Ainda tem sopa

(E15)

Und? Röhrling sah in prüfend an, als er den Rest des Glases leerte. Ganz ausgezeichnet, gab Benedikt zurück, Sie hatten recht, er wird von Mal zu Mal besser. Gewichtiger. Umfangreicher. Aber auch gehaltvoller, ergänzte Röhrling nuschelnd. Ganze fünfzehn Prozent – Tendenz steigend. Schauen Sie sich meine Zunge an. Benedikt warf einen kurzen Blick auf Röhrlings zahnlose Luke. Der Rachenbereich war bei diesem Licht ein violettes Loch, dachte Benedikt. Röhrling schnalzte und setzte sich wieder die Gebisshälften ein. Entschuldigen Sie diese Angewohnheit. Aber bei so einem Tröpfchen kommen die mir immer etwas überflüssig vor. Nehmen wir noch einen?

Röhrling reichte ihm eine weitere Flasche und hiess ihn diese zu öffnen. Herdade das Servas. Reserva. 2003. Vinho Regional Alentejano las er auf dem Etikett. Dann streifte er das knisternde Seidenpapier vollständig von der Flasche, knüllte es zusammen und schnippte es zu der anderen Kugel aufs Tablett, wo es sich wieder geräuschvoll aufplusterte. Sprechen Sie portugiesisch? Benedikt verneinte trocken und entkorkte. Ich auch nicht, lachte Röhrling. Und sicher weiss ich auch nicht viel mehr von Weinen als Sie. Im Grunde weiss ich gar nichts. Aber, man sollte zumindest bereit sein, eine eigene Meinung zu bilden. Das fängt auch mit der Sprache an. Man muss sich da auf sich selbst verlassen können, gerade, wenn nichts greifbar ist. Darum habe ich Ihnen meine Zunge gezeigt. Ein gutes Gedächtnis schadet natürlich auch nicht. Dieser hier wird von einem winzigen Unternehmen gekeltert, das schon seit dem 17. Jahrhundert produziert, habe ich mir sagen lassen. In Eichenfässern aus Frankreich. Fragen Sie mich bitte nicht, warum das so ist. Und nun? Bemerken Sie den Hauch von Kakao?

Wenn Sie nichts davon verstehen, wie können Sie dann noch auswählen, vor allem bei so einem Rummel wie auf einer Messe.

Sie fragen nach meinen Kriterien? Ich habe gar keine. Röhrling schlug sich verschmitzt auf die Schenkel. Ich koste mich durch. Und lasse mich von lauten Vertretern aushalten. Nun ja, man muss Ihnen ein Ohr leihen, muss Ihnen das Gefühl der Wertschätzung und Bedeutung vermitteln. Dann vertröste ich sie auf einen späteren Besuch und gehe zum nächsten. Nun ist mir ein Stand aufgefallen, an dem zwei äusserst vergnügte Herren standen. Sie machten den Eindruck, als wollten sie gar nichts verkaufen. Als hätten sie das gar nicht nötig. Und schienen sich doch prächtig zu amüsieren. Ernsthaft: sie wirkten, als wollten sie einfach nur dabei sein. Ausser Konkurrenz, sozusagen. Das hat mich angezogen. Die selbstbewusste Konkurrenzlosigkeit, die von den beiden ausströmte. Sehr freundliche Herren, wie sich dann herausstellte. Haben mit mir gleich eine ganze Flasche hiervon ausgetrunken. Und ich dachte noch: das ist aber bestimmt nicht sehr professionell.

Röhrling wusste noch weiteres von seiner Begegnung zu berichten und wie es dazu kam, dass er sich letztlich zwölf Kisten dieses Jahrgangs in den Keller hatte stellen lassen, dann wurde er etwas nachdenklicher und kam auf die Textur des Weines an sich zu sprechen, auf die Zunge als einzigartige Leserin, den Geist und seine Speicher.

Wenn wir trinken, führte er weiter aus, unternehmen wir Deutungsversuche. Aber die Bedeutung? Röhrling hatte sich einen kleinen Schluckauf zugezogen, gegen den er etwas anzukämpfen hatte. Wie alles andere auch! Das tatsächlich Vorhandene, oder in diesem Falle: War diese nicht schon vor der Beere da, bevor sie zertreten wurde? Genau! Ich meine die Vorschriftlichkeit, kam Röhrling seiner Unterbrechung zuvor. Wie ist es damit? Da bräuchte man eine ganz andere Zunge. Verstehen Sie? Nein, das muss schon ein ganz anderes Organ sein, als es eine Zunge ist. Etwas, das auch noch das Kleinste durchdringen könnte, bevor es sich darüber legte und einschloss.

Benedikt vermochte den Ausführungen des Alten nicht mehr so recht folgen und befürchtete, dass das Gespräch nun einen unangenehm esoterischen Verlauf nehmen könