Dranmor III,2

(Banal)

Vielleicht war es dieser seltsame Lebenslauf, der faszinierte, vielleicht aber auch nur die Tatsache, dass sonst nichts über ihn zu finden war, vielleicht jene seltsame Lyrik, nicht Fisch nicht Fleisch, nicht Goethe, nicht Rilke und doch ein bisschen von allem und jedem. Ich kannte ihn nicht und doch wollte ich ihn lesen, ihn verstehen, mich in ihn versenken, ihn erinnern, mich in ihn hineinschreiben.

Fernando nannte er sich auch, er romantisierte gerne, auch seinen Namen. Vetter, mein kenntnisreicher Zeitzeuge lässt keine Details aus. Seine Sprachfeier ist einmalig, er skizziert sein Leben bis zum Unvermeidlichen Ende. Bis zur Ermüdung, die Folge eines vierzigjährigen Lebenskampfes unter der tropischen Sonne und des fast noch schwereren Kampfes zwischen der Doppelnatur des Geschäftsmannes und des Dichters, kämpft jener Vetter selbst mit seiner Feder, habe ich den Eindruck, um die Eindrücklichkeit Dranmors nur halbwegs zu unterstreichen.

Dichtertode interessieren mich eigentlich noch mehr als tote Dichter. Vielleicht hab ich deswegen den Vetterschen Sermon so lange ausgehalten, und natürlich die Frage, warum sich ein Exildeutscher Schweizer im österreich-ungarischen Auftrag mit hinter solch einem seltsamen Namen versteckt, oder sich damit interessant machen will, oder sich damit wiederum in eine bestimmte Nähe zu anderen, schon länger Toten bringen möchte. Vielleicht bin ich einem langweiligen Geheimnis auf der Spur, das sich alsbald aufs banalste lüften würde.

Dranmor II,3

(Vita brevis)

[Ohne auch nur eine Zeile von ihm zu kennen, der Blick auf sein Bild, stolz, herrisch blickt er da, die Haare ins Übliche der Zeit frisiert, wäre es kein Stich, sondern ein Portrait in Farbe, man würde bestimmt dunkle Augenringe an ihm vermuten, auch ein skeptischer Blick, ein verzweifelter aus dem doch ins feiste gehende Gesicht, ein kräftiger Hals im gestärkten Kragen, ein Zweireiher, ein sauberes Hemd, eine Binde, ein Oberlippenbart. Eine Unterschrift. Dranmor. Ein Kringel am D. Viele bögen, nach rechts ausgerichtet. dann, unvermutet, ein Strich nach dem R, wie ein Blitz nach links unten, ein ungezückter Säbel.“>

Der Dichtungenband von 1873 liegt vor mir, alt, verstaubt, mehrfach umgebunden, ich zögere ihn zu öffnen, so fragil scheint er, ein Kopieren ausgeschlossen, ein Werk würde vernichtet, entbunden, ein Loseblattwerk würde entstehen. Auf der ersten Seite, ein Schenkungsvermerk, schwer lesbar, möglichicherweise die Handschrift Dranmors, ich entziffere mühsam Geschenkt der Fa. Hr. Ruetschi, Bern, vielleicht aber auch ein Geschenk eines Herrn Ruetschi an die Bibliothek oder jemand ganz Anderem – wer kann das noch rekonstruieren? Die Dichtkunst ist eine lange Liebe dann unter dem Titel, ein Jean Paul Zitat, auf der nächsten Seite ein Montaigne-Zitat auf Französisch. Sympathisch, eigentlich, mein erster Gedanke, aber schnell verwischt, nach der Durchsicht der folgenden Seiten und der Feststellung, dass vor jedes Poem ein Zitat kanonischer Grössen vorangestellt wurde. Einschreibungsversuche also, grosser Respekt also, Zeichen der eigenen Verunsicherung, eigene Erkenntnis eines Sinnstiftungsdefizits, sein Beinahezeitgenosse T.S. Eliot hatte ganz recht …

Wo Anfangen? Mit dem Anfang? Dem Inhaltsverzeichnis? Nach Zufallsprinzip? Das Buch öffnet sich, möglicherweise ein Effekt der mangelhaften Bindung auf Seite 111. Das zwanzigste Poem mit dem Titel Don Juan: Einer albernen Fabel / Opferte dich, den Helden / Spanischer Minne, / Deutsche Klatschbaserei; / „Tausendunddrei“, / Sagen die Frommen achselzuckend, / …

Ich unterbreche hier. Ich denke, dass ich vielleicht doch einen systematischen Zugang wählen sollte, denke wieder an Vetter, durch den mein eigentliches Interesse an Dranmor gewachsen ist. Meine morgendliche Lyrikmail enthielt ein Gedicht von Dranmor, und wie immer recherchierte ich ein bisschen nach, fand hierzu erstaunlicherweise nur wenig, einen Aufsatz von ebenjenem Ferdinand Vetter. Das war gestern. Ich fand ihn bei der kursorischen Lektüre eines Sammelbandes von Berner Rezensionen des vorletzten Jahrhunderts. Zeit ist vergangen, ich habe mich hineinfallen lassen, in dieses Jahrhundert, in dieses alte Papier, die Sprache, und weiss nicht, noch nicht, was ich damit anfangen kann oder will, habe mich hineingefressen in Dranmor und seinen Biographen und stehe noch ganz am Anfang.

