VII Au / tog / ra / phie

Im Moment und Akt des Schreibens entstehen, diesem Verfahren nach, gleichzeitig zwei unterschiedliche Urschriften bzw. Exemplare eines Textes – dasjenige auf Papier und ein rein Digitales. Welches wäre das “ursprüngliche” oder “Original”? Oder spielt diese Frage hier keine Rolle? (bhfr)

Wie in keinem anderen vergleichbaren Kunstwort ist die Aura der Autographie eingeschrieben. Im Falle der Ichschrift ist eine aus jener Perspektive zu betrachtende, wortwörtliche wie übertragene Bedeutung für das Verstehen dieses Verfahrens (dieser Produktion) notwendig. Die Herstellung der Schrift verzweigt und überträgt sich im Moment des Schreibaktes in zwei mediale Typen. Es wird einerseits ein „handfestes“, materielles (die Schrift des Kugelschreibers auf das Papier, die Gravur ins Papierfleisch) und gleichzeitig (synchron, ja, es wäre sicher spitzfindig zu untersuchen in welchem Millisekundenbereich das frühere Ankommen der einen oder anderen Spur auf dem Trägermedium stattfindet) die Bewegung in Farbe, Gravur bzw. Code in ein (Ur-)Digitalisat (12) verwandelt.

Es wäre also buchstäblich zu unterscheiden bzw. zu fragen, welcher der beiden Originaltypen (dieses Doppeloriginals?, dieses Originaldoppels?) der ursprünglichere, in diesem Falle potentiell auratischere ist. Eine Reproduzierbarkeit (13) im Benjaminschen Sinne wäre im Falle manifester Schrift, die zwar einmalig ist, doch beliebig vervielfältigt (entauratisiert) werden kann, gegeben. Das Digitalisat aber, das ebenso reproduzierbar, und in sich schon Kopie im Moment der Versendung (z.B. qua Weblog und im Moment des Auftauchens in diversen Readern und Archiven) trägt, das eben aber eine andere, weitere Qualität (die der Bewegung) mit einschliesst.

Die textkritische Befragung von Urschrift (Autograph) muss künftig also theoretisch und technisch das Vorhandensein einer doppelten Schrift (Originale: manifest / Digitalisat) mit einschliessen. Was den Benjaminschen Aura- und Werkbegriff angeht, sehe ich die Möglichkeit oder Notwendigkeit einer De- bzw. annähernden Rekonstruktion des Aurabegriffes im Zeitalter der Abbildungsoptionalität originärer Schreibbewegungen. Eine Reproduktion eines Ensembles aus originärer (manifester) Handschrift und Urdigitalisat (weitere Originalitätseinschreibungen: time-stamps, DRM-Wasserzeichen), mag zwar unter erschwerten Bedingungen möglich sein, durch den sinnlichen Doppelcharakter eines so verfassten autographischen Dokumentes gerät dennoch zumindest die Idee oder der Begriff der (einen) Spur (14) ins Wanken bzw. in Bewegung und verändert möglicherweise die Distanz zu einer als idealauratisch gedachten Werkrezeption.

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(12) Zur Erklärung dieses speziellen Effektes: Bei der Übertragung der Datei in eine entsprechende Software ist gut zu beobachten, wie sich die Schrift-Bewegung noch einmal vor dem Betrachter aufbaut, diese also nachgebildet wird. Wird also bspw. eine spätere Ergänzung auf der Seite an einer vorangegangenen Stelle eingefügt, so kann das im Vorgang der Übertragung bzw. Sichtung nachvollzogen werden. Das Digitalisat wäre also aus dieser Sicht, gegenüber dem manifesten Autograph, das präzisere, sinnlich mehrstelligere, sodass eigentlich diesem (Digitalisat / Vorgang) eine – so vorhanden – vorrangigere Auraeigenschaft zukäme. Etwas strenger formuliert: es gibt zwei Originale der Schrift. Und Zeichentheoretisch auf die Ichschrift als Bildkunstwerk angewendet: beide Versionen können als Werk aus synchronen wie diachronen Zeichen betrachtet werden. Die Diachronie (die Aufbaubewegung) im Falle des Digitalisats ist hier aber eine doppelte, weil die Schrift als fortlaufender Text, das Fortlaufen ihrer Selbst reflektiert bzw. darstellt.

