XII Eine Art Fazit

Könntest Du – vielleicht in einer Art Abstract – noch einmal die wesentlichen Aspekte dieser Arbeit zusammenfassen, vielleicht auch etwas skizzieren, was sich möglicherweise daraus entwickeln liesse bzw. welche Konsequenzen daraus zu ziehen wären. (bhfr)

Mit dieser Schrift und seinen Teilen sollte weniger etwas bewiesen, als gezeigt werden. Die Handschrift als Thema, als persönliches Thema, das aber in teilweise sehr unpersönlicher Art und Sprache bearbeitet wurde, führte zu einem heterogenen und auch zwittrigen Anschwellen von Text.

Ich versuchte Fragen nachzugehen, die man niederschwellig vielleicht so (re)formulieren könnte: Geht etwas verloren, wenn nicht mehr – oder tendenziell: viel weniger – mit der Hand geschrieben wird? Was kann und wird sich verändern unter solchen Voraussetzungen?

Die Antwort zur ersten Frage – geahnt wurde das von mir schon zu Beginn, allein die Art der Antwort, die ich (für mich) geben werde, hat mein Interesse geleitet – würde sicher lauten: Ja. Auch wenn der Verlust nur schwer zu objektivieren ist. Weiter interessiert haben mich allerdings Überlegungen zu diesem „etwas“, dessen Beschreibung, wie ich feststelle, sich sehr im Nuancenhaften bewegt.

Neue, andere Aufschreibesysteme schaffen Prädispositionen von Textualität. (Man denke hier vielleicht an unterschiedliche Tastensysteme, Apparate, oder auch schnell emergierende, massenmediale Kommunikationstechniken und -kanäle, die das Schreiben generell verändern, die quantitative und qualitative Auswirkungen auf die Texterstellung zeitigen und die schon jetzt omnipräsent in den verschiedenen Arbeitswelten anzutreffen sind.)

Solche technischen Dispositive verdrängen also meine/unsere Wahrnehmungsweise, auch der Skulpturalität von Handschriftentext. Spezifische Bildlichkeit und die Möglichkeiten von deren Verflechtung. (Andere, multimediale Formen dagegen, entstehen und werden weiterentwickelt werden.)

Und was das Lesen, Interpretieren und dessen (auch produktives) Scheitern angeht: die (Miss)Lektüre von Handschrift, auch als récriture unter speziellen Bedingungen ästhetischer Differenz zu verstehen, wird allmählich und in dieser Form aus dem Denkkatalog hermeneutischer Textbegegnung ausgeblendet werden. Ein Spiel von und mit Text, nämlich mit den Möglichkeiten von Nichtlesbarkeit, die anderes, alternatives Lesen induziert, könnte bzw. wird verkümmern.

Oder, im Falle beabsichtigter Unlesbarkeit – auch das kann ein Begehren (oder: eine Strategie) von Text und Autorschaft sein: können solche Effekte nur noch auf der Ebene normierter Signifikation gedeihen.

Auch wenn Walter Benjamin den Begriff der Aura auf das Kunstsystem abgestellt hatte: Diesen hier wieder einzuführen und ihn auf veränderte, technische Rahmenbedingungen (nämlich: der zusätzlichen Abbildungsmöglichkeit einer Schriftbewegung als Gedankenbewegung), kann die Bedeutung von Handschriftlichkeit aufwerten. Doch selbst diese Möglichkeit wird nur eine theoretische Möglichkeit sein und von aktuellen Entwicklungen in den Schatten gestellt.

Schliesslich wollte ich im Anschluss an diese Überlegung zeigen, dass – man denke hier an die im skizzierten Verfahren angelegten Möglichkeiten der Sichtbarmachung einer Doppelschrift, einer doppelten Signatur oder Urspur – solch ein Ansatz auch unweigerlich Konsequenzen für einen (dahingestellt sei, ob nun idealistisch oder strukturalistisch formulierten) Subjektbegriff hat. Eine Untersuchung, wie dieser allerdings zu reformulieren wäre, würde den Rahmen der Arbeit sprengen.

Last, but not least, müsste man sich auch – ob nun mit oder ohne Einbeziehung dieser Doppelschriftidee – ganz generell Gedanken machen, was es für den theoretischen und also abstrakten Begriff von Autorschaft und dem breiten Spektrum seiner Semantik bedeutete, wenn immer mehr Text nicht mehr „abgeschrieben“, sondern vor allem und z.B. durch Copy-Paste-Verfahren verbreitet wird. Man müsste sich also auch unweigerlich mit Art und Menge von Adressierungsmöglichkeiten bzw. –funktionen von Text unter expliziter Nichtberücksichtigung von Handschriftlichkeit beschäftigen. Ein kleiner Impuls hierzu, soll auch von dieser Arbeit ausgehen.

