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(E20)

Werfen wir, bevor wir Benedikt verlassen, noch einen letzten Blick auf sein zurechtgemeistertes Schicksal, dem wir viel abgewinnen könnten und profitierten, würden wir daraus nur die richtigen Schlüsse ziehen.

Mit seinem neu installierten und nun optimal funktionierenden Breitbandinternetzugang versetzte sich Benedikt in die Lage, nie und nimmer mehr seine Wohnung verlassen zu müssen. Theoretisch. Er wusste sich eigentlich stationär mit allem zu versorgen und konnte sich auch hie und da an einen anderen Ort in ein zweites Leben bewegen, ein Leben, in dem es für alle erdenklichen Situationen einen Deleteknopf gab, auch er selbst war bald geübt sich ein ums andere Mal auszulöschen, um den Preis der Reinkarnation, freilich: in andere Zeichenketten, in Bilder, in lange Reihen aus Nullen und Einsen.

Für das leibliche Wohl war rund um die Uhr gesorgt, denn die wichtigsten von ihm sonst frequentierten Läden lieferten ohne dämliche Rückfragen schnell und bequem über Onlineshops aus, und es hatte sich bei diesen herumgesprochen, dass angelieferte Waren durch einen dunklen Schacht auf der Rückseite des Hauses zu schieben waren, was ihm eine persönliche Begegnung mit Übermittlern ersparte.

Die Fensterläden seiner Wohnung waren halb heruntergezogen und manchmal in Gänze, denn ob Tag oder Nacht: was spielte das für eine Rolle? Noch immer, wenn auch sporadisch begleitete ihn aber die Idee einer Luftbibliothek, und dann und wann trieb es ihn zu Versuchen, diese sichtbar zu machen für wenige Sekunden, aber das Verlangen liess nach, allmählich und auch der Antrieb diese weiter mit Arbeit zu verfeinern. Dies auch, weil er in einem Anfall genialischen Schaffens diese um eine Proposition erweitern konnte: Eine nur konsequente Ableitung, die da lautete: natürlich musste alle Rezeption auch in dieser aufgenommen werden, automatisch, war alle Rezeption selbst ebenfalls Produktion und sei es nur im Abtasten von Text, selbst bei der Überspringung war Geist am Werke und möglicherweise messbar.

Mit der Einsicht in diese Konsequenz konnte er sich allein der Lust der Zeichen überlassen ohne diese jemals berühren zu müssen, was ihm wiederum jede nur vorstellbare Zeit schenkte. Zeit, wohin er blickte. Zeit. Und was das Denken mit Löchern und über diese anging, und ob jene auch angemessen gespeichert wurden – nur dieser Punkt war für ihn noch nicht gelöst und gab ihm dann und wann etwas zu knapsen.

Ungelöst blieb auch weiterhin der Fall Röhrling. Zwar hatte sich Benedikt angeschickt, das eine oder andere Mal Kontakt mit ihm aufzunehmen, aber erfolglos. Und so liess auch das Interesse mehr und mehr nach, dessen Identität und Wahrheit zu beweisen. An einem anderen Tag hatte Benedikt das Gefühl, Anna im Netz wiedergetroffen zu haben, selbstverständlich trug sie dort einen anderen Namen, nannte sich Luna66 oder ähnlich. So genau wusste diese Person immer, wovon er sprach und die Rede war, auch Dinge, die nur Anna wissen konnte, benannte diese in einschlägigen Foren. Und zu verdächtig waren die Fragen zu seiner Person, egal, wie er just heissen mochte und was geschehen war, alsdass es sich hier um eine Unbedarfte handeln konnte. Nach weiteren Nachforschungen sowie der Bestechung von Providern, nach der Auskunft und im Strudel verwirrlicher IP-Adressen und Aufenthaltsorte der Person, wurde ihm auf einmal klar, dass er es mit einer ganzen Menge verschiedener Einheiten zu tun hatte, die sich um ihn bemühten und er brach den Kontakt mit Anna/Luna ab und besuchte fortan nur noch harmlose Seiten.

Als Benedikt sich nach einer kleinen Phase der Konsolidierung wieder einmal auf heissem Pflaster bewegte, wurde wenige Tage später an seinen Fensterläden gerüttelt und geklopft. In der Nacht. Oder war es am frühen Morgen? Sicher. Es konnte auch ein Anlieferer sein, der den neuerdings eingerichteten Pincode zu seiner Warenschleuse vergessen hatte. Aber wusste man es? Oder die unter der Laterne wie arglos wartenden Menschen mit ihren dunklen Sonnenbrillen, die ausschauten, wie bestellt. Was wusste man also?

Solche Ereignisse mehrten sich und Benedikt drängte es, zog es hin zu einem externen Ratschlag von Bekannten, halbwegs internen Seelen, die nicht nur das waren: Erzeugnisse von Programmen mit einer gewissen Zufälligkeit. Noch einmal suchte er die Nummer Röhrlings heraus, kramte lange und fand sie schliesslich in einer vergessenen Agenda, in seinem Telefon hatte sie vor Unzeiten schon einer Horde nützlicher Dienste Platz gemacht, und wählte. Freizeichen. Freizeichen. Und Freizeichen. Und Besetztzeichen.

Also ist etwas geschehen am anderen Ende der Leitung, immerhin, sodass Benedikt neue Hoffnung schöpfte auf ein klärendes Gespräch – in mancherlei Hinsicht. Aber als er wieder und wieder wählte und sich das Schema der Tonsignale nicht mehr veränderte, gab er auf, resignierte: Die Dinge lösen sich allmählich auf, kam ihm in den Sinn, und wir uns mit ihnen. Klänge und Pausen.

