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Es ist heute kein guter Tag, um frohlockend durch die Spatzenmenge, die sich vor dem KZ für alte Menschen tummeln, zu gehen. Rauchwaren das Ziel. Wie sehr ich doch ein Gespenst bin, eines aber, das bei Stimme ist (man bemerkte mich lange nicht und ich konnte die Verkäuferin bei der Lektüre ihrer tagesaktuellen Zeitschrift eine Weile beobachten). Dann weiter zu einem Laden für Backwaren, wo jene aus dem Kabuff gestürmt kommen wollte, um mich zu bedienen. Das ist mir ein Grauen, wenn man rennt und eilig tut; in der Regel löst so ein Verhalten wiederum in mir Fluchtverhalten aus und nicht selten drehe ich mich dann um und gehe ohne ein weiteres Wort. Ich sagte ihr, sie dürfe nicht rennen, mir schmecke sonst das, was sie mir einpacke, nicht mehr.
„Sie sind dann wohl der Einzige, der Zeit hat“, sagte sie.
„Jedermann hat Zeit“, erwiderte ich. „Es wird nur so getan, als habe man keine. Bitte unterwerfen Sie sich nicht so bedingungslos dem modernen Gehabe, ich kann sonst unmöglich wiederkommen.“
Nun, da es sich um eine Landbäckerei handelt, würde ich natürlich gerne wiederkommen wollen; die Läden, in denen mir das ein oder andere nicht passt, sind mittlerweile sehr zahlreich.
Aber heute liegt ein Schatten auf meinem Gemüt, ich lese „Rayuela“ wieder, das ja ausgerechnet mein Lieblingsbuch ist, wenn man soetwas sagen darf, und das erfordert die Nacht, weshalb ich recht unausgeschlafen und sogar unrasiert durch die nach dem Sommergewitter endlich wieder angenehme Morgenluft tappe. Gewitter: mein Kater hat Angst vor heftigem Regen und Donner, ich musste ihn mit in meine Kamára nehmen. Ich las ihm vor:

„Es ist ein Irrtum, eine absolute historische Zeit zu postulieren: es gibt verschiedene, obschon parallel verlaufende Zeiten. In diesem Sinne kann eine Zeit des sogenannten Mittelalters mit einer Zeit der sogenannten Moderne zusammenfallen. Und diese Zeit wird aufgefasst und bewohnt von Malern und Schriftstellern, die sich weigern, die Umstände für sich zu nutzen und ‚modern‘ zu sein in dem Sinn, wie die Zeitgenossen es verstehen, was nicht bedeutet, dass sie sich dafür entscheiden, anachronistisch zu sein; sie bewegen sich nur einfach am Rande der oberflächlichen Zeit ihrer Epoche, und aus dieser anderen Zeit, wo alles die Beschaffenheit einer Figur erreicht, wo alles als Zeichen gilt und nichts als Thema eine Beschreibung, versuchen sie ein Werk zu schaffen, das in bezug auf ihre Zeit und deren Geschichte fremd oder antagonistisch wirken kann, das aber dessenungeachtet beides einschließt und erklärt und letzten Endes auf eine Transzendenz hin orientiert, an deren Ende der Mensch wartet.“

„Das sind wir, liebes Katerchen.“ Aber er war schon eingeschlafen.

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