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(E20)
Werfen wir, bevor wir Benedikt verlassen, noch einen letzten Blick auf sein zurechtgemeistertes Schicksal, dem wir viel abgewinnen könnten und profitierten, würden wir daraus nur die richtigen Schlüsse ziehen.
Mit seinem neu installierten und nun optimal funktionierenden Breitbandinternetzugang versetzte sich Benedikt in die Lage, nie und nimmer mehr seine Wohnung verlassen zu müssen. Theoretisch. Er wusste sich eigentlich stationär mit allem zu versorgen und konnte sich auch hie und da an einen anderen Ort in ein zweites Leben bewegen, ein Leben, in dem es für alle erdenklichen Situationen einen Deleteknopf gab, auch er selbst war bald geübt sich ein ums andere Mal auszulöschen, um den Preis der Reinkarnation, freilich: in andere Zeichenketten, in Bilder, in lange Reihen aus Nullen und Einsen.
Für das leibliche Wohl war rund um die Uhr gesorgt, denn die wichtigsten von ihm sonst frequentierten Läden lieferten ohne dämliche Rückfragen schnell und bequem über Onlineshops aus, und es hatte sich bei diesen herumgesprochen, dass angelieferte Waren durch einen dunklen Schacht auf der Rückseite des Hauses zu schieben waren, was ihm eine persönliche Begegnung mit Übermittlern ersparte.
Die Fensterläden seiner Wohnung waren halb heruntergezogen und manchmal in Gänze, denn ob Tag oder Nacht: was spielte das für eine Rolle? Noch immer, wenn auch sporadisch begleitete ihn aber die Idee einer Luftbibliothek, und dann und wann trieb es ihn zu Versuchen, diese sichtbar zu machen für wenige Sekunden, aber das Verlangen liess nach, allmählich und auch der Antrieb diese weiter mit Arbeit zu verfeinern. Dies auch, weil er in einem Anfall genialischen Schaffens diese um eine Proposition erweitern konnte: Eine nur konsequente Ableitung, die da lautete: natürlich musste alle Rezeption auch in dieser aufgenommen werden, automatisch, war alle Rezeption selbst ebenfalls Produktion und sei es nur im Abtasten von Text, selbst bei der Überspringung war Geist am Werke und möglicherweise messbar.
Mit der Einsicht in diese Konsequenz konnte er sich allein der Lust der Zeichen überlassen ohne diese jemals berühren zu müssen, was ihm wiederum jede nur vorstellbare Zeit schenkte. Zeit, wohin er blickte. Zeit. Und was das Denken mit Löchern und über diese anging, und ob jene auch angemessen gespeichert wurden nur dieser Punkt war für ihn noch nicht gelöst und gab ihm dann und wann etwas zu knapsen.
Ungelöst blieb auch weiterhin der Fall Röhrling. Zwar hatte sich Benedikt angeschickt, das eine oder andere Mal Kontakt mit ihm aufzunehmen, aber erfolglos. Und so liess auch das Interesse mehr und mehr nach, dessen Identität und Wahrheit zu beweisen. An einem anderen Tag hatte Benedikt das Gefühl, Anna im Netz wiedergetroffen zu haben, selbstverständlich trug sie dort einen anderen Namen, nannte sich Luna66 oder ähnlich. So genau wusste diese Person immer, wovon er sprach und die Rede war, auch Dinge, die nur Anna wissen konnte, benannte diese in einschlägigen Foren. Und zu verdächtig waren die Fragen zu seiner Person, egal, wie er just heissen mochte und was geschehen war, alsdass es sich hier um eine Unbedarfte handeln konnte. Nach weiteren Nachforschungen sowie der Bestechung von Providern, nach der Auskunft und im Strudel verwirrlicher IP-Adressen und Aufenthaltsorte der Person, wurde ihm auf einmal klar, dass er es mit einer ganzen Menge verschiedener Einheiten zu tun hatte, die sich um ihn bemühten und er brach den Kontakt mit Anna/Luna ab und besuchte fortan nur noch harmlose Seiten.
Als Benedikt sich nach einer kleinen Phase der Konsolidierung wieder einmal auf heissem Pflaster bewegte, wurde wenige Tage später an seinen Fensterläden gerüttelt und geklopft. In der Nacht. Oder war es am frühen Morgen? Sicher. Es konnte auch ein Anlieferer sein, der den neuerdings eingerichteten Pincode zu seiner Warenschleuse vergessen hatte. Aber wusste man es? Oder die unter der Laterne wie arglos wartenden Menschen mit ihren dunklen Sonnenbrillen, die ausschauten, wie bestellt. Was wusste man also?
Solche Ereignisse mehrten sich und Benedikt drängte es, zog es hin zu einem externen Ratschlag von Bekannten, halbwegs internen Seelen, die nicht nur das waren: Erzeugnisse von Programmen mit einer gewissen Zufälligkeit. Noch einmal suchte er die Nummer Röhrlings heraus, kramte lange und fand sie schliesslich in einer vergessenen Agenda, in seinem Telefon hatte sie vor Unzeiten schon einer Horde nützlicher Dienste Platz gemacht, und wählte. Freizeichen. Freizeichen. Und Freizeichen. Und Besetztzeichen.
Also ist etwas geschehen am anderen Ende der Leitung, immerhin, sodass Benedikt neue Hoffnung schöpfte auf ein klärendes Gespräch in mancherlei Hinsicht. Aber als er wieder und wieder wählte und sich das Schema der Tonsignale nicht mehr veränderte, gab er auf, resignierte: Die Dinge lösen sich allmählich auf, kam ihm in den Sinn, und wir uns mit ihnen. Klänge und Pausen.
Nach einigen Tagen hatte er einen Massnahmenkatalog entworfen, in dem festgehalten wurde, was noch zu erledigen war. Das hiess: was er noch tun konnte, von hier aus und im Rahmen seiner Möglichkeiten. Diesen war er nun bereit anzupacken, als er einsehen musste, dass es heute wieder kein Frühstück geben würde.
Er vervollständigte die vorbereitete Vermisstenanzeige und lud diese an ebenso vorbereiteter Stelle hoch. Dort hinterliess er auch einen codierten Hinweis darauf, wo er und das Werk zu finden waren. Nach einer gewissen Zeit, nach wenigen Tagen oder Stunden schon würde es von den Suchmaschinen gefunden und gefressen werden. Er hatte also nur einen kleinen Vorsprung.
Nachdem er auch dies erledigt und alle ihm zur Verfügung stehenden Daten in die Freiheit entlassen hatte, ging er in die Küche und schaltete die Herdplatten an, nahm dann Mantel und Hut von der Garderobe und prüfte sich in diesen vor dem Spiegel mit dem kleinen Holzelefanten. Er war mit seinem Spiegelbild zufrieden. Dann ging er hinaus, gingden direkten Weg zur Bushaltestelle und stieg dort ein in den nächsten Postbus Richtung Oberland.