Nach einigen Tagen hatte er einen Massnahmenkatalog entworfen, in dem festgehalten wurde, was noch zu erledigen war. Das hiess: was er noch tun konnte, von hier aus und im Rahmen seiner Möglichkeiten. Diesen war er nun bereit anzupacken, als er einsehen musste, dass es heute wieder kein Frühstück geben würde.

Er vervollständigte die vorbereitete Vermisstenanzeige und lud diese an ebenso vorbereiteter Stelle hoch. Dort hinterliess er auch einen codierten Hinweis darauf, wo er und das Werk zu finden waren. Nach einer gewissen Zeit, nach wenigen Tagen oder Stunden schon würde es von den Suchmaschinen gefunden und gefressen werden. Er hatte also nur einen kleinen Vorsprung.

Nachdem er auch dies erledigt und alle ihm zur Verfügung stehenden Daten in die Freiheit entlassen hatte, ging er in die Küche und schaltete die Herdplatten an, nahm dann Mantel und Hut von der Garderobe und prüfte sich in diesen vor dem Spiegel mit dem kleinen Holzelefanten. Er war mit seinem Spiegelbild zufrieden. Dann ging er hinaus, gingden direkten Weg zur Bushaltestelle und stieg dort ein in den nächsten Postbus Richtung Oberland.

Hier endet der Erzählstrang “Anna” der “biblioteca caelestis”. Bitte beachten Sie, dass es sich hierbei lediglich um eine erste, unkorrigierte Rohfassung handelt …

Noshowarea

(E19)

Nach zwei Wochen enthaltsamster Klausur hatte sich etwas zusammengebraut, nach unzähligen kombinatorischen Verschiebungen und Streichungen. Nach zwei Wochen hatte sich etwas kleines aufgestellt, was in seiner Statur noch auf wackligen Beinen ging, aber ja: von aussen ausschaute. Und von innen das Äussere zusammenhielt, so zumindest: ein Äusseres und Inneres und wichtig: eine allerdings absehbare Grenze der beiden Bereiche sich abzeichnete, sodass Benedikt nun endlich einen Gang zurückschalten konnte, wie er entschied, und ein kleines Brötchen ass, mit Blick auf den zurechtgezwirbelten Haufen Papier. Begleitet hatte er diese Arbeit des schreibenden Legens mit einem Schreiben über schreibendes Legen und am Ende ein Extrakt erzeugt, ein Schreiben zur Vorlage, eine Hülle, etwas, das sich orientierungsmässig anbot, über jüngst Vergangenes in knapper Manier Zeugnis abzulegen, angefertigt, was er jetzt mit einiger Sicherheit Dossier nennen konnte und wollte, das seinen Platz in der Welt zu suchen imstande war. Verständlicherweise hatte er dieses an seine allererste, verbliebene Adresse ausgerichtet, jemanden, der davon verstand und der sich auch dessen annehmen wollte und konnte. Dieser Jemand allerdings, Röhrling, war seit genau ebendiesen zwei Wochen unauftreibbar.

Dass er von ihm keine Antworten auf seine Mails bekam, damit konnte Benedikt noch leben, wusste er doch, dass der Alte kein Freund dieser Kommunikation in Konventionen eingekleideter Fakten war. Dass er diesem aber den Anrufbeantworter befüllt hatte in einer Umfänglich- und Welthaltigkeit, die man schon selbst Roman nennen konnte, dass daraufhin keine Rückmeldung erfolgte, im Gegenteil, sich die Option zu hinterlassender Nachrichten auf einmal verschloss und ihn seit kurzem nur noch eine Stimme mit der lapidaren Botschaft: Versuchen Sie es bitte zu einem späterem Zeitpunkt – abspeiste, das besorgte ihn doch ein wenig und Benedikt sah keinen anderen Ausweg mehr, direkten Körperkontakt zu avisieren.

Der fahrbare Showroom des Möbelherstellers brachte ihn dieses Mal nicht aus der Fassung und entschlossen stieg er ein ins hintere Abteil der Tram. Das Gastrauminnere war dünn besät, zwischen den Zeiten des Austauschs der Körper der Menschen privater in öffentliche Räume, sodann setzte sich Benedikt, halb legte er sich auf ein einladendes Chaiselonge und hörte in sich hinein: ob da noch wer war. Dort fand er nur: feist gewordenes Explorat dessen, was er auch schon als Druck in einer kleinen Mappe zwischen den Beinen gepresst hielt: ein Profipaket, formal ansprechend und auch den Gepflogenheiten angemessen – sein Dossier, das sich noch etwas in seiner Struktur wand, aber Exposé, Bemerkungen und unverzichtbar: ein Anschreiben, das sich gewaschen hatte.

Er ging es noch einmal in Gedanken durch, konnte aber nichts gravierend Falsches oder Änderungswürdiges finden. So in sich, hatte er beinahe den rechtzeitigen Ausstieg verpasst, eine Station vor der Destination, um vorher einer kleinen Weinhandlung ein Mitbringsel abzuknöpfen, so sehr schon Wohnzimmer, aber immer noch: just in time, sein Instinkt, auf den er sich verlassen konnte, riss ihn aus diesem Tagtraum heraus.

