Die Glaubwürdigkeit ist das höchste Gut des Literaturkritikers, daher müsse er alle Bücher, auch die schlechten komplett lesen, so oder so ähnlich sagte es Denis Scheck einmal, danach befragt, ob er alle von ihm besprochenen Bücher von der Spiegel Bestsellerliste auch wirklich lese. Sigrid Löffler ließ uns im Interview mit Mara wissen, dass es für sie ein “Kriterium des erstens Satzes, erweiterbar allenfalls auf das Kriterium der ersten Seite” gebe. “Da entscheidet sich, ob ein Buch etwas taugt, ob es sprachlich und gedanklich auf der Höhe ist und ob ich weiterlese. Missglückte Bücher lege ich beiseite, ohne sie zu Ende zu lesen. Das sind nicht wenige.”
Für meine Rezensententätigkeit möchte ich mir einen Mittelweg zum Credo machen. Im besten Fall würde ich alle Bücher komplett lesen, um sie fundiert zu loben oder zu schmähen. Die Geduld und Zeit eines Denis Scheck kann ich dafür aber leider nicht aufbringen. Viele Bücher kann man bereits aufgrund Sujet, Aufmachung und Anpreisung aussortieren, die kleine Zahl der Perlen, die mir hierdurch verloren geht, kann ich, erneut wegen Zeitmangel, verschmerzen, denn alles kann man sowieso nicht lesen und meine Auswahl ist sehr sicher geworden. Breche ich ein Buch allerdings ab, so schreibe ich das in die Besprechung, wenn es denn überhaupt besprochen wird. Besprechen kann ich dann nur das allgemein bekannt ist und soweit ich gelesen habe.
In seltenen Fällen habe ich einem Verlag oder Autoren eine Besprechung zugesagt, hier nehme ich mir die Freiheit auch Negatives zu schreiben, denn sonst würde tatsächlich meine Glaubwürdigkeit verloren gehen, aber auch hier muss ein Abbruch möglich sein. Beim folgenden Buch hat mich Doro von imaginary friends angesprochen. Doro unterstützt kurzgesagt, man möge mich berichtigen falls so nicht richtig, Verlage und Autoren bei der Umsetzung neuer Formen des Storytelling. Für das Buch Sieben Sprünge vom Rand der Welt von Ulrike Draesner betreut Doro die “Metaebene” zum Buch, nämlich die Website dazu. Hier werden die Quellen und Hintergründe, sowie ein Essay zur Geschichte veröffentlicht, dem potenziellen Leser wird so Lust auf mehr , also das Buch, gemacht, dem Leser Beweggründe der Autorin und Entstehung des Buches geliefert. Prinzipiell ein interessanter Ansatz, weshalb ich zusagte.
Sieben Sprünge vom Rand der Welt ist eine Familiengeschichte nach dem zweiten Weltkrieg. Simone Grolmann ist Jahrgang 1962 und so mit einem deutlichen zeitlichen Abstand vom Krieg geboren. Dennoch wirft die Geschichte ihres Vaters einen Schatten auf sie. Ihr Vater Eustachius Grolmann, wie Simone Professor für Verhaltensforschung, musste im Winter ’45 mit seiner Mutter und seinem behinderten Bruder durch den Breslauer Wald fliehen. Frau Grolmann macht nun die Erfahrung von Ängsten, die sich nicht rational erklären lassen (welche Ängste sind schon rational?), und führt sie zurück auf die Traumata des Vaters. Die Geschichte der Grolmanns wird im Verlauf verwoben mit dem Schicksal einer aus Ostpolen nach Breslau vertriebenen Familie.
Ich packte aus, was ich eingekauft hatte, Ingwer-Honig-Bonbons, Handcreme für Gärtner, Sonnenblumenbrot.
So weit klingt alles nach einer dieser Papa/Opa-war-ein-Nazi/Opfer-Geschichten, die inzwischen in den deutschen Feuilletons so gescholtenen, die aber trotzdem bitte immer noch geschrieben und auch gelesen werden dürfen. Es ist der bekannte Versuch der Später-Geborenen durch das Schreiben die eigene Familien- und Kriegsgeschichte zu ergründen. Würde mein Großvater sich nicht weigern, hätte ich bereits die meine hinzugefügt: die Geschichte des rechtschaffenden Flakhelfers Willi Winterling (oder so ähnlich).
Ulrike Draesner ist eine mit Preisen dekorierte Autorin, schrieb Romane und ein Buch über Kleist, Joyce, Mann, prinzipiell also schonmal von den Einflüssen auf meiner Wellenlänge, ist Lyrikerin und als solche sogar in Reclams Großen Buch der deutschen Gedichte vertreten. Und trotzdem brauche ich drei Anläufe um über die ersten Seiten hinwegzukommen, bis heute bin ich nicht im Ansatz zum Kern der Geschichte vorgedrungen, denn dieses Buch ist für mich unlesbar.
Ich stand vor einem der Käfige, versuchte, ein sich ständig lösendes Pflaster (Sima, Brotschneiderin) besser an meinem Daumen zu befestigen.
Draesner schreibt wie eine Mischung aus Mittelstufenschülerin und Autorin der Schreibkurse vom Rücken der Fernsehzeitung. Eine solche Flut von hanebüchenen Adjektiven und Nonsense-Alltagsbeschreibungen habe ich lange nicht gelesen: “Grün wie die Grüffelowarze”, das Alter des Vaters wird mit “zweiundachtzigdreiviertel” angegeben (so zählt man, wenn man fünf ist, nicht ein fiktiver Verhaltensforscher mit Chancen auf den Nobelpreis), ebenso Wohnungsdetails wie “glitzerten die doppelt isoliernde Glasfront [!!] und die Metallgitter” oder “Eine Viertelstunde später erholte ich mich bei zweifach zu backendem Mürbteig”. Ständig werden in die ausufernde, langweilige Detailflut in Klammer noch mehr Einzelheiten hinzugefügt (dass das Sofa eine selbstgebaute, ausklappbare Lehne hat). “Der Mixer jaulte auf Stufe zwei (Höchstleistung)”. Die Beschreibung der Affen, an denen geforscht werden soll, erfolgt in äffischen Alliterationen: “Rudel, Rotte, Radau!” Wo soll das hinführen? Die Verhaltensforscherin mit den nichterklärbaren Traumata des Vaters ist mir bereits nach 30 Seiten so über, weil so unglaubwürdig, so geschwätzig, so adjektivüberladen und trotzdem so farblos, dass ich nicht bis Seite 50 kommen kann. Egal was noch kommen mag, ich habe nicht die Kraft, die Zeit und den Hang zur Selbstkasteiung bis dahin vorzudringen.
Da diese Materie schon so häufig Gegenstand von Veröffentlichungen war, braucht es schon Kunstfertigkeit und Güte um aus der Flut herauszustechen. Ob eine Homepage mit Quellen reicht? Von diesem Buch muss ich mich mit einem zweifach zu backendem Mürbeteig erholen und es nebenbei im Mixer auf Stufe 2 (Höchstleistung) zerkleinern. Ich hoffe meine Glaubwürdigkeit als Blogger hat darunter nicht zu leiden.