XI Formen der Repräsentation

Wie sähe eine angemessene Darstellung dieses Projekts und seiner Texte aus? (bhfr)

Bis zu und mit der Erstellung der einzelnen Ichschriften kam es zwar vereinzelt zu Überlegungen, wie denn das Textgesamt (die Manuskripte, OCR, Transkripte, Bibliographie und nun: dieser Text darüber) günstigerweise darzustellen wäre. Die Schriftelemente waren ja grossenteils, auch um ein gewisses Feedback einzuholen und dieses wieder mit in den Text zu nehmen, im Weblog (18) veröffentlicht. Der Gedanke lag also nahe, wo alles doch schon elektronisch vorlag, letztendlich eine elektronische Form der Gesamtdarstellung zu wählen. Man hätte die Ursprungsimages in Vollauflösung verwenden können und diese zusammen mit den Transkriptionen in einer Matrix bspw. durch ein Wikisystem (idealerweise einem Tiddlywiki (19), das auch kurz für diese Zwecke getestet wurde) präsentieren und die Einheiten multipel vernetzen können.

Selbstverständlich kann auf diese Texte, obwohl in gewisser Linearität urerschienen, in nichtlinearer Weise zugegriffen werden, ohne dass sich diesbezüglich grosser Bedeutungsverlust (kein Narrationsstrang, geringere Intertextualität, heterogenes „Personal“ abzüglich des ICHs) einstellen würde.

Ich hätte also Möglichkeiten gefunden, all das mit einer gewissen Übersichtlichkeit und doch grosser Vernetztheit (elektronisch / digital) abzubilden, und doch hätte ich damit ein paar Aspekte ausgeklammert, die ebenso grundlegend für diesen Ansatz sind. Idee kann nämlich auch sein, wenn denn die Handschriften auch als Bilder im Sinne von Kunstwerken (synchroner und diachroner Zeichenhaftigkeit) zu betrachten sind, diese mit einer Art Katalogaufmachung zu verbinden. Oder gar in einer Variante oder Mischform mit dieser: das Gesamt wäre auch in einer Art Notizblock- oder Skizzenheftästhetik verkörperbar, die letztlich auch Form und Ursprung der Arbeit medial wiedergeben würde. Damit bekäme auch dieser vorauszuschickende Text einen standes- und gattungsgemässen Raum, was das Ganze aber wiederum und in doppeltem Sinne in die Nähe klassischer Publikation(sstrukturen) rückte. Im Moment habe ich mich für letztere Variante entschieden, die sich freilich auch auflagenmässig an Künstlerbüchern orientiert. Eine weitere, spätere Präsentation in einem anderen Medium ist allerdings bewusst nicht auszuschliessen, sondern diese ist geradezu als kontrastive Ergänzung (analog zu den zwei Urschrifttypen, s.o.) gleichberechtigt hinzuzunehmen.

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(18) http://www.abendschein.ch/site/weblog/C37/

(19) Umfängliche Erfahrungen damit wurden bei einem anderen Projekt gesammelt: H.A., Bibliotheca Caelestis, Tiddlywikiroman. edition taberna kritika, 2008, (Elektronische Ressource) ISBN 978-3-905846-02-7, mehr: http://bc.etkbooks.com/

X Die andere Wahrheit des Texts

Und der OCR-Anteil im Gesamt? Das ist doch auch „Fremdtext“ oder autorschaftlich fraglicher Text. Wie wäre etwa dessen Qualität zu beschreiben? (bhfr)

Es wurde oben (II, IVa, VI) schon angeschnitten und soll hier noch ein wenig weiter erläutert werden. Analog zum Verhältnis der Fremdautorschaft und deren wechselseitigen Einverleibung in den Text (in die Texte) muss noch einmal auf das der Fremdleserschaft hingewiesen werden. Jenem Textanteil also, der in der Form einer Optical Character Recognition (OCR) (16) wieder als Ichschriftelement auftaucht. Das Verstehen, d.h. das Nicht- oder Missverstehen (die Varianz) ist also, je nach Tagesform der Handschrift, grösser oder kleiner, aber immer gegeben, da der Zustand wie beim „Training“ eingefroren wurde, auch: ein gewisser Nullzustand des potentiellen Texts, wohl nicht mehr erreicht werden kann. Typischerweise entstehen also Abweichungen, die aber wie selbstverständlich zum möglichen Apparat von Lektüre hinzugezählt werden müssen. Diese „misreadings“ können und sollen also (vgl. o. Derrida) unter dem Aspekt poetischer Produktivität gesehen werden, einerseits, weil diese Textabweichungen durch ihren spezifischen Rekurs (das Trainingsprogramm, die Aneignung meiner (Ur-)Schrift durch die Software) eine andere Wahrheit des Texts bedeuten, und diese Wahrheit der Misslektüre selbst wieder, nun auch als maschinelles Phänomen, das poetische Prinzip a) dieses Textes und b) dieser Anordnung bzw. c) des Schreibens insgesamt, präsentieren.