Unmöglich. Die Frau, die dort aus Röhrlings Hauseingang heraustrat und alsbald entschwand: Anna? Der Schritt: konnte ein Annaschritt sein. Das Kreisen der Arme: Annaarme. Aber: die Haare viel heller, so ersichtlich in diesem kleinen Schnitt, und diese Anna trug ein graues Tuch und nur ein paar Strähnen frohlockten im Wind. Und die Haut unter der dunklen Eulenbrille von stärkerer Bleiche, wie noch einmal schnell zur Seite erwähnt wurde. Benedikt hielt ein paar Schritte inne, um weiter zu beobachten bis sie sich um eine Ecke schickte, und dann zu verwerfen. Nieundnimmer: seine Anna. Auch die Nase passte nicht zu seinem Bild. Und seine Anna – war ihm noch nicht aus dem Kopf gegangen, wie diese: von dannen, nun wirklich um die nächste Ecke.

Die Haustüre war nur angelehnt, zwischen Türe und Schloss hatte sich ein kleines Schwämmchen verfangen. Wieder fielen ihm beim Aufstieg die Bilder im Treppenhaus auf, die Schnittblumen und Kräuter, kaum mehr Abbildungen, sondern mit einer Echtheit ausgestattet, wie sie sich nur durch ein spezielles Licht gebar, diese dennoch: in anderem Zustand, nicht mehr frische Wiesenschnitte, sondern peinlich getrocknete Abglänze ihrer Selbst, nicht mehr Idealform oder Idee, sondern Archiviertes, Abgeheftetes oder Zurkenntnisgenommenes. Geschichten. ZKg. Auch die Holzstufen begingen sich wie bemooster Waldboden aus dem letzten Jahrtausend, nach Pilzen roch es, essbar waren diese sicher nicht.

Auch nach dem dritten Läuten, das überraschenderweise eine charmante Tonkaskade produzierte, vernahm Benedikt keine Antwort. Nachdem er Licht gemacht und sich unschlüssig die Sohlen auf der Welcome-Fussmatte abgeklopft hatte, fand er das kleine Zettelchen, rückwändig hinters Glas mit Klebestreifchen fixiert: „Bin gleich wieder da …“

Warum nur liess dieser Mensch alles so offen?, dachte sich Benedikt, als er die Klinke drückte, diese nachgab und er in den Flur trat. Fürchtete er keine Verluste? Über- oder Abgriffe? Hatte er keine Angst vor dem Fremden, das sich jederzeit seiner bemächtigen konnte?

Ein satter Krautgeruch hing glockenförmig in der Diele und schien sich auch in die benachbarten Zimmer ausgebreitet zu haben. Röhrling! Benedikt räusperte sich zusätzlich und erhielt auch darauf keine Reaktion.

Im Büro roch es umso stärker nach Alter Mensch, sonst bemerkte er aber keine weiteren Auffälligkeiten. Bücher, Ordner, Manuskriptstapel, Utensilien. Alles lag im Grossen und Ganzen, wie es immer lag. Hatte seinen Platz gefunden. Und der Platz sich darauf eingerichtet.

Wohin mit dem Weinchen? Benedikt verspürte keine direkte Lust, diesen wieder mitzunehmen, fand schliesslich, als Geste war er diese Flasche Röhrling lange schuldig und beschloss ihn da zu lassen, ja, vielleicht mitsamt seiner Mappe. Sollte Röhrling doch sehen, dass jemand hier war und hinterlassen hatte. Fast schien es ihm so, als hätte er es darauf angelegt.

Die Flasche stellte er in die Mitte der Tischplatte, nachdem er diese ein wenig freigeschaufelt hatte. Auf die Schreibunterlage, zwischen Tintenklecksen und Bleistifthäutungen – vielleicht sollte er ihm noch eine kleine Notiz hinterlassen? Lieber Röhrling, ich bitte Sie mein Eindringen zu entschuldigen, aber … Undsoweiter.

Benedikt notierte. Brachte noch ein paar Anspielungen auf sein Manuskript unter, das er darauf, kaum übersehbar, an die Flaschenkante anschmiegte, sodass der Griff zu Wein oder Text nur eine Bewegung sein musste, und korrigierte abschliessend noch etwas den Winkel der Seiten zur Tischkante, bis dort Parallelität herrschte.

Was haben wir denn da? Ein Vertragsentwurf? Benedikt, von Natur aus neugierig, griff zu dem Blattwerk, fand aber, da es sich um einen geschlechtslosen Prototypen handelte, weder Zeitangaben, noch Namen, Beteiligte oder sonstige Informationen enthalten, die irgendeine genauere Auskunft über seinen Gegenstand gaben, ausser … er war weiter unten angekommen und erblasste: den Titel. Ein Buchtitel war schon handschriftlich eingetragen und es kostete Benedikt keine Mühe, diesen zu entziffern: bibliotheca caelestis stand da, in geschmeidigen Majuskeln.

