Ablegen
(E4)
Gerade als er dachte beinahe einen Standort für sich, nein wohl eher: für sein Schreiben und dessen Ergebnisse bestimmt, das heisst: gefunden zu haben glaubte, kam er an und die Maschinenstimme riss ihn aus einem besonders verrätselten Satz. Monbijou. Sagte sie. Das war die Haltestelle an der er neuerdings auszusteigen hatte. Kleinod, dachte er, da war er nun hingewachsen, und dass es sich nach Kurzatmigkeit anhörte. Und Kleinod wieder: Bijou. Mit den semantischen Restbeständen eines freimaurerischen Logenzusammenhangs, wie die wenigsten noch wussten und er nur deshalb, weil er es eher zufällig in einem Wörterbuch fand, wie das meiste seines Findens eher auf Zufall beruhte, hier passend: nur wenige Schritte bergab und er befand sich in der Gutenbergstrasse mit den grossen Wohnhäusern aus der Gründerzeit.
Das einzige, was ihm an seinem neuen Domizil störte, war das Wissen, dass es nur Übergang war. Aber er war dankbar, dass er es doch so gut getroffen hatte. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass niemand der ehemaligen Anwohner seiner damaligen Wohnung an dem gewaltigen Hausbrand schuld war, wie verschiedene Experten bestätigten, versprach die Versicherung, die Schäden vollumfänglich zu übernehmen. Man sorgte gut dafür, dass die Hinausgebrannten bald und mehr als erträglich unterkamen, in frisch renovierten Altbauten nicht unweit des vollzusanierenden Wracks, als Interim, allerdings.
Benedikt sah das als Chance, wieder bei Null anzufangen. Sicher, es schien vorerst alles verloren: die Bücher, das Persönliche, kurz: all das wie man sagte Hab und Gut, das bestimmt die meisten Menschen als massgeblichen Anteil ihrer Identität ausmachten. Ihm dagegen gefiel der Gedanke, sich wieder neu beschriften zu können, und einmal überlegte er sich sogar kurz, sich vielleicht auch noch einen neuen Namen zuzulegen, verwarf ihn aber schnell wieder. Die Formalitäten schienen ihm zu widrig.
Warum er Röhrling nur die halbe Wahrheit erzählt hatte? Benedikt vermutete, er tat gut daran, nicht allzu viele Fragen aufzuwerfen.
Das neue Herz war bald gezimmert. Eigentlich bewohnte er nur zwei Räume dieser Vierzimmerwohnung im Hochparterre. Die anderen liess er Raum sein. Mit was sollten sie denn auch befüllt werden? Die Bücher und Regale: die Lungenflügel seiner Wohnprojekte: Rauch und Asche, und das meiste ehemaliger Ballast, wie er es jetzt bezeichnete. Und die noch zu beschaffenden Bücher in den noch zu beschaffenden Regalen: nicht viel mehr als eine vage Vorstellung. Doch auch so: es entstand schnell wieder ein kleiner, lebensfähiger Organismus. Ein Schreibtisch, ein Computer und die üblichen kommunikationstechnischen Ergänzungen, und nicht unwichtig für seine Arbeit: eine grosse Registratur aus einer Brockenstube, mit Schienen, auf die schon etliche, leere Mappen aufgegleist waren. Ein Ablagesystem, das im Moment noch mehr als System aussah, im Moment, den es war noch fast hohle Struktur.
Hohl: denn noch immer war ihm die neue Sicht auf das, was er zu bearbeiten und ergo zu schaffen plante, kaum mehr als eine Phrase, die um Bedeutung rang und schwer zwischen ihren Einzelteilen taumelte. Bearbeitungen. Verwandlungen. Metamorphosen ausgedachter Ordnungen und ihrer Konkretionen sollten entstehen und hatten sich hie und da auch schon materialisiert, nicht zuletzt, weil ihm dieses Buch geblieben war. Merkwürdige Leute. Bibliothek und Bibliothekar in der Schönen Literatur. Eine wahre Fundgrube, wie sich bald herausstellte. Mit grossem Genuss blätterte er darin, auch oder vielleicht gerade weil er wusste, dass es sich nicht mehr unbedingt auf der Höhe der Zeit bewegte. Aber ein durchaus oft zitierter Text in der einschlägigen Wissenschaft. Doch was kümmerte diese ihn? Ging es ihm doch zunächst und vor allem um seine Ausschlachtung. Um das eine oder andere Elment, in das er seine Haken schlagen konnte. Das und in dem er sich verwandeln konnte. Das ihn erzeugte, wie er es einmal notierte. Das: was ihn ausmachte, wenn er es und sich damit befasste. Das: war die Ortsbestimmung, so zumindest ihr Prozess, für den er Worte gesucht hatte vor wenigen Minuten, bevor ihm die Stimme diese Schleife zerschnitt. Es war doch so oder so: ein Schlachtfest. Was man üblicherweise als Literatur bezeichnete, und die Zubereitung der Fleischfetzen, oder ihre Grösse, oder die Art und Weise ihrer Verbratung oder Würze, kurzum: der ganze Vorgang vom Mord bis zum Auftisch eine Frage der Modellierung, und diese wiederum: historisch ziemlich instabil, dachte Benedikt.