Oder auf diese Weise: Die Abweichung als ästhetisches Surplus und – innerhalb eines Ichschriftelements – die Konfrontation der zwei Textqualitäten (die Handschriftlichkeit, das Typographem), dieser Dualismus erinnert mich auch sehr an einen Chiasmus der Art: Das unlesbare Lesbare verschränkt sich mit dem lesbaren Unlesbaren. Diese Bereiche sollen also einen Dialog (17) darstellen, der, wenn man unverschämterweise so will, auch noch einmal an populärpsychoanalytische Vorstellungen von Befragungs- und Wechselspielszenarien erinnern könnte.

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(16) Hier: doch eine etwas zu allgemeine bzw. unscharfe Feststellung. In das Erkennungsverfahren wurden auch automatisch Teile anderer Erkennungsdienste hinzugezogen, z.B. der Kontextanalyse wie bei ICR-Verfahren (Intelligent Character Recognition) üblich. Generell, da diesem Lektüremodus ein Trainingsprogramm vorausging, muss vielleicht sogar von einer IWR-Methode (Intelligent Word Recognition) gesprochen werden. Da mir die exakte Arbeitsweise des Programms aber nicht im Detail bekannt ist, spreche ich hier vorzugs- und neutralerweise allgemein von einer „Lektüre“ bzw. „Fehllektüre“ (reading / misreading). Das Ergebnis dieser Lektüre, das “Verstehen” der Maschine, wird ja nur in dem Moment relevant, wenn aus diesem (miss-)verstandenen und rein formal decodierten Text, neue, andere, abweichende Verstehens- und Schreibimpulse erzeugt werden sollen. Eine qualitative Bewertung dieses Fremdverständnisses interessiert hier also primär nicht.

(17) Die OCR/Misslektüre als 4. Element wird allerdings in einer anderen Abteilung selbst wieder transkribiert. Das nun nichtmaschinelle Erkennenwollen des als Abweichung Erkennenswerten bedeutet freilich eine Rückholung des Textes in den Bereich menschlichen, semantischen Verstehens. Folglich sind im Gesamttext des Werkes also diverse Dialogsituationen angelegt, die – ohne diese weiter zu differenzieren oder zu benennen – keine symmetrische Dialogizität insinuieren sollen.

IX Die Zuneigung der Texte

Um zurück zu den Texten zu kommen und doch noch etwas beim Thema (VIII) zu bleiben: Die jeweils erste Passage eines sog. Ichschriftelements ist also immer ein fremder Text, der von Dir verhandschriftlicht wurde. Nach all den Hegemann-Debatten: Ist so eine Form der Aneignung nicht etwas problematisch? (bhfr)

Mittelbar mit der Konstruktion von Identität (und damit auch Identität des Textes) hat das so textgenerische Verfahren einen (sicher nicht neuen) Effekt auf die Beziehung homogenisierender Schriftästhetik (Praxis) und damit Homogenisierung (Integration, Anpassung, Aneignung) von Fremdtext in / von eigenem Text. Die Homogenisierung des ursprünglich Heterogenen, wie in so einem Schreib- bzw. Schriftakt stattfindend, also des Abschriebs von (tendenziell eher theorielastigem) Fremdtext und dessen Hinzugliederung zu eigenem Text, kann auch eine punktuelle Umcodierung von autorschaftlichen Textverhältnissen bedeuten. Vielleicht muss also auch eine Frage lauten: Schreibe ich einen Autoren (einen Text) um? Eigne ich ihn mir an? Werde ich Teil von ihm? Oder: Werde ich selbst Teilurheber dieses vormals fremden Textes (mehr noch, als bei einfacher und üblicher Zitation), wenn dies über handschriftliche Aneignung geschieht?

Wenn auch diese Frage grundsätzlich schwer zu beantworten ist, kann zumindest – also in Relation gesprochen – behauptet werden, dass eine handschriftliche Aneignung durch Abschrieb und damit Homogenisierung mit eigener Schrift (eine Werkvariante entsteht, auch ästhetisch) diese Gesamteinheit eher in die Sphäre eigener Autorschaft von Fremdtext überführt, als es bei kopierender Zitierung (digital, analog, „abtippen“, „copypaste“) stattfindet.