Woher hatte Röhrling …? Wie kam Röhrling dazu, dieses Werk …? Benedikt überflog den Text weiter nach hinten, konnte sich aber nicht an den hohlen Phrasen und Textbausteinen reiben oder irgendeine weitergehende Präzisierung festmachen, bis er an einer Stelle hängen blieb und diese erneut begreifen musste:

… stellt für den Verlag Druckwerke auf Bestellung nicht her … verpflichtet sich gegenüber dem Verlag die Auslieferung des Titels unter allen Umständen zu verhindern … liefert dem Verlag Quartalsstatistiken über die Anzahl der aufgrund einer Handelsbestellung nicht hergestellten und damit unterdrückten Exemplare … nimmt für den Verlag die Titellöschung im Verzeichnis lieferbarer Bücher vor …

So etwas hatte er noch nie gelesen. Hier handelte es sich, wenn er richtig verstanden hatte, um einen Nichtveröffentlichungsvertrag im Kindstadium, und das irritierte ihn doch sehr. Wem galt dieser? Woher wusste Röhrling von diesem Titel? Hatte er ihm leichtfertigerweise davon erzählt? Benedikt kramte in seiner Erinnerung nach, konnte aber nichts entsprechendes finden. Ein Lufthauch durchzog die Wohnung und die Duftnoten „Alter Mann“ und „Krautsuppe“ vermengten sich zu einem unguten Gemisch. Benedikt sah dies als Zeichen. Rückzug, hiess es, und: raus hier, wahrscheinlich. Es musste alles auf anderem Wege geklärt werden. Und Zweifel nährten sich weiter, dass Röhrling überhaupt der Richtige war, sein Projekt anzunehmen und zu vertreten. Ein Mann, der solche Verträge in die Finger nahm? Vielleicht an einem Abschluss in irgendeiner Form beteiligt war? Hatte sich Benedikt von Anfang an so sehr in ihm getäuscht? Was für eine Rolle spielte Röhrling noch, in diesem ganzen Gefüge? Zügig packte er alles zusammen und versetzte den Schreibtisch wieder in seinen halbwegs ursprünglichen Zustand, dann schnappte er sich auch noch den Wein und verliess geduckt und auf Zehenspitzen die Wohnung.

Einträufeln, puffern

(E18)

Wo war zu suchen? Wo die Orte, wohin die Woge zu stellender Fragen? Wo sonst, wenn nicht hier an der Quelle, die sich jetzt und für immer für ihn verschlossen hatte? In diesem Städtchen, das sich selbst als Mutter jenes Raums gebärdete, als Makro, als duplizierte, überbordende Struktur seines einigen Horts. Gefühlsmässig, dachte Benedikt, und weiter: „Hausverbot!“ Und: „Hier gibt es keine Anna Soundso.“ „Hat es nie gegeben.“ Lügner! Löscher! Verbrecher!, hatte Benedikt geschrieen, als er nach dem peinlichen Verhör und der Preisgabe seiner Identität vor die Türe befördert wurde.

Die Raucher um den Pot hatten für einmal geschwiegen und ihr Kondensat vollständig gefrühstückt. Bedeutende Blicke wurden ausgetauscht, dann tuschelte es weiter. Dann eben nicht, trotzte Benedikt. Dann eben woanders, in Zukunft, dann eben dort, wo man sich nicht kennt, wo man unvoreingenommen auftrat, wo keine Machenschaften zu schaffen machten. Er würde sich, so einfach war das heute, eine blitzschnelle Leitung besorgen und von nun an allen Dingen von zu Hause aus und mit der Kleinstzelligkeit elektronischer Datenpäckchen auf den Grund gehen. Er würde sich Namen geben, wie sie die Welt noch nicht gehört hatte, würde Rollen und Kostüme erproben und in deren Gewand ein Dasein führen, dort und dort, und auch dort, gleichzeitig und barrierefrei. Und ohne Reue, selbstverständlich. Er würde, ohne Vorbehalte, sein – wie er war. Er und … noch hatte er nicht ganz aufgegeben, Anna wiederzusehen und mit ihr, ihr gemeinsames Ding durchzuziehen. Auch, oder gerade deswegen war ihm nun sehr wahrscheinlich: Anna war es ähnlich ergangen. Gefeuert, gelöscht und aufgelöst – im besten Falle – aber noch irgendwo vorhanden, und hoffentlich zu sich gekommen. Irgendwo da draussen in technischer Umgebung. Are friends electric. Und irgendwo an einem kleinen Ort mit ein paar Wänden und einer Decke. Wo war nur die Spur?

Die Idiotenrennbahn hatte ihn bei dieser Analyse klammheimlich aufgesogen und ihn weiter in ihren Bann gezogen, ohne dass er aus ihr herauszusteuern wusste. Die kleinen Geschäfte unter den Arkaden – er kam sich vor wie ein Leser, der entlang einer grellbunten Buchreihe schweifte, die Schaufenster: lebendige Buchcover, die ihn förmlich ansprangen und ihn hineinziehen wollten in ihren Text, die mit ihren eigenen Mitteln um seine Aufmerksamkeit kämpften, und den andern ökonomischen Umständen, dass er auch noch sicher den einen vor den anderen Fuss zu setzen hatte und aufzupassen: dass ihn der Gegenstrom der glasgesichtigen Shopper nicht rücksichtslos niedertrampelte und zermalmte.

Schon fand er sich in einer Lederwarenhandlung wieder und ein freundlicher Mensch tat ihm kund: heute war sein Glückstag, und: heute war ein guter Tag für Leder. Und dass es ihn wundervoll kleiden würde, dass er eigentlich der geborene Ledermann war.

Benedikt hätte es ihm beinahe abgekauft, konnte sich aber noch rechtzeitig, bevor er in eine Reihe eleganter Jacken gestiegen wäre – dann hätte es für Jahre kein zurück gegeben, und dies auf Raten -, wieder auf seine eigentliche Mission besinnen und fragte nach Anna. Haben Sie dies Person gesehen? Nein? Ich habe leider kein Bild von ihr dabei, aber ich beschreibe Sie ihnen gerne. Sie sieht so aus, und so. Und manchmal auch so. Haben Sie nicht? Das ist schade. Danke. Ich werde mich weiter umhören.

