Ainda tem sopa
(E15)
Und? Röhrling sah in prüfend an, als er den Rest des Glases leerte. Ganz ausgezeichnet, gab Benedikt zurück, Sie hatten recht, er wird von Mal zu Mal besser. Gewichtiger. Umfangreicher. Aber auch gehaltvoller, ergänzte Röhrling nuschelnd. Ganze fünfzehn Prozent Tendenz steigend. Schauen Sie sich meine Zunge an. Benedikt warf einen kurzen Blick auf Röhrlings zahnlose Luke. Der Rachenbereich war bei diesem Licht ein violettes Loch, dachte Benedikt. Röhrling schnalzte und setzte sich wieder die Gebisshälften ein. Entschuldigen Sie diese Angewohnheit. Aber bei so einem Tröpfchen kommen die mir immer etwas überflüssig vor. Nehmen wir noch einen?
Röhrling reichte ihm eine weitere Flasche und hiess ihn diese zu öffnen. Herdade das Servas. Reserva. 2003. Vinho Regional Alentejano las er auf dem Etikett. Dann streifte er das knisternde Seidenpapier vollständig von der Flasche, knüllte es zusammen und schnippte es zu der anderen Kugel aufs Tablett, wo es sich wieder geräuschvoll aufplusterte. Sprechen Sie portugiesisch? Benedikt verneinte trocken und entkorkte. Ich auch nicht, lachte Röhrling. Und sicher weiss ich auch nicht viel mehr von Weinen als Sie. Im Grunde weiss ich gar nichts. Aber, man sollte zumindest bereit sein, eine eigene Meinung zu bilden. Das fängt auch mit der Sprache an. Man muss sich da auf sich selbst verlassen können, gerade, wenn nichts greifbar ist. Darum habe ich Ihnen meine Zunge gezeigt. Ein gutes Gedächtnis schadet natürlich auch nicht. Dieser hier wird von einem winzigen Unternehmen gekeltert, das schon seit dem 17. Jahrhundert produziert, habe ich mir sagen lassen. In Eichenfässern aus Frankreich. Fragen Sie mich bitte nicht, warum das so ist. Und nun? Bemerken Sie den Hauch von Kakao?
Wenn Sie nichts davon verstehen, wie können Sie dann noch auswählen, vor allem bei so einem Rummel wie auf einer Messe.
Sie fragen nach meinen Kriterien? Ich habe gar keine. Röhrling schlug sich verschmitzt auf die Schenkel. Ich koste mich durch. Und lasse mich von lauten Vertretern aushalten. Nun ja, man muss Ihnen ein Ohr leihen, muss Ihnen das Gefühl der Wertschätzung und Bedeutung vermitteln. Dann vertröste ich sie auf einen späteren Besuch und gehe zum nächsten. Nun ist mir ein Stand aufgefallen, an dem zwei äusserst vergnügte Herren standen. Sie machten den Eindruck, als wollten sie gar nichts verkaufen. Als hätten sie das gar nicht nötig. Und schienen sich doch prächtig zu amüsieren. Ernsthaft: sie wirkten, als wollten sie einfach nur dabei sein. Ausser Konkurrenz, sozusagen. Das hat mich angezogen. Die selbstbewusste Konkurrenzlosigkeit, die von den beiden ausströmte. Sehr freundliche Herren, wie sich dann herausstellte. Haben mit mir gleich eine ganze Flasche hiervon ausgetrunken. Und ich dachte noch: das ist aber bestimmt nicht sehr professionell.
Röhrling wusste noch weiteres von seiner Begegnung zu berichten und wie es dazu kam, dass er sich letztlich zwölf Kisten dieses Jahrgangs in den Keller hatte stellen lassen, dann wurde er etwas nachdenklicher und kam auf die Textur des Weines an sich zu sprechen, auf die Zunge als einzigartige Leserin, den Geist und seine Speicher.