(13) „Die Aura ist [die] Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft […] was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura“ (Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit).

(14) „Die Spur ist [die] Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterlieߓ (Walter Benjamin, Das Passagenwerk: Der Flaneur).

VI Emblematik, Allegorese

Cy Twombly wurde bekannt dafür, dass er das Malen, Zeichnen und Schreiben als eine (1) künstlerische Bewegung oder Geste begriffen und mit dieser experimentiert hat. Spielt so ein Verständnis von Produktion in der Ichschrift eine Rolle? (bhfr)

Um es aber auch ikonographisch zu betrachten: Bevor die handschriftlichen Blätter als solche und hier mit einem Transkriptionsapparat versehen und versammelt wurden, wurden diese – freilich in verkleinerter und schwach aufgelöster Form – systematisch in einem Weblog zugänglich gemacht mit dem Hinweis (10), der allenfalls „unlesbaren“ (und teilweise, s.o. „unleserlichen“) und viel zu kleinen Schrift habe man sich auch mit einem graphischen Blick zu nähern. Oder etwas frecher formuliert: Die Handschriftenblätter seien auch zu Teilen abstrakte Bildwerke, die seriell und ähnlich, aber mit signifikanten Differenzen auch als Bildkunst rezipiert werden müssten.

Die Anspielung wurde beim Wort genommen. So gab es also eine Kommentatorin, die immer wieder die „Textgraphik“ als „Gemälde“ gedeutet (11) hat und damit der (vielleicht kann man es gesamthaft nur so nennen) Installation eine erweiterte oder ganz andere Rezeptionsrichtung gab. Ohne nun aber Qualität und Richtung selbst zu beurteilen, denn mir geht es hier eher um Mechanismen und Strukturen, muss diese Form als eine Lektüremöglichkeit (oder: Betrachtungsweise) mit in den Kanon von Näherungsoptionen für solcherlei Experimente aufgenommen werden, die ja in ihrer rückwärtsgewandten Experimentalität eigentlich auf einen künftigen sinnlichen Verlust hinweisen.

Die Struktur einer Ichschrift-Seite, hier wie im Weblog, entspricht also annähernd den Kompositionsprinzipien emblematischen Kunstschaffens, diese, bestehend aus a) knapper Überschrift (inscriptio, Motto, hier: Titel), und b) dem Bild (pictura, hier: der Text als graphisch verstandene, mehr oder minder abstrakte, zu interpretierende Einheit) und c) der Unterschrift (subscriptio, hier: der OCR-Text; wobei natürlich auch zu diskutieren wäre, ob nicht auch zusätzlich oder anstelle dessen eben ein Kommentar (s.o.) hinzuzurechnen wäre).

Die Ichschrift, so begriffen als „skripturale Emblematik“, die sich (Unlesbarkeit, Drang / Zwang zur Sinnverleihung; diese zu „enträtseln“) damit wieder einer charakteristischen Vorstellung einer „Einheit von Kunst und Wissenschaft“ nähert, die sich – auch als Zeicheneinheit verstanden – im Binnenverhältnis in wechselseitiger Weise verbindet und interpretiert, wird so den Bedeutungsvorrat – durchaus auch kontrastiv – ergänzen und macht explizit das Spannungsverhältnis einer „Bildhaftigkeit von Zeichen“ und seiner Umkehrung bewusst.