Auch der Optiker, der ihm ein 1A-Brillengesicht attestierte, konnte ihm nicht weiterhelfen. Und nicht die Buchhändlerin, die in ihren Novitäten unterging, und nicht die Apothekerin, die nur das Gelbe in seinen Augen sah, und andere Symptome, die sofort zu behandeln waren. Im Restaurant „Harmonie“ hatte man seinetwegen einen Tisch reserviert, schüttelte man aber doch den Kopf auf die Beschreibung Annas. War nicht da, so eine Person, und: so könnte ja jeder aussehen, man sollte da einiges präziser beschreiben können. Präzision. Sie alle wissen nicht, oder geben vor nicht zu wissen, dachte sich Benedikt, und doch gab er nicht auf, liess sich hineinreissen woimmer man auf sein Erscheinen drängte, hörte sich geduldig die Preisungen hauseigener und exklusiver Dienstleistungen an und fokussierte danach sein Gegenzug aber immer zielgenau seiner Suche und Bestimmung zu. Im Modehaus unterband sich ein Gackern hinter versteinerten Mienen. Ein Schreibwarengeschäft bot an, eine Vermisstenanzeige aufzusetzen und zu kopieren, und eine Mobilfunk- und Kommunikationscenterfiliale wollte ihn gleich unter Vertrag nehmen. Immer erreichbar sein, versprach man ihm viele Male.

So hatte sich Benedikt langsam durchs enge Magazin der unteren Altstadt, über den ausladenderen Transportparkour der globalisierten Markenhändler hinauf zum Bahnhofvorplatz, oder dem, was dort einmal entstehen sollte, gerungen. Hatte sich einen Namen gemacht und einen anderen gestreut, sass bald mit leeren Händen auf einem Bänkchen und verfolgte das Donnern der Pressluftmaschinen, der systematischen Plättung des Areals.

Und bekam das Starren. Auf einmal der starre Blick und ein schon bekannter Reiz. Die Augen stellten ihr Tränen ein, schwer zu entscheiden, ob wegen zu wenig zugesprochenem Trost oder aus einer anderen Unterversorgung heraus, und: der Lidverschlussvorgang harzte. Das Öffnen der Augen, vielleicht auch, weil es soviel Staub gab in der Luft – gelang nur noch mit grösster Anstrengung. Hinzukommend: die Müdigkeit. Die Kraft der Maschinen und Arbeiter, bald muskelnde Masse, bald nur noch Pfeil und Verschiebung, bald Schraffur und System vieler ihm noch unbekannter Zeichen, die sich geisterhaft in Ordnung hielten, bald für ihn sinnvolle, experimentelle Textur. Der gesamte Bauplatz dann: reine, grobe, trockene, kalte, laute Lektüre, die ihn immer mehr zu fesseln wusste,

Ist Ihnen nicht wohl? Ist Ihnen nicht gut? Ihnen ist schwindlig. Darf ich Sie stützen? Geht es Ihnen besser? Ich helfe Ihnen gerne über die Strasse. Passen Sie auf! Die Gleise. Hier, nehmen Sie, essen Sie etwas, Sie sehen hungrig aus. Und nehmen Sie einen tüchtigen Schluck hiervon. Sind Sie sicher, dass Sie wieder alleine … Und nehmen Sie das.

Der Beamte der Heilsarmee hatte sich rührend um ihn gekümmert, auch wenn das gar nicht nötig war, entliess ihn mit einem Mandelbärli, das er für solche Fälle immer in der Tasche führte. Nur raus aus diesem Staub und Lärm, hat er gesagt, hier kippen die Leute reihenweise um, die zulange stehen blieben. Dürfen Sie nicht zulange hinschauen, hat er noch gesagt, trocknen die Augen ein, wenn man nicht spezielle Linsen trägt, hat er gesagt, und: Gehen Sie jetzt nach Hause. Ruhen Sie sich aus. Das wird schon wieder.

Mit diesen Worten wurde Benedikt entlassen und gewassert, wieder den Strom entlang – den Hirschengraben hinunter.

Vor dem Badezimmerspiegel, nachdem er sich die Kuchenreste aus den Bartstoppeln gebürstet hatte, träufelte er sich die Salzlösung, zu deren Anschaffung er sich in der Apotheke hatte überreden lassen, in die Augenaussenwinkel, und siehe da: die Rötung verschwand, das Klappen und Klimpern der Deckel verlief widerstandslos und was er zu erkennen vermochte, war ums andere wieder: was tatsächlich war. Auch war die Lösung von recht würzigen Geschmack. Sie nährte ihn und gab ihm neue Kraft.

Nach einem kleinen Schläfchen und einem dicken Espresso setzte sich Benedikt an seinen Arbeitstisch und bilanzierte. Anna hatte er nicht gefunden, auch wenn er unkonventionellste, wenngleich die einzigen, ihm zur Verfügung stehenden Suchstrategien angewendet haben mag. Noch nicht. Aber er spürte, er war auf dem richtigen Weg. Hatte zumindest eine Möglichkeit gefunden, Herr über das Vorhandene zu werden. Mit fünf prallen Schuhkartons machte er es sich auf dem abgewetzten Parkett bequem, entdeckelte diese und begann gemächlich: zu sichten, zu ordnen und zusammen zu stellen. Liess einzelne Teile, die sich nicht fügen wollten, einzelne Teile sein, tat dies und arbeitete mit weit aufgerissenen Augen, solange, bis seine Organe um weitere Nährsalzlösung bettelten, dann wieder von vorne und aufs Neue und noch einmal. Er kam langsam voran. Etwas wuchs. Etwas verzahnte sich.