Wenn wir trinken, führte er weiter aus, unternehmen wir Deutungsversuche. Aber die Bedeutung? Röhrling hatte sich einen kleinen Schluckauf zugezogen, gegen den er etwas anzukämpfen hatte. Wie alles andere auch! Das tatsächlich Vorhandene, oder in diesem Falle: War diese nicht schon vor der Beere da, bevor sie zertreten wurde? Genau! Ich meine die Vorschriftlichkeit, kam Röhrling seiner Unterbrechung zuvor. Wie ist es damit? Da bräuchte man eine ganz andere Zunge. Verstehen Sie? Nein, das muss schon ein ganz anderes Organ sein, als es eine Zunge ist. Etwas, das auch noch das Kleinste durchdringen könnte, bevor es sich darüber legte und einschloss.
Benedikt vermochte den Ausführungen des Alten nicht mehr so recht folgen und befürchtete, dass das Gespräch nun einen unangenehm esoterischen Verlauf nehmen könnte.
Röhrling stellte sich einen Schemel zurecht und lagerte darauf sein rechtes Bein. Wieder fiel Benedikt die eigentümliche Bekleidungspraxis Röhrlings auf, nun ganz deutlich: lugte eine graue Cord- unter einer blauen Jogginghose hervor. Weste und Hemd dagegen wiesen sich allerdings geschmacklich und auch sonst in passablem Zustand. Im Grossen und Ganzen schien ihm Röhrling heute in einem etwas gepflegteren Zustand, auch wenn es in seiner Wohnung etwas muffelte.
Ehe Röhrling weiter referieren konnte über die Weinwelt als Sprachwelt, wobei er sich in ersterer nur als Besucher fühlte, und die Weinwelt als Sprachwelt, wobei sich erstere ihm glücklicherweise als eine nichtnationale präsentierte, wie er betonte, und er auch sonst weitere Unterscheidungen aber auch Vergleiche machen wollte, zu diesem und jenem zu einer Bemerkung imstande war und möglicherweise noch zur Transzendenz all dessen stossen sollte, konnte sich Benedikt einklinken und ihm endlich von seinem heute Erlebten, jener unerhörten Begebenheit, Auskunft geben, die ihm immer noch sehr auf dem Herzen brannte. Röhrling unterbrach ihn wider Erwarten nicht, und so verlor sich Benedikt in eine etwas unsortierte Rede über den Zusammenbruch des Bibliotheksgeschäfts, Annas Verschollensein und ihre fragwürdigen Ansichten und Theorien, die er zu seiner Überraschung aber gerne und besser und besser zu verteidigen mochte. Am Ende lag ein krummgewuchertes Gewächs von Informationen, Vermutungen und Spekulationen zwischen ihnen, sodass Benedikt kaum mehr über dessen oberen Rand zu Röhrlings Sofaecke zu schauen vermochte, also machte er hier erst einmal einen Punkt.
Das musste ja irgendwann einmal passieren. Wie bitte? So ein kleiner Büchergau, spöttelte Röhrling. Ich verstehe Sie immer noch nicht recht, entfuhr es Benedikt, der sich nicht für voll genommen fühlte.
Selektion! Natürliche Selektion! Oder glauben Sie etwa, sie könnten so einen aufgemotzten Zustand auf ewig halten? Nichts ist da ewig. Fast nichts. Wie sollte man denn das alles auch tradieren. Am Ende wäre man nur noch mit dem Durchreichen beschäftigt. Das Leben geht weiter. Nicht? Tradieren. Radieren. Verstehen Sie? Und zum anderen: Wie hätten Sie denn gehandelt, wenn da ein Wildfremder in so einer unübersichtlichen Situation sich verdächtig verhielte? Am Ende gar ein Saboteur. Nein, versteifte sich Röhrling, das ist mir doch alles sehr nachvollziehbar. Die Gedanken ihrer kleinen Freundin allerdings … Röhrling wurde nun etwas despektierlich, fand Benedikt. Das Hirngespinst ihrer Bekannten, korrigierte sich Röhrling, als hätte er Benedikts Gedanken erraten, und lehnte sich etwas zurück, zog auch das andere Bein auf den Schemel. Nun ja. Vielleicht mag da etwas dran sein. Theoretisch, meine ich. Aber überlegen Sie mal: Wäre es denn wirklich gesund, alles, alles sichtbar zu machen. Schon so eine Willensäusserung ist da vielleicht nicht ungefährlich.