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(10) http://www.abendschein.ch/site/comments/verlauf_i_is001/ (unkorr.): #1: Sollte man das lesen können? (rr am 14.03.08) #2: ich habe diese frage befürchtet. nein, erwartet, auch wenn ich noch nicht so gut mit antworten gewappnet bin. vielleicht kann mans lesen. es würde aber wahrscheinlich eher in die richtung entziffern gehen. und auch dieses wird teilweise scheitern, wie auch die maschine scheiterte, die versucht hat, diesen text zu lesen (OCR). es entstand dabei etwas ganz neues, was man vielleicht auch als ungewollten experimentaltext bezeichnen könnte. oder ein produktives missverständnis. aber sie meinen wahrscheinlich die winzigkeit der schrift. (diese wird es sicher auch mal in angemessener grösse geben, aber ich will hier ja nicht mein ganzes pulver verschiessen). / worum es mir hier aber geht, ist die reine schriftlichkeit, die durch schwerlesbarkeit zu einer umso mehr ästhetisch zu begreifenden wird. also muss man obiges (im verein mit seinem übersetzungsversuch) vielleicht als bild ansehen. als zeichnung. und den “text” nicht mehr diachron sondern synchron zu lesen versuchen. man muss ihn vielleicht betrachten. und vielleicht gibt er wiederum in serie (eine serie von “bildern” damit) etwas preis, was einem leicht lesbaren text schwer fällt. / im grunde ist dies hier ein (sehr anachronistischer) versuch, das sogenannte “private”, das sich im internet / in vielen weblogs etc. inszeniert, durch tatsächlich privates, oder sagen wir: privateres, nämlich durch eine handschrift zu überbieten … / nun könnte ich, um nur meine persönliche schrift (und man kann die nun hässlich finden oder schön, aber darum geht es ja nicht unbedingt) gegen einen strom von textversatzstücken zu setzen, irgendeinen text abschreiben. aber tatsächlich ringt und verhandelt diese ichschrift, auch, wenn sie nur schwer lesbar zu sein scheint, um genau den gegenstand – wie im titel angedeutet: das selbst, seine schrift und ihr ästhetisches. ich fürchte, ich kann an dieser stelle noch keine vollständige antwort bringen. aber hilft das ein bisschen weiter? / kleiner nachtrag: sie sehen oben und auch im noch folgenden bild lediglich eine skizze bzw. einen entwurf dieser serie, der allerdings schon mit den technischen mitteln umgesetzt wurde. beginnen wird der haupttext mit “is002” … (hab am 14.03.08) #3: eine aussergewöhnliche antwort muss ich sagen! ja, ich denke, ich habe eine vorstellung von dem, was sie meinen. aber ist es nicht so, dass, wenn man die schrift zu entziffern sucht (und es ist natürlich schwer, dies zu unterlassen, besonders, wenn man in einem literarischen weblog gräbt), das “bild” dadurch zerstört wird? würden sie diese “ichschrift” also hauptsächlich als zeichnung betrachten? (rr am 14.03.08) #4: zunächst: ja. also ist es ein “zunächstbetrachten”. bei einer intensiven bildbetrachtung würde “ich” sich dann aber auch irgendwie bald selbst mit ins bild stellen. (vermeintliche oder nicht) tiefenstrukturen zu erkennen suchen. interpretieren. und nun kommt die teilweiselesbarkeit wieder ins spiel. man würde vielleicht mehr und mehr erkennen. decodierenkönnen. muster, wiederholungen ausmachen. und so langsam weitere bedeutungen finden. es entsteht hier vielleicht erst aus der betrachtung weitere lektüre. (in einer zeit der schnell zu konsumierenden texte ist das natürlich reines gift. und möglicherweise kein unbedingt weblogaffiner inhalt). (hab am 14.03.08) #5: also wenn man das bild mit abstand betrachtet und dazu mit den augen blinzelt, könnte man einen kochtopf erkennen, der buchstaben dampft, also, im übertragenen sinne wären diese z.b. gedanken, die man in worte fasst. (rr am 15.03.08).

(11) Beispiele / Zitate (unkorr.): Zu „Schnelle, Neigungen II“: „… ein mann mit hut laut rufend oder schreiend in einer geste der verzweiflung. der stand so mancher dichter in der heutigen zeit?“ (rr am 04.04.08). Zu: „Nachtgesänge I“: #1: „ein boot, über diesem eine mächtige wolke, die das klare licht verbirgt…die einsamkeit der dichter, die wolke das unverständnis, das licht das verborgene wunderbare symbolisierend.“ (rr am 23.06.08) #2: „sehr schöne und passende lektüre der lektüre von morgensterns “fisches nachtgesang” …“ (hab am 23.06.08) #3: „und: unverständnis = “unverstandensein“= hindernis. das licht verhilft dem dichter, auf einer höheren ebene, zum durchbruch (dies kann natürlich auch in mancher weise verstanden werden..) / also das bild oder die “geheime schrift” sagt hier wirklich viel aus…“ (rr am 23.06.08) #4: „… oh, ich hatte ihren kommentar nicht gesehen. danke!“ (rr am 23.06.08). Zu „Das Utopiensische Alphabet I“: „… ich sehe eine schreibmaschine, umgeben von einer unmenge an informationen. tatsächlich scheint so die welt: stress, chaos, überfülle, zerfall und durcheinander. doch in der tiefe findet sich harmonie und schönheit – dort wo die dichter überleben…“ (rr am 11.07.08). Zu „Über das Gemüt I“: „ein junger mensch, schliesst augen und mund. kein bild und kein licht dringen ein in seine gedanken. kein ton wird weder gehört noch gesprochen. absolute stille. alles weltliche fällt von ihm ab. so wird man wohl von dem reinen sprechen?“ (rr am 01.12.08). Zu „Über das Gemüt II“: „ein sehr alter mann beugt sich nach vorne und weint…“ (rr am 09.12.08)