Myomorpha

(E17)

Diese Art Dornröschenwunder ohne Dornröschen. Mit Weissglut zwischen den Zähnen. Kleinflächenbrände in, an, um Leib und Seele. Die Bettwäsche: Leinwand der Fleische, aussen steif, hartgefroren, innen klamm, versiegende Glut, lachsfarben. Häutungen, stellenweise. Und Furchen: Faltenzüge, Striche, Gemetzelreste, Züge. Auch an Armen und Beinen und woimmerhin der Glaskörper sich richtete. Blendungen. Risse in der Membran. Sonne – Partikelstösse durch feinste Ritzen. Digitale Botschaften?

Wie lange hatte er geschlafen? Tage? Wochen? Monate? Oder zurück, mit dem Zeitrad gegen Uhrzeigersinn: sich verjüngt? Denn da waren fehlende Stellen und solche, die auf eine unkontrollierte Poetik seiner Memexzellen, Tätigkeiten hinwiesen, die ihm jetzt nur scheinen konnten. Und nicht sein.

Es gab aber auch ausdrücklich Spuren, die dafür sprachen, dass es tatsächlich war. Gewesen war. Ganz Greifbares: Haare beispielsweise. Nicht die Seinen. Und kleine Stofffetzen, beispielsweise – nicht die Seinen. Und anderes nicht Seiniges. Vieles sprach für eine astreine Präsenz.

Wenn Sie Fragen zu einem Ausleihvorgang haben, wählen Sie bitte die EINS. Für Informationen rund um unseren Bestand und dessen Verfügbarkeit, wählen Sie bitte die ZWEI. Benötigen Sie Hilfe bei der Recherche, wählen Sie bitte die DREI. In allen anderen Fällen, wählen Sie bitte die VIER. Dieses Gespräch kann zu Schulungszwecken aufgezeichnet werden.

Benedikt legte wieder auf, weil er sich bei keiner der angebotenen Optionen beheimatet fühlte. Sicher hätte er sich der Leitung VIER, dem sogenannten Staubsauger, anvertrauen können, fand aber, dass in Wedernochsituationen Persönlichkeit gefragt war, die im besten Sinne auch vollumfänglich vorhanden sein sollte. Ausserdem: er hatte sich geduscht, rasiert, gekleidet, gestrählt und duftete: und das sollte nun doch auch bemerkt werden, von den wenigen Bezugspunkten, denen er geneigt war. Und die Überwindungshürden geringer.

Die Hausmeisterin grüsste ihn freundlich, die Haustüre klappte sanft ins Schloss, die Gehwege ebneten sich ihm zu Füssen, die Geschäfte: erst im Begriff zu öffnen, gähnend, wie die Apothekerin – noch nicht ganz in ihrem weissen Mäntelchen. In den Trendwarenläden die Mädchen aber schon und wie immer: „sexy“, wie sie zwangsgelabelt wurden, und aufgekratzt wie Springmäuse. Die rauchenden Juristchen in spe noch nicht im Kreischen ums Aschetöpfchen versammelt, noch im Kampf und Getümmel um die besten Plätze in den Lesesälen, wo man sieht, aber nicht gesehen wird, noch hochmotiviert, grossmäulig nach dem dritten Kaffee, wie man hörte: vom ersten Untergeschosse herauf.

Aus den oberen dagegen, wieder, immer noch der Klangteppich fleissiger Dieselgeneratoren und anderer Techniken, die Rohstoffe in mechanische Akte und Energie verwandelten, die den Laden, wie Benedikt aufs zweite Mal abschätzte, am zappeln hielten, holpernd und tuckernd bisweilen, aber doch stabil.

Der rote Teppich allerdings war verschwunden, oder doch zumindest zur Seite geräumt, befand sich wohl im Austausch, wurde ersetzt, geflickt, gereinigt oder sonstwie aufgepimpt, die Treppenhaut: man sollte sehen, dass hier Veränderung stattfand, dass etwas floss, zum Guten, zu was denn sonst?

So war es auch die Aufgabe freigelegter Marmorplatten, Staub zu fangen, zu verschlieren, Fussabdrücke zu sammeln und zu vernetzen, um zu zeigen: auch hier Bewegung.

Mannigfaltige Bewegung auch in den Vitrinen. Auf Augenhöhe der Zeit und Winzigkeiten darüber verrieten sie den Geburtstag eines Grossschriftstellers mit Pfeife doch Wochen zuvor, gaben Hinweise auf potentielle, künftige Nobelpreisinhaber, waren also Teil des Ganzen, was sich nannte: vor Selbstspannung zitternde, strukturelle und gepflegte Öffentlichkeit, und das beruhigte. Beruhigte auch Benedikt, der gar nicht erst die heruntergeladenen Textbausteine zu den Jubilaren lesen musste, alle waren: mit ihrer Existenz versöhnt.

Was aber war im Katalogsaal passiert? Der Raum hatte sich seit seinem letzten Besuch verlängert. Und verbreitert. Neue Farben angenommen. Neue Gänge und Nischen ausgebildet. Weniger Nischen. An Gewicht verloren. Eine optische Täuschung, wie Benedikt sogleich entlarvte: Man hatte die Regale mit den papierenen Katalogkarten samt ihren Zylindern entfernt. Aufgrund eines „technischen Zwischenfalls“, wie es hiess, waren sie in Mitleidenschaft gezogen worden und befanden sich: woanders, da in solch einer Unvollständigkeit: nahezu unbrauchbar. Stattdessen waren die Raumränder anderweilig nützlich geworden. Waren Unterflächen blinkender Interfaces geworden, die zu locken und zu rufen schienen: Kumm man röwer, ick hebb ‘ne Birn. Oder: Just do it. Oder: Touch me, feel me.. Oder: Alles so schön bunt hier. Mit ihren Standardmasken und kaum zu übersehenden Eingabefeldern und Kohorten von Menues: Hilfetasten. Hilfetabellen. Hilfenummern und Hilfeadressen. Hilfe, wohin man schaute.