Ich bin etwas hungrig. Mögen Sie auch etwas Suppe? Kürbissuppe? Die Zutaten habe ich mir gestern auf dem Markt gekauft. Es ist noch genug da. Benedikt war mit den Brotscheiben, von denen er sich zwischen den Gläsern reichlich bedient hatte, sehr zufrieden, und weil er vom Wohnungsgeruch auf die Suppe rückzuschliessen begann, verzichtete er freundlich aber bestimmt und liess Röhrling in die Küche schlurfen.
Wie sehr oder wie weit hatte er sich schon mit Anna, nein, mit ihrer Arbeit vermengt? Wie stark hatte sich schon seine Perspektive auf die Dinge verengt, sodass er eine Grundlage, oder wie er es nennen würde: den Ausgangspunkt seiner Beobachtungen, einer Art mitfühlenden Objektivität, mittlerweile verlassen hatte. Hatte Röhrling vielleicht Recht und er spielte mit dem Feuer ohne dies zu ahnen? Als sich Röhrling wieder zu ihm gesellte und zu schlürfen begann, versuchte er die Diskussion in eine eher harmlose Richtung zu verschieben, sprach über seine Fortschritte bei der Materialsammlung, improvisierte ein paar Lesarten des letzteren und wurde auch sonst nicht müde, weitergehende Schreibversuche anzusprechen, sodass Röhrling an manchen Stellen zu glucksen begann, an anderen wiederum die Stirn runzelte, ihn immer aber mit Interesse begleitete. Als nur noch Suppenstreifen ein bizarres Muster an Rand und Boden des Schälchens zeichneten, brach sich Röhrling ein Stückchen Brot ab und strich den Rest zusammen, ass den Brocken mit einem schnellen Haps und liess den Löffel mit lautem Geklapper ins Gefäss fallen.
Ihre Arbeit in Ehren, lieber Benedikt, ich sehe, wie hier einiges langsam Gestalt annimmt und bin fast versucht zu sagen: Sie sind auf dem richtigen Weg. Aber: Haben Sie das auch schriftlich? Haben Sie das dabei? Vielleicht lassen Sie mir ein paar Seiten da, damit ich in aller Ruhe …
Nichts hatte Benedikt dabei. Und das bereute er jetzt doch sehr. Ich kann gerne und jederzeit etwas vorbeibringen. Es wäre mir eine grosse Ehre … Na, es ist wohl doch etwas spät geworden, bremste ihn Röhrling mit einem Fingerzeig auf die Wanduhr. Haben Sie nächste Woche um diese Zeit etwas vor? Ich kann zwar noch nicht versprechen, dass ich tatsächlich da sein werde, aber fassen wir das mal ins Auge: Rufen Sie mich noch einmal vorher an, Benedikt.
Als sich Benedikt im dunklen Flur seine Jacke an der Garderobe ertastete und sich anschickte die Wohnung zu verlassen, hielt ihn Röhrling am Ärmel fest. Ich habe das vorhin übrigens sehr ernst gemeint. Ihre Suche nach einem Feinstoffdecodierer, oder wie immer Sie das nennen mögen: Lassen Sie da die Finger davon. Daran haben sich schon ganz andere die Zähne ausgebissen. Wer? Wer war das? Wer zum Beispiel? Haben Sie da Hinweise? Benedikt spürte seinen Puls in die Höhe schnellen. Sie sind alle wahnsinnig geworden, entgegnete Röhrling und senkte seine Stimme. Und denken Sie noch einmal scharf darüber nach: Nur einmal angenommen, solch ein Medium würde gefunden werden würde seine Entdeckung nicht sofort eine Erschütterung mit einer Sprengkraft katastrophalen Ausmasses freisetzen? Gehen Sie jetzt, raunte Röhrling, dann machte er im Treppenhaus Licht, schob Benedikt hinaus und verschloss hinter ihm die Türe.