Zur Linguistik

Das linguistische System (mit anderen Worten die Grammatik) jeder Sprache ist nicht nur ein reproduktives Instrument zum Ausdruck von Gedanken, sondern formt die Gedanken, ist Schema und Anleitung für die geistige Aktivität des Individuums, zuständig für die Analyse seiner Eindrücke und dessen, was ihm an Vorstellung zur Verfügung steht. Die Formulierung von Gedanken ist kein rationaler Vorgang, sondern er ist beeinflusst von der jeweiligen Grammatik. Wir gliedern die Natur in Linien auf, die uns durch unsere Muttersprache vorgegeben sind. Uns präsentiert sich die Welt in einem kaleidoskopartigen Strom von Eindrücken, der durch unseren Geist organisiert werden muss, und das heißt: von unserem linguistischen System. Wie wir die Natur aufgliedern, sie in Begriffen organisieren und ihnen Bedeutungen zuschreiben, ist weitgehend davon bestimmt, dass wir uns an ein Abkommen halten, das für unsere ganze Sprachgemeinschaft gilt.
Nur dem Dichter (oder dem Wahnsinnigen) wird es gelingen können, die Wahrnehmung dahingehend zu steigern, dass sie über das linguistische System hinaus etwas betrachten kann, und das Betrachtete kann dann in Gedanken formuliert werden, indem die Grammatik außer Acht gelassen wird. Jeder Dichter, der sich an Konventionen hält, sieht nichts und spielt mit Bauklötzen, die ihm vorgelegt wurden ohne die natürliche Neugier des Künstlers in Anspruch zu nehmen, hinter die matte Oberfläche zu gelangen, was überhaupt das Ziel aller Kunst sein sollte; bildet sie lediglich ab und beschreibt, ist sie Handwerk.

Veröffentlicht von

Michael Perkampus

Michael Perkampus war Moderator der Literatursendung Seitenwind für Radio Stadtfilter in Winterthur. Er ist Autor, Übersetzer und Herausgeber des Phantastikon.