Die Person, von der sich Benedikt Hilfe versprach, war hingegen fast schon erwarteterweise nicht vorhanden. Auch die Auskunftsecke hatte sich in etwas anderes transformiert. Ein Beratungspool. Eine vollautomatische Dienstleistungsinsel mit Schnittstellen, Sprechstelen, Shortmessage-Modulen und ortskundigen Avataren, dazu winzige Membrane, die Fragen entgegennahmen oder mit jenen verbanden, wie sie sagten, die Antworten wussten: Auf alles, was Sie wissen wollen. Und wissen wollten es einige, denn plappernd waberte hiervor eine geschlossene Benutzergruppe, in gedämpfter Aufregung – die Auskunft aber: physisch quasi unbesetzt.

Wenigstens an der Ausgabe stelle liessen sie Fleisch an den Dingen. Subordinierte und als solche gekennzeichnete – „Ich lerne noch“ – mit Vornamenkärtchen und steilem Logo, die in gebrochenen Sprachen sprachen: etwas geknickt. Benedikt stellte sich an, und fragte, als er an der Reihe war, schüchtern: Darf ich Sie etwas fragen?

Nein, eigentlich dürfe man da keine Auskunft geben. Eine Auskunft in dieser Form, wäre vielleicht noch am ehesten an dem dort eigens eingerichteten Kompetenzcenter zu erwarten, und Informationen über Interna – man könne sich nicht vorstellen, nein, man wisse wirklich nicht … Anna Wiewardenngleichdername? … Man könne auch gar nicht solch einen Eintrag finden, auch nicht in der Personaldatenbank, wenngleich es da jüngst Löschungen gegeben habe, wie man gerade sehe, aber man müsse ihn nun bitten …

Benedikt konnte aus diesem Winkel auf dem plasmierenden Screen nur wenig erkennen, aber vielleicht hiess es doch hinter diesem Datensatz in einer Tabelle: ausgeschieden.

Der Lehrling klickte das Fenster weg, als Benedikt doch verwegen und immer zielstrebiger über den Counter glitt, wurde unsicher, bitte, bitte wenden Sie sich doch … Ich darf Ihnen wirklich keine weiteren Informationen dazu … Seine Finger fuhrwerkten unter der hellblauen Platte und fanden, wonach sie suchten, ein Schrillen im Bürobereich war zu vernehmen.

Geschmeidig schwenkten sich zwei bislang unbemerkte Kameras im Hintergrund der Ausgabestelle auf ihn ein und zoomten sich surrend an. Nur wenige Megabyte später eröffnete sich ein Sesam von Schiebetürenhydraulik und ihm drei wohl Bekannte. Der Abteilungsleiter in Festmontur schnaufte mit holzgesichtigen Schergen heran. Noch im Anweg wie Vorwurf auf den Lippen: Sie! Sie kennen wir doch! Sie haben wir doch schon einmal gesehen!

Nur ein lieblicher Flor

(E16)

Die Tram war ihm vor der Nase abgefahren. Dabei hätte er sie eigentlich mühelos erreichen können, wenn ihn nicht etwa eine Irritation verstockt und verstarrt hätte. Ein Werbergag eines Möbelhauses. Die Strassenbahn war innerlich mit weissen Vorhängen und einem Sortiment von Hockern, Sesseln, Bänken und Sofas ausgestattet, das reichlich besessen war, von den kleinen Angestellten mit den dicken Überstundentaschen, die sich alle versteckten hinter Gratiszeitungen, wie es sie hier im Dutzend gab. Benedikt wusste also zunächst nicht so recht, womit er es bei diesem Gefährt zu tun hatte. Eine Sonderfahrt? Ein Dreh? Versteckte Kamera? Erst als es sich ihm von hinten präsentierte mit dem Schriftzug: Nächster Halt – Ihr Wohnzimmer, fiel bei ihm der Groschen, doch da war es schon zu spät.

Ganz und gar nicht zu spät war es aber für einen Schlummertrunk, und bedauerlich fand es Benedikt, dass Röhrling ihn schon hinausgeworfen hatte, aus bestimmt anderen Gründen, als den vorgegebenen – aber das war seine Sache.

Auf einem Bein stand sichs schlecht, und auf dem Rückweg zu Fuss, entlang der klirrenden Gleise, ausgeschert an einer Stelle und in ein Weinhaus eingekehrt, das er schon lange einmal aufgesucht haben wollte. Ein Sprichwörtliches. Ein Trauriges. Trauer gewordene Trinkhalle. Wirklich zum Weinen also, wie sich schon nach Eintritt feststellen liess. Die verschobenen und versumpften Gesichter. Pockennarbige. Aufgedunsene. Eine Männergesellschaft in vollständiger oder teilweiser Vereinzelung. Benedikt machte wieder auf dem Absatz kehrt, als er noch das Dukeboxgedudel, dass es so etwas noch gab?, im Hintergrund entzifferte. La Paloma.

