(Pathogen)
4 / Er habe sich schon gedacht, dass Dranmor mich faszinieren würde, hat er beim letzten Treffen gesagt, und dass ich versuchen würde, etwas aus seiner erstaunlichen Lebensgeschichte zu machen. Roman störe das überhaupt nicht, er fände das sogar gut, wir könnten uns hierbei ergänzen. Ihn interessierten aber vor allem seine Frauengeschichten, vor allem seine letzte. Eine Geschichte des Überdrusses und der Verfallenheit, wie er es nannte, wie er mutmasste. Die lange Ehe mit XY kam ihm recht seltsam vor, vor allem, wenn man verschiedenen Biographien glaubte, als gegen Ende, ein gar nicht mehr so herzliches Verhältnis zwischen den beiden bestand. Er könne sich einfach nicht den immer noch hörbaren Idealismus in Dranmors später Minne erklären und schloss deswegen auf eine zutiefst gespaltene Persönlichkeit, einen schon pathogenen Idealismus, den er nun aus seinen Texten herauslesen wollte.
Ich denke, ich habe mein Thema gefunden den, in meinen Augen mehr als mysteriösen Tod Dranmors. Mich wundert, dass es Roman nicht aufgefallen war, dass er sich nie über sein eher fragwürdiges Ableben geäussert hatte. Sicher, er hatte den Vetter-Text noch nicht gelesen, zumindest hatte er ihn nie zitiert oder überhaupt über seine Existenz gesprochen. Mir sollte das recht sein und ich werde mich auch weiterhin über jene Quelle ausschweigen. Er hat sicher noch keinen Verdacht über meinen kleinen Informationsvorsprung geschöpft, immerhin hatten wir gemeinsam recherchiert, einige Fundstücke und Artikel ausgetauscht, sogar abgesprochen, wer welchen beschaffen sollte. Er würde nichts bemerkt haben, so offen, wie er sich mir gab, so oft, wie er mir schrieb, ganz harmlose Dinge meistens, Einfälle, Bonmots, Ideen, Dinge, die mit unseren Projekten in keinem Bezug standen, die eigentlich nur unsere Kommunikation am laufen hielt.
So verliefen auch unsere Treffen, mittlerweile zwei mal pro Woche, immer in der gleichen Bar, eigentlich einem Kinokaffee. Im Cosmos am Bahnhof trafen wir uns immer am Dienstag und Donnerstag um sechs nach der Arbeit. Tranken meistens zwei Biere, plauderten und starrten die lolitahafte Barkeeperin an. Eine angenehme Durchgangsatmosphäre aus wartenden Kinogästen, Zeitungslesern, Kaffeetrinkern, Angestellten und Jugendlichen machte hier auch das Warten kurzweilig, wenn Roman wieder einmal zu spät kam.
Wir redeten über die Arbeit, die Probleme unserer Branche, die Angst darüber, bald den Job verlieren zu können, wenn es so weiter ginge, und eigentlich sahen wir das Gute darin, hätten wir dann doch wieder Zeit, uns um unsere eigenen Projekte intensiver kümmern zu können.
Wenn wir dann nicht beschlossen, uns einen Film anzuschauen, trennten wir uns, er ging nach Hause, sagte er und ich ass zu Abend in einer Taxifahrerkneipe nicht weit vom Bahnhof entfernt. Es hatte sich herumgesprochen, dass es dort die besten Bratkartoffeln der Stadt gab, und so hingen dort nicht nur Taxifahrer und Berufstrinker bis in die frühen Morgenstunden herum, sondern auch junge Werber- und Medienmenschen, die abends aus ihren Bürokomplexen hereinströmten und die Kneipe mit Lärm füllten.
Ich sass immer am gleichen Platz, rechts am Eingang, an einem Zweiertisch. Bekam auch dort nun schon ungefragt ein Glas Wasser und die Karte, die ich nur kurz studierte, weil es immer auf Bratkartoffeln mit Speck und einem weiteren Bier hinauslaufen würde.
Hier lese ich in Dranmors gesammelten Dichtungen. Blätter liegen auf dem Tisch. Makulaturen. Ein Notizheft, ein Filzstift. Ich versuche mir Teile eines Plots zu Dranmors letzten Tagen zusammen zu reimen. Und scheitere an Ideenlosigkeit. Immer, wenn ich nicht weiter komme, nehme ich mir ein Gedicht vor, möchte es umschreiben, verstümmeln, seine Intention ins Gegenteil umbiegen, das Versmass zerhacken, es irgendwie in meine Zeit herüberretten. Eine sinnlose Sache, ich gebe schnell auf. Ich habe es schon oft probiert, es will nicht gelingen. Aus einer Gedichtübertragung Dranmors aus dem Englischen wird heute abend eine Szene (Eddi is noch nich soweit). Sie hat keine Kraft, sie kann nicht im mindesten das Leisten, was Dranmor an Pathos aufgebaut hat. Sie hat eher komischen Character. Ich schreibe sie zu Ende, so weit, bis ich denke, sie hätte ihr Ende erreicht. Dann lege ich das Papier weg. Ich bin unzufrieden, aber ich vernichte das Papier nicht. Roman hätte die Seite zerknüllt und entsorgt. Er hat mir auch erzählt, dass er regelmässig Löschungen seiner Texte durchführt. Er sucht seinen ganzen Computer ab, ob nicht noch Dateien da seien, die auf die Existenz von Texten hinwiesen, mit denen er nicht mehr zufrieden war. Ich warf nie etwas weg, ich bewahrte alles auf. Man konnte schliesslich nie wissen, ob nicht vielleicht doch einmal ein Fragment noch nützlich werden würde.