Bei einer weiteren Recherche stiess ich auf einen grösseren Eintrag, wieder jenes Gedicht:

Wiedersehn, dich wiedersehn?

So bin ich versucht zu fragen,

Wenn an schwülen Nachmittagen

Böse Geister auferstehn;

Wenn Erinnerung mich stört,

Die von dir nicht abzulenken,

Zauberin! wenn all mein Denken,

All mein Wünschen dir gehört;

Bis des jungen Tages Kuß

Mich vergessen läßt die deinen,

Daß ich, statt um dich zu weinen,

Unsre Trennung segnen muß.

Ist das Schlimmste jetzt vorbei,

Ach, nur wenig atm’ ich freier!

Mit dem Gürtel, mit dem Schleier

Reißt nicht jeder Wahn entzwei.

Weiß nicht, wie dies alles kam,

Daß du so mich überwunden;

Doch es waren gute Stunden

Und ich bin dir nimmer gram.

Denn mich reut nicht, was geschehn;

Aber soll mir’s je gelingen,

Ganz von dir mich loszuringen,

Darf ich nie dich wiedersehn.

Dranmor (1823-1888)

Darunter eine kleine Vita zum Autor: D., eigentlich Ludwig Ferdinand Schmid, geb. am 22.Juli 1823 in Muri bei Bern als Sohn eines Bankiers, 1840 wird er nach dem Tod des Vaters gegen seinen Wunsch Geschäftsmann, er hat aber den Vorsatz, ins Ausland zu gehen, nach einer kaufmännischen Lehre in Basel lässt er sich 1843 in Brasilien nieder, zuerst in Santos, später in Rio de Janeiro als Handelsvertreter einer großen Firma, in den Jahren 1847-1851 reist er durch ganz Europa, 1852 wird er zum österreichisch-ungarischen Generalkonsul in Rio ernannt, er erhält von der österreichischen Regierung die große goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft, 1865 heiratet er die Französin Lise Aglae aus Rouen, 1868 erscheint in Wien ein dem Kaiser gewidmetes Klagelied: »Kaiser Maximilian«, er kehrt nach Europa zurück und lebt einige Jahre in Paris, ab 1874 ist er wieder in Brasilien und hat dort mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, das letzte Lebensjahr verbringt er in seiner Heimatstadt, er stirbt am 17. März 1888 in Bern und wird dort auf dem Ostermundiger Friedhof begraben.

Dranmor II,2

(Fragmente – böse Geister)

Dranmor – Auferstehung, Leben und Tod Ludwig Ferdinand Schmids durch mich und in mir selbst

[Es passte nicht zusammen. Wurde Dranmor ins Gesicht geschlagen? Hat ihm ein Hieb mit der Peitsche so sehr zugesetzt, dass sein Herz aufhörte zu schlagen, dass er aus dem Leben gelöscht wurde, posthum noch ein paar Jahre durch die Gazetten geisterte, um dann für immer zu schweigen? Irgendwie passte es nicht zusammen.“>

Wenn an schwülen Nachmittagen / Böse Geister auferstehn

Ich kann seinem Biographen nicht glauben. Viele Zweifel gibt es bis jetzt an der Darstellung seines Freundes Fernando Schmid alias Ludwig Ferdinand alias Dranmor. Aber war es wirklich sein Freund. War Vetter nicht vielleicht einer der Schreiberlinge des 19. Jahrhunderts, wie sie es zu Tausenden gab, die ihren vermeintlichen Vorbildern nacheiferten, sie in Stil und Pathos zu übertrumpfen suchten, sich als Trittbrettfahrer betätigten, hofften aus einer halben Berühmtheit Kapital zu schlagen, sie neu zu entdecken, als Entdecker gepriesen zu werden, ihn in halbrunder lyrischer Sprache zu loben und zu feiern, ihn einen Freund, einen Vertrauten zu nennen. Was liegt dahinter, was darunter? Ich habe meine Zweifel.

Es gibt nicht viele Quellen den Lebenslauf und das schmale Werk Dranmors zu studieren.

