Die Bedeutung von Borges für die Literatur ist nicht zuletzt eine stilistische, denn alle Autoren, ob sie ihn anerkannten oder nicht, haben von Borges die praktische Anwendung jener stilistischen Ökonomie gelernt, die zu jener beeindruckenden Dichte führt, die dem Leser das Gefühl gibt, die endgültige, nicht mehr abänder- oder ergänzbare Formulierung eines Gedankens vor sich zu haben.
Behandelte Bücher:
Jorge Luis Borges, Fiktionen
Jorge Luis Borges, Das Aleph
Jorge Luis Borges, Niedertracht und Ewigkeit
Adolfo Bioy Casares, Morels Erfindung
Wenn wir heute von der Literatur des 20. Jahrhunderts sprechen, dann ist es nicht möglich, nicht sofort an Jorge Luis Borges zu denken, den Mann, dem seit vielen Jahrzehnten alle Schriftsteller der nachfolgenden Generationen bis heute die grössten Bahnbrechungen der Literatur verdanken.
Sein Erzählband „Fiktionen“ löste in den 40iger Jahren eine Revolution aus und gilt bis heute als das wichtigste einzelne Buch hispanischer Prosa des 20. Jahrhunderts – für viele das wichtigste seit Don Quijote. Mit seinen Erzähltechniken brachte Borges die hispanische Novelistik zur Weltgeltung: kühl kalkulierte Kunst statt biederen Dahinschreibens, Präzision und lakonische Tiefenschärfe statt breiter Auswalzung, eine Vielzahl von Erzählperspektiven statt des ewigen „allwissenden Autors“. Witz und disziplinierte Phantasie, dazu perfektes Handwerk lassen diese vielschichtigen Erzählungen nie akademisch erstarren; sie sind nach allen Seiten offen und immer ein Lesevergnügen. Borges Fiktionen sind der Ursprung des gesamten modernen „Magischen Realismus“. Ohne diesen Band wäre vieles nicht denkbar, was heute mit grossen Namen verbunden ist, Umberto Eco macht nicht mal einen Hehl daraus, wer seinen Werken „Pate“ stand.
So kann man von zwei grossen Polen der modernen Literatur an sich sprechen: der eine, das ist zweifelsohne Edgar Allan Poe, der, neben Walt Whitman, alle modernen Genres im Alleingang erfand und in der Neuzeit: Jorge Luis Borges.
Mittels einiger Verfahren zur Auflösung eines Dualismus, der Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen dem Autor und dem Leser, nimmt Borges die Theorie des nouveau roman und der Tel Quel-Gruppe vorweg, nach welcher sich die Texte selbst generieren. Der Autor verwandelt sich in jenen Part, der die Aktivität des Rezipienten als Co-Autor anregt und versuchen muß, den Prozess des Schreibens mit dem des Lesens in Einklang zu bringen. Borges behauptet in verschiedenen Interviews, daß der Schriftsteller vor allem Leser sei. Die Aspekte seines Denkens haben vor allem die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts bis heute geprägt und liessen Borges zum Urvater des postmodernen und postkolonialen Zeitalters werden. Es steht unumstritten fest, daß er ein neues Paradigma in der Literatur des 20. Jahrhunderts eröffnet hat, das gar nicht oft genug zu wiederholen ist: Die Auffassung, Literatur sei nicht mehr Mimesis der Realität sondern Pseudo-Mimesis der Literatur/Fiktion. Man habe es mit einer Literatur der Wahrnehmung zu tun, die nach dem Prinzip des Rhizoms organisiert ist (ein Prinzip, bei dem sich ein Element mit einem anderen von sehr verschiedener Struktur verbindet). Damit entledigt sich Borges jeder Art von Mimesis (Die freilich bereits in der Romantik aufgegeben wurde).
Heben wir die Wirklichkeit auf, indem wir den Unterschied zwischen ihr und der Fiktion nicht mehr gelten lassen, können die Erzählungen von Borges schwerlich als Nachahmung der Wirklichkeit und auch nicht mehr als phantastisch bezeichnet werden, da die Phantastik gerade aus der Opposition der Fiktion zur Realität erwächst. Hiermit zwingt Borges den Leser, seine Rezeptionshaltung entscheidend zu ändern: Dieser darf keine traditionelle und kohärente Geschichte erwarten, ebensowenig wie die Widerspiegelung der Realität oder eine Botschaft, der Text soll als eine eigenständige und dem Moment der Lektüre innewohnenden Realität verstanden werden.
Dabei entsteht hier das Labyrinthische, das die moderne Literatur so sehr kennzeichnet und das ich persönlich immer wieder herausheben möchte: bekannte und unbekannte oder erdachte Texte verweben sich ohne das Prädikat „universell“ oder „trivial“ zu einem Knäuel. Der Reziepient kann auf dieses Abenteuer eingehen und den Personen, Werken, Zitaten und Anspielungen nachgehen oder er kann einfach die Geschichte lesen. Für Borges gibt es keine Unterschiede der Gattungen, keine objektive Bewertung der Literatur, sondern nur persönlichen Geschmack.