Lieber noch ein kaltes Bier und etwas Klares, das zischte, dachte er sich, schlenderte er entlang der Fassaden sogenannter Welt, den Bettenhäusern, Modediscountern, Schnellimbissen heimwärts in die Küche zu etwas Reellem. Zu einer Auslage, die Einlage war. Zu Naturtrübem und seinem Pendant. Zu Ruhe und versöhnlichem Schnurren der Maschine, die auch in geschlossenem Zustand Kälte abstrahlte.

Eine Stunde, zwei Stunden, und ein paar gelöste und nichtgelöste Fragen einer Quizshow, und etwas Zahnpasta, und ein paar Seiten eines klugen Buches. Die Lücke, die der Teufel läßt. Leben. Bestandsaufnahme in appetitlichen Portiönchen, die Hals und Atemwege verstopfte. Benedikt war ein wenig neidisch. Könnte er doch so schreiben und sammeln und verknüpfen und verschalten. So, so und so ungefähr hatte er es sich vorgenommen, musste es aussehen, so, nur so war alles auszulegen. Dann schob er das Buch zurück in die Ecke und zerstörte dabei ein Spinnennetz. Soll es doch neu gewoben werden. Soll es doch eingewoben werden. Du hast viel Zeit, Arachne. Soll es doch dort mit der Wand verschmelzen. Zog sich, am Ende dieses Gedankens, wie lange dauerte dieser? Eine Stunde? Zwei Stunden? Mehr? – ein Speichelfaden, Unterlippe, Bettkante, über die rechte Hand, die dies seltsam fand und ihn weckte.

War da ein Schatten am Fenster? War das Fenster selbst Schatten? Bewegung? Verzug? Schwer auszumachen bei dieser Beleuchtung, die gegen Null ging. Und doch hell genug war, das Fenster zu spiegeln. War es selbst aber gespiegelte Bewegung seines sich räkelnden Körpers. Wie spät war es? Die Balkontüre, den Austritt hatte er offen stehen gelassen. Liess er Luke sein zu seinem Schlag. Stand da jemand?

Das Wesen, das sich da langsam auf ihn zu bewegte, schien an den Rändern etwas ausgefranst, zumindest bildete es keine Konturen aus, umriss nichts, nur ihn, mehr und mehr, wie er anfing über es zu spekulieren: Ohne Zweifel – ein weibliches Wesen. Frau. Traumfrau – wie von seiner unzimperlichen Phantasie zurecht imaginiert, dunkle Haare, Haargold, wer – nun, es war Anna, musste es sein, oder: ihr Gegenteil, das sich mit ihr auffüllte, ihren Umriss austarierte, bald seinen Schleier verlor, sodass nicht zuletzt: sich Brüste abzeichneten unter dem Flor. Vorhöfe. Bedeutungen. Kniekehlen, die bald an ihm rieben, als sie sich auf ihn zu bewegte, oder war er es etwa, der ins Gleiten geriet? Schweigend. Atmend. Im Gegenrhythmus. Dann wieder gleichsam. Sich Häute deckten, ineinander übergingen und verschmolzen, dann wieder teilten und so fort, bis das Licht zu flackern begann, so kam es Benedikt vor, bis aller Atem verbraucht war und nur noch Vakuum in diesem Zimmer. Und keine Ecken mehr. Muscheln. Wölbungen. Rundes. Dann wieder Stockdunkelheit. Flüssigkeiten. Plätschern. Schweiss. Anderes. Undsoweiter.

Da lagen sie noch eine Weile, immer noch schweigend, immer noch auf anderen Ebenen unter diversen Decken. Immer noch hektischen Herzens. Nur beide vollständig und ganz anderes.

Das war das eine. Ein anderes: Können wir reden? Anna! Scheinanna, schwieg weiter beharrlich, aber lächelnd bei näherer Betrachtung, zumindest soweit erkennbar. Und schweigend.

Ich wollte dir noch einen Vorschlag machen. Vielleicht. Vielleicht wäre es besser, wenn es dir lieb ist, wenn dir dein Leben lieb ist, wenn du all das nicht verantworten magst, möchtest, in deinem Namen … Ich gäbe meinen. Vielleicht fühltest du dich dann sicherer.

Anna drehte sich um ihre eigene Achse, suchte nach ihrem Schleier, zog ihn an sich. Und dann möchte ich dir noch etwas zu Röhrling sagen, begann Benedikt erneut. du erinnerst dich? Der Alte, von dem ich sprach. Hat einiges an Erfahrung. Vielleicht auch in solchen Dingen. Könnte uns, könnte dir vielleicht helfen. Möchtest du, dass ich dich mit ihm bekannt mache?

Anna erhob sich. Stieg in das seidene Zelt, erst ein Bein, dann das andere. Strich es weiter an den Beinen hoch mit beiden Händen, dann über Hüfte, Gesäss und den Bauch mit der kleinen Beule. Bald den Oberkörper, sodass sie wieder nur Wesen war. Unbestimmbarkeit, mit etwas Kopf.

Was ist los mit dir, Anna? Benedikt versuchte sie festzuhalten, konnte nichts greifen, nur ein Stückchen Stoff, doch das Material glitt ihm durch die Finger. Widerstandslose Anna. Gib mir eine Antwort. Doch diese schwebte zur Tür und davon, hinaus in den Nachthimmel. Benedikt liess sich zurück ins Bett plumpsen. Stocherte, suchte blind nach einer Flasche Wasser, einen Fetzen, der ihm Handtuch sein konnte. Dann knipste er sein Nachttischlämpchen an und schaute auf die Uhr.