Man muss diesen Punkt vielleicht nur als Nuancierung von Zuneigung im Bewegungssystem von Textadressierungsverhältnissen sehen, aber diese Nuance kann von Bedeutung sein, wenn es um Verlustbilanzierung geht. Inhaltlich / Sprachlich: ein Amalgam von Metatext-Text-Elementen hat – nun ganz praktisch – aber auch Auswirkungen auf den Gesamttext und jenem, wie eben diesem, der gerade im Entstehen begriffen ist. Ganz gegen mein ursprüngliches Vorhaben hat sich hier eine Sprache und ein Schreibverfahren (auch: ein Ton) etabliert, der manchem vielleicht als überhebliche, überflüssige, unverständliche oder spekulative Terminologisierung (wie hart oder weich diese auch sein mag) des Sprechens über die Verfahren vorkommt. Das war, wie gesagt, nicht von Anfang an intendiert. Die Lektüre und Verarbeitung von solchen Sekundärtexten, also auch: die inhaltliche und sprachliche Aneignung dieser Texte, nehmen ihrerseits Einfluss auf mich. Ich befinde mich also noch inmitten eines Ermächtigungsprozesses jener Sprachen über mein Schreiben über das Schreiben. Theoreme, wie dort aufgegriffen, schieben sich in meinen Blick auf / beim Sprechen über das Verfahren und die Auswirkung solcher Textproduktion bzw. Ihrer Unterlassung. Gewissermassen steht also auch diese Anfertigung unter einem Fremdautorschaftsverhältnis, nicht 1:1, nicht in Form rigider Materialität, aber auf anderer Ebene ordnet sich mein Schreiben über mein Schreiben Diskursen zu, die ihrerseits wieder urheberschaftliches Land an meinem Text zurückgewinnen. So entsteht also vielleicht etwas wie eine Tausch- oder Handelssituation von Adressierungen (Adressregistern?, ästhet. mit diskurseigentümlichen), die die “Besitzverhältnisse” von Text fluktuieren lässt. Und das kann weiter bedeuten: dass gerade diese Texteigenschaften damit auch ausgestellt werden.

VIII Und ICH?

Du sprichst von gleichzeitig existierenden, gleichberechtigten, unterschiedlich ausgeprägten Formen von Textoriginalität bzw. -authentizität. Liesse sich so eine Konstruktion auf einen – viel weiteren – Subjektbegriff übertragen? (bhfr)

Verfolgt man nun so ein Aufschreibeprojekt und akzeptiert, dass sich – wie oben angeführt – eine Aufspaltung in zwei Originalskripturen, die manifeste Schrift und jene digitale Urschrift, die eine Bewegung gespeichert hat, ereignet, kann man vielleicht feststellen, dass eine Faksimilierung solch eines Ich-Dokuments (und damit „Nichtselbsts“, da ich ICH nur im Moment meines Schreibens bin) durch die blosse Existenz jenes 2. Originals verunmöglicht ist.

Möglicherweise hat damit also solch eine Nichtfaksimilierbarkeit des Selbsts (15) auch rückwirkend Einfluss auf einen wieauchimmergearteten Subjektbegriff? Ist ein Schreibprozess dieser Art also eine bedingt subjektrekonstruierende Massnahme?

Das Thema dieser Arbeit umkreist die These, dass durch eine Medienüberspringung oder „Auslassung“ eines handschriftlichen Schreibprozesses (z.B. durch eine direkte Textprozessierung am Computer) Bedeutungsverlust am Text anfällt, was natürlich augenfällig und banal erscheinen mag. Umgekehrt, so vielleicht die unmittelbar anschliessende These, kann behauptet werden, dass durch solch eine Überspringung eine Einbusse an genereller Subjektivität (wenn man sich diese vielleicht als Teil eines Texttortendiagramms vorstellen möchte) im Text zu verzeichnen ist. Oder: Einerseits kann also dieses Verfahren bedeuten, dass Bedeutungsverlust durch (nichthandschriftliche) Textproduktion schon überhaupt vor der Niederschrift eines Textes, ein Defizitverfahren ist, andererseits wird damit eine theoretische Erhärtung jenes Selbstbegriffs (s. Fn. 15), egal wie unscharf dieser zunächst sein mag, eingeleitet, der sowohl konstituierend für Textsubjektivität ist, als auch – im Moment des Schreibens, in der Ich nur Textich ist – „reine Subjektivität“ sich als Bestandteil dessen formuliert.

Noch nicht geklärt wäre damit aber das Binnenverhältnis der Doppelschrift bezogen auf die obige Differenz. Der Frage also, ob nun manifeste Schrift auch Zeichen jenes „Ichs“ ist und das Urdigitalisat die Anteile des „Selbst“rests verkörpert, oder eine umgekehrte Speicherung oder gar wechselseitige Verkörperungen stattfinden, wäre in weiteren Überlegungen nachzugehen.

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(15) Zur Unterscheidung Ich/Selbst: gemeint sei hier in stark vereinfachter Form und auch etwas populärpsychologisch: „das Ich“ = jenes, das (nur) sich selbst bewusst ist, im Vergleich zu „das Selbst“, das die dem Ich unbewussten Teile („Es“ / „Überich“) mit einschliesst.