste er nicht mehr erleben, und dass der Surrealismus wie die Romantik vor ihm in das Jargon der Verwässerung überwechselte, der Mondscheinpicknicks und der überaus blödsinnigen und überaus langweiligen Bilder, hat er wohl geahnt.