V Romantische Signifikanten

Kannst Du deinen logozentrismuskritischen Ansatz noch genauer erläutern? Welche Grenzen offenbaren sich dabei bei einer rein maschinellen Schrifterzeugung und –darstellung? (sja)

Um dem eine noch (wortwörtlicherweise) epochalere Bedeutung zu geben und diese, nach Hoinkis (9) selbst mit einer historischen Zäsursituation in Beziehung zu setzen:

„An der Schwelle zum 19. Jahrhundert dagegen kann ein romantischer Ästhetiker wie Friedrich Schlegel schon einen ganzen Aufsatz der Unverständlichkeit widmen und dieses Phänomen nicht nur ironisch feiern, sondern ins Zentrum der ästhetischen Theorie rücken. Und das Bemühen der Autoren, gezielt unverständliche Texte zu produzieren – d.h. daß um 1800 gerade umgekehrt das unverständliche Schreiben zur ästhetischen Norm avancieren kann -, kann nun schon zum Thema der Literatur selbst werden. In gelungener Ironie stellt uns ein aufmerksamer Beobachter der zeitgenössischen literarischen Schreibpraxis – Jean Paul – einen Autor – das vergnügte Schulmeisterlein Maria Wutz (1790) – vor, der aus der Not heraus, auf der semantischen Ebene keinen unverständlichen Text zustandezubringen, darauf zurückgreift, auf der Ebene der Materialität des Mediums – der Schrift – einfach „Unleserlichkeit“ herzustellen (dies gelingt ihm aber nur im Medium der Handschrift (Hervorhebung, H.A.), im gedruckten Text dürfte dies kaum noch eine erfolgreiche Option sein). An die Stelle der Unverständlichkeit tritt einfach die Unleserlichkeit (sicherlich auch eine schöne Selbstparodie der Romantik und seiner eigenen Schreibpraxis, die hier Jean Paul gelingt):

… denn da alles in Hexametern, und zwar in solchen, die nicht zu verstehen waren, verfasset sein sollte: so musste der Dichter, da ers durch keine Bemühung zur geringsten Unverständlichkeit bringen konnte …, aus Not zum Einfall greifen, daß er die Hexameter ganz unleserlich schrieb, was auch gut war. Durch diese poetische Freiheit bog er dem Verstehen vor. (Jean Paul 1995/1790, 35)“

Will man diese Praktiken also in einen anderen Jargon übersetzen, käme man vielleicht zu dem Befund, dass prä- oder frühromantisches bis hin zu romantischem Schreiben vor allem auf Operationen am Signifikat, dem aber selbst gewisse Flexibilität (Stw: progressive Universalpoetik) bescheinigt wird, ausgerichtet ist. Mit dem Einbezug oder der Verlegung des Augenmerks auf Schriftlichkeit, die in bewusster Unleserlichkeit zwangsläufig Bedeutungs- (wenn nicht Überschüsse oder Vakanzen, so doch) Unsicherheit in poetologische Konzepte integriert, werden Operationen am Signifikanten wieder mit in den Schreibprozess hinein genommen.

Oder etwas drastischer formuliert: eine so avanciertere Zeichentheorie versucht durch Wiedermiteinbeziehung handschriftlicher Signifikationseffekte Verantwortlichkeiten in der Beziehung Idee/Ausdruck umzuverteilen, was aber wie selbstverständlich und theoretisch auch in vorgängigen Konzepten romantischen Schreibens angelegt ist. Binnenspannung und Bedeutungsoszillation in einer so als Zeichensystem gedachten Produktionsanordnung, ist also unter „romantischen“ Gesichtspunkten in gewisser Weise vollumfänglich nur unter Einbeziehung von Manuskriptur denkbar. Typographika, später, verweisen also in dieser Folge (wir haben uns längst daran gewöhnt), doppelt, auf ein Präzisions- aber auch Amputationsverhältnis, das selbst im unverständlichsten Falle eine Lesbarkeit impliziert, die so vielleicht gar nicht gewollt ist.