Ein Gedichtband mit Poetischen Fragmenten, wieder und wieder aufgelegt, ergänzt, verbessert, angereichert, finanziert meist aus eigener Tasche. Ob er daran zugrunde ging, an der dürftigen Rezeption, dem Zweifel an seiner Meisterschaft, ihm, dem ehemals Reichen, dem erfolgreichen Geschäftsmann, Vielreisenden, Weltreisenden, Wahlbrasilianer, am Ende innerlich gänzlich gebrochen, materiell von Grund aus ruiniert, wie er meinte?

Dranmor I,1

(Ein Wunsch)

1 / Er hat wieder Verbindung mit mir aufgenommen. Ich selbst habe nicht mehr mit ihm gerechnet, lange nicht mehr an ihn gedacht. Aber nun lebt er in meiner Stadt, sei hier vor einem Jahr gelandet. Neulich hatte er mich auf der Strasse gesehen und meine Adresse, meine Telefonnummer herausbekommen, und sich nun einfach bei mir gemeldet. Es ist bestimmt acht Jahre her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben. Damals hatten wir zusammen studiert, sind dann ins Ausland gegangen, getrennte Wege gegangen und haben nicht wieder voneinander gehört. Es war nicht schlimm. Eine Duzendfreundschaft, eine Zweckbekanntschaft vielleicht – gleiche Interessen, das reichte schon aus, dass man sich ein paar mal im Monat traf, sprach, zusammen in Bars ging, um dort nicht alleine zu sein. Es kamen andere Freunde, andere Bekannte, die den jeweiligen Lebensabschnitt, die jeweilige Stadt in der man sich aufhielt, in der man studierte, später lebte und arbeitete, begleiteten. Auch sie vielleicht weniger wichtig, aber immer präsent, schnell austauschbar, aber das lückenlos.

Bei ihm sei das auch so gewesen, es wäre nicht weiter schlimm, wäre normal, und jetzt sei er hier und dachte er könnte, ja er müsste, da er mich nun einmal gesehen hatte, auf mich zugehen, man würde sich ja ohnehin irgendwann einmal über den Weg laufen, es wäre weniger peinlich, wenn das in einer offenen Atmosphäre, in einer Situation stattfinden würde, auf die wir uns beide vorbereiten könnten, vorausgesetzt, ich wollte ihn noch sehen. Von unseren letzten Treffen hatte er nur noch eine vage Erinnerung, und nun irgendwie das Gefühl, dass wir uns nicht ganz im Guten verloren hatten. Er hatte aber keinerlei Vorstellungen mehr, wie er es nannte, was damals zwischen uns geraten war, und hoffe nun auch, dass wir das bei einem Gespräch klären könnten. Ich willigte ein, und traf ihn dann tatsächlich wenige Tage später in einem unspektakulären Café in der Stadt.

Roman sass in einer Ecke des Cafés, und ich habe ihn sofort erkannt. Er hatte immer noch dieses Bärtchen um den Mund, sah immer noch sehr drahtig aus und hatte sich auch sonst kaum verändert. Die Haare waren kürzer geworden und vielleicht war die Stirn auch etwas höher. Er lächelte zurückhaltend, als er mich sah. Wir gaben uns die Hand und ich setzte mich. Viel hatten wir uns nicht zu erzählen. Was wir gemacht hatten in den letzten Jahren, wie wir hier gelandet waren, keine grossen Details – wir beide, was für ein Zufall, ja, die Arbeitsmarktsituation, man musste Abstriche machen, dort leben, wo man auch leben konnte, wo man verdienen konnte, ein bisschen, um das zu finanzieren, was man gerne tat. In einer bestimmten Stadt zu leben war nicht mehr so wichtig, man sei flexibel geworden.

Wie sich herausstellte hatten wir beide keine Freundinnen, Partnerinnen, im Augenblick, das träfe sich gut, man könnte, wie früher, wieder einmal zusammen ausgehen, diskret über Frauen sprechen, vielleicht sogar wieder einmal in einen Club gehen – er kenne hier eine sehr interessante Bar und wir würden nicht wieder die Ältesten sein.

Ich war erleichtert, dass wir problemlos da anknüpfen konnten, wo wir einmal standen, dass wieder eine freundliche Unverbindlichkeit entstand. Er sagte, er schreibe hier für ein Magazin, und wenn ich wollte, könnte ich doch einmal ein paar Proben schicken. Ich würde doch noch schreiben?

Ein bisschen, sagte ich, wenn mir die Zeit bliebe, ich sei eigentlich zum Lesen angestellt. Wir tauschten unsere Emailadressen aus, und ich ging wieder hinaus, erleichtert. Man würde sich wieder sehen, bald schon, hatte Roman noch gemeint. Er würde sich bei mir melden.