Kafka ist stets als einer der Paten für die wohl bekannteste eigenständige Literaturströmung des 20. Jahrhunderts im La Plata-Raum genannt worden: für die „phantastische Literatur“ der Gruppe um Jorge Luis Borges, der, fleissiger Leser von Berkeley, Hume und Schopenhauer, versucht, sowohl in der Form des Gedichts, als auch in Erzählung und Essay die Konsequenzen des dieser Philosophie zugrundeliegenden radikalen Zweifel als Gedankenexperiment durchzuspielen.
Damit trat Borges dem aufkeimenden Naturalismus und der Tendenz zum Psychologischen in Theorie und Praxis entgegen. In der Praxis tut er das mit dem Band „Niedertracht und Ewigkeit“, einem Band meisterhafter Nacherzählungen von Abenteuergeschichten aus allen Erdteilen, in dem auch zum ersten Mal Borges’ die Intertextualitätsdebatteder 70iger Jahre vorwegnehmendes Textverständnis zum Ausdruck kommt. In der Theorie geschieht das durch die Neudefinition des phantastischen Genres, und vor allem durch das Vorwort zu dem 1940 erschienenen Roman der neuen phantastischen Strömung „Morels Erfindung“ seines Freundes Adolfo Bioy Casares. Im selben Jahr erschien, mit einem ebenfalls programmatischen Vorwort, diesmal von Bioy Casares, der Band, der die neue Strömung sozusagen eröffnen sollte: eine Anthologie phantastischer Erzählungen aller Zeiten und Länder, herausgegeben von Borges, Bioy Casares und dessen Frau Silvina Ocampo.
Mit dem ersten Band „Der Garten der Wege, die sich verzweigen“, die später mit dem nächstfolgenden zu „Fiktionen“ zusammengefasst wurde, folgt das Spiel mit virtuellen Welten und virtuellen Büchern. Tatsächlich nützt Borges in seinen phantastischen Erzählungen die leserorientierte Strategie aus Anspielungen, scheinbaren und tatsächlichen Auflösungen, die für das Genre des Kriminalromans typisch ist, den er, wiederum mit Bioy Casares unter dem Pseudonym H. Buston Domecq parodiert.
Im allgemeinen beruht seine Strategie auf einem intensiven Einsatz beglaubigter Faktoren, die das Erzählte dem Leser als realistische Erzählung und sogar als Zeugenaussage präsentieren.
Das wird klar an seiner signifikanten und berühmten Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tetris.
Die beiden handelnden Personen Borges (Ich) und Bioy Casares, die sich auf ein real existierendes, Bioy gehörendes Landgut zurückgezogen haben, begegnen dort in einem Raubdruck einer tatsächlich exisierenden Enyklopädie einem Artikel über das Land Uqbar, von dem Borges nichts wusste. Zurück in Buenos Aires, sieht er in einem anderen Exemplar derselben Enzyklopädie nach – die vier Seiten zu Uqbar fehlen. Damit bricht das phantastische Element in die Erzählung ein, das den rationellen Leser verunsichern möchte, der bislang anhand einer Fülle verifizierbarer Details in dem Glauben sein musste, eine Tatsachengeschichte zu lesen.
Aber selbst als Borges nun allmählich eine fiktive Welt zeichnet, in der noch eine andere, ausschliesslich Uqbar, bzw. dem fiktiven Land Tlön gewidmete Enzyklopädie auftaucht, werden die bekanntesten Namen der zeitgenössischen Literaturszene als handelnde Figuren und damit als „Zeugen“ für die Realität der erzählten Welt aufgeboten, um diese Verunsicherung noch zu stärken.
Zugleich wird der Text selbst zum Artikel einer solchen Enyklopädie, in dem Tlön is essayistischer Form beschrieben, aber nicht mehr erzählt wird. Die Geschichte endet mit der Andeutung einer hinter dem ganzen Zauber stehenden Weltverschwörung, die dafür sorgen werde, daß die Welt Tlön wird. An dieser Stelle wäre auch eine allegorische Deutung möglich, aber Borges kehrt stattdessen zur Erzählung zurück und berichtet in einem Postskriptum zwei „tatsächliche „ Erlebnisse mit unheimlichen Objekten, die die Existenz Tlöns zu bestätigen scheinen, um sich hierauf als Erzähler zurückzuziehen, weil ihn die Tlön gewordene Welt nicht mehr interessiere.
Die phantastische Kurzerzählung auf philosophischer Grundlage beherrscht auch den wohl bekanntesten Band „Das Aleph“.
Die fortschreitende Erblindung zwingt Borges ab den 50iger Jahren, in denen er, durch eine „erhabene Ironie“ des Schicksals gleichzeitig das Augenlicht verliert und zum Direktor der Nationalbibliothek (also zum Herrn über viele Bücher, die er nicht mehr lesen kann) ernannt wird, zu immer kürzeren Texten, die sich in den letzen Jahren zur mündlichen Improvisation und den meist hochironischen Interviews verschieben.