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(9) In: Tim Hoinkis, Lektüre. Ironie. Erlebnis. System- und medientheoretische Analysen zur literarischen Ästhetik der Romantik. Bochum, 1997. S.35f. Dieses Zitat auch weiter hinten in der Ichschrift „Über die Unverständlichkeit“.

IVa Ichschrift und Differenz

Welche Funktion hat für Dich das OCR-Verfahren, dem Du die Texte unterziehst? Gibt es Assoziationen zwischen dieser letzten Stufe oder vierten Dimension, wie Du es in Kapitel II nennst, und der Handschriftlichkeit, die über eine „Misslektüre“ hinausgehen? Beziehungsweise was bezweckst Du mit der Provokation und Darstellung von Misslektüre? (sja)

Ein anderer, ein historisch fast schon gegenläufiger Ansatz drängt sich in diesem Spiel (mit) der Schrift, tollkühnen Titulierungen und Rekapitulationen beinahe zwangsläufig auf und kann Schriftverlust (mit Schrift sei hier und im übrigen bzw. wenn nicht anders angezeigt, immer Handschriftlichkeit gemeint) weiter prononcieren und, je nach Perspektive / Position begut- oder schlechtachten.

Der oben auch als „Misslektüre“ bezeichnete Einsatz maschineller Intelligibilität kann und soll hier auch positiv formuliert und begründet werden.

Vielleicht ist man also besser mit Begriffen aus dem Spektrum der Para- oder Konlektüre bedient, da diese bei der Begutachtung der Zeichen, ihrer oftmaligen Stummheit oder auch Nichtlesbarkeit (hinten dargestellt bspw. mit „[…]“) ein Spiel mit Differenzen (8), sowohl beim Aufeinandertreffen von Text und Paratext, als auch im Transkriptionspart auslöst, und das – nun auch – sinnliche Aufklaffen und Auseinanderfächern löchriger Bedeutungsstellen begünstigt und ausstellt.

Anders formuliert: Das OCR-Verfahren bietet weiterhin die Möglichkeit intelligibel überführten Text wieder mit Spuren, Annotationen oder Konnotationen etc. anzureichern, die im Prozess temporierter Lektüre verlorengegangen sind.

Der so einerseits wieder rückgebundene (retemporisierte) Schrifttext, andererseits räumlich und qualitativ erweiterte Ursprungstext (jeder Ichschrifteinheit) ist also aus dekonstruktivistischer Sicht nichts weniger als ein Versuch, auch ästhetischen Sinnverlust zu begründen und zu kompensieren. Und dies: auch jenseits eines angenommenen (Text-)Subjekts oder Ichs.

Auch aus logozentrismuskritischer Perspektive wäre also eine immer umfangreichere Aufhebung von Handschriftlichkeit im Rahmen fortschreitender Medienumbrüche zu beklagen.

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(8) Im Falle der Berücksichtigung von Schriftästhetik muss daher von einer dreifachen Differenz (räumlich, zeitlich, ästhet.) ausgegangen werden, und dass sich die Bedeutungsbeziehung von Zeichen und Sache, im Zeichenfalle verdoppelt, weil sich zwischen Text (Schrift) und Objekt (Bedeutetes), so meine Erfahrung, automatisch das somit zwittrige Textobjekt „Typotext“ schiebt.

IV Zirkularität

Welchen Einfluss hat die Materialität – im Sinne eines Sichtbarmachens – von Textentstehungsprozessen und –stufen für den Prozess des Textverständnisses (oder: der Textinterpretation)? (sja)

Wie oben angedeutet, wurde durch die Einführung einer zweiten und dritten Prozessstufe, der lécture automatique und der Interpretation maschineller Misslektüre der Ichschriften ein Mechanismus eingeführt, der in der Abfolge der (Schreib- und Verständnis-)Handlungen, der „Rekritüren“ (also: der Transkriptionen), mit einer Handlungskette, die man kettenförmig

Lesen – Erinnern – Verknüpfen – Schreiben – Lesen

bezeichnen könnte.