Nachdem also alles zu Bruch gegangen war, und damit war nicht nur das jüngste Ereignis, das ihn an diesen Ort versetzte, gemeint, sondern eine lange Kette von Ereignissen, die aber in dieses jüngste Ereignis kulminierte, sodass Benedikt dieses und den ganzen Vorlauf der Einfachkeit halber als ein Ereignis betrachtete, das sich allerdings in einem langen Zeitraum ausbreitete und das er einmal ICH nannte, wovon er nun aber neues Konzept stets nachdrücklich und völlig bewusst Abstand nahm, sah er sich kurz darauf nur wenigen Möglichkeiten der Fortexistenz gegenübergestellt. Es waren, um genau zu sein: zwei. Einer Schreibenden. Und einer Nichtschreibenden.
Hierbei handelte es sich um eine der wenigen Kontinuitäten. Denn heute wie schon damals, als das Ich, wenn er es sagte, nach diesem anderen Leben klang, war ihm ein Nichtschreibendsein begrifflich gar nicht vorgesehen, also zur Existenz gehörend, also seiend. So konnte man gar nicht sein, also war man nicht so. Was wiederum seinen Begriff des Schreibens oftmals dehnte. Selbstverständlich galt ihm das auch für den Rest der Menschheit, doch über diesen zerbrach er sich herzlich wenig den Kopf in dem einen Leben. Vielleicht auch darum, weil eine grösser angelegte Betrachtung dieses Phänomens ihn zu Revisionen genötigt hätte. Und er war dann doch auch, zweite Kontinuität, etwas bequem.
Nachdem Benedikt die Türe hinter sich geschlossen und sich aus dem Kühlschrank mit kaltem Bier versorgt hatte, setzte er sich an seinen Schreibtisch und startete seinen Computer. Während dieser hochgefahren wurde, nahm er wie er es nun regelmässig tat diese Zeitspanne von genau drei Minuten zum Anlass, weiter an der Liste wiederzubeschaffender Bücher zu grübeln, und ergänzte und strich und schrieb wieder darüber und verwarf erneut, sodass sich die Liste nur unwesentlich, im besten Falle um sehr wenige Titel verlängerte. Es bestand auch keine Eile, diese anzufertigen. Bis der Grossteil der Versicherungssumme dieses Schadens freigegeben wurde, würde noch einiges an Zeit vergehen. Zudem waren die nun zu beackernden Texte nicht gerade diejenigen, die er zu kaufen bereit war. Es waren Texte, die sich ohnehin nur noch in Antiquariaten oder ausgezeichneten Bibliotheken befanden und eine dieser konnte er mit nur wenigen Mausklicks, zumindest an der Oberfläche bereisen.
Das Interface war nun bereit. Er blätterte noch einmal in den Merkwürdigen Leuten, die er, wie er befand, nun zur Genüge zerlegt und gefleddert hatte, glitt dann mit dem Zeigefinger über die Bibliographie.
Der Einstiegspunkt der Bibliothek bestand aus einem grosszügigem Suchfeld, in das er nun Kombinationen aus Autorennachnamen und Titelstichworten füllte. Viele gesuchte Titel waren dort nachgewiesen und zu seiner Freude auch vorhanden, und nicht etwa ausgeliehen. Diese würde er morgen schon einsehen können, wenn er wollte. Das heisst: man hatte seine Anfrage registriert. Man verhielt sich ihm gegenüber prinzipiell wohlwollend.