Diese Zirkularität wird in mehrfacher Weise sinnfällig. Und sicher könnte sie nach obigem Modell weiterbetrieben werden. Nach gewissen (Zeit-)Abständen könnte das so entstandene Material theoretisch wieder aufgenommen werden und eine (rezeptive, skriptive, poetitive) An- und Neuverwandlung, ein weiterführender Schreibprozess ausgelöst werden.

Mit genug zeitlichem Abstand, mit Schicksalsfügungen also – man denke an Klees verwitternde Hand, die mit ihrer fortschreitenden Unbrauchbarkeit ganz andere Texte, Längen, Inhalte und damit: ganz andere Werke schuf – würde sich auch die Schriftästhetik eines Folgeprojektes verändern und wäre im Abgleich in der Tat mit jener nuancierten Zeichnung eines Verstehensprozesses vergleichbar. Die Ichschrift ist also nicht nur Gebrauchstext, sondern ein manchmal historischer, manchmal ein literarischer Korpus von Aufzeichnungen.

Das Gadamersche Modell einer Textannäherung bzw. -begegnung (7), eines Verständnisses von Text, das nur über das Vorhandensein von Vorverständnis gebildet werden kann, da sonst generell kein Verstehen möglich wäre, schliesst hier die Aussergewöhnlichkeit ein, dass historischer Produzent (auch: hist.-maschineller Lektor) und Rezipient des Textes in dieser Anordnung zusammenfallen. Das Objekt wird damit in seiner existentiellen Struktur um einen Subjektanteil erweitert, und eigentlich verschiebt sich ein quasi-historisches Interesse durch mein eigenes Lesen meines Geschriebenen, das zwar grossenteils wieder präzise erinnert, aber auch mehrdeutig rekonstruiert (und hier wird der Vorverständnisanteil explizit) zu einer Analyse „meiner Selbst“, das so Subjekt 2. Grades dieses Texts werden muss.

Das Selbst 1. Ordnung als Interpretationsquelle in diesem hermeneutischen Verständnis ergibt sich aber nicht nur aus einer historischen, sondern hier auch speziellerweise: ästhetischen Differenz. Eine Ausweitung der Verstehenszone „meiner Selbst“ wird also durch eine zusätzliche „Irritation“ ästhetischer Differenz begünstigt.

Die Verschärfung meines Selbstverständnisses durch – nicht Schmälerung, sondern – Verbreiterung der Materialbasis von Sinnlichkeit (der gleichzeitigen Möglichkeit differenter Quellarten) von Subjektivität, verschiebt dieses Textensemble noch stärker in den Objektstand. Und das so aufs Selbstverständnis applizierte Modell hermeneutischer Zirkularität (hier tatsächlich noch im Zustand eines gedachten Zirkels, obwohl, wie oft angemerkt wurde, ein weiterer Betrieb dessen eher in eine spiralhafte Struktur münden dürfte) käme hier als gültige Metapher sowie Element einer wieauchimmer formulierten Poetologie in Frage. Allein: Der Begriff der „Quelle“ bei einer tatsächlichen historischen Differenz von 1-2 Jahren mag stark übertrieben sein. Doch kann auch jenseits quellenkritischer Begrifflichkeit der Prozessmechanismus als solcher bezeichnet werden, sieht man die „ästhetische Differenz“ als manifesten Aspekt einer hermeneutischen Differenz.

Wozu das Ganze? Mit dieser kleinen Überlegung soll begründet werden, dass ein nichthandschriftlich verfasster Text von Grunde aus als einer mit einer verengten Aspektierung von Textverständnis in der (Selbst-)Rezeption aufgefasst werden muss, kurz: Quelle ist nicht gleich Quelle. Und etwas radikaler: typographierter Text ist somit von vornherein reduzierter Text, seine Lektüre wird im Rahmen einer Reduktion des Verstehensprozesses angenommen und verstanden, vor allem, wenn das Zu-Verstehende man selbst ist. Eine apriorische und unmittelbare Erzeugung von z.B. digitaler Textlichkeit muss aber damit auch automatisch eine Enthistorisierung von Textualität bedeuten. Eine Untersuchung von Prozessen bleibt immer eine Untersuchung von Schwundstufen.

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(7) z.B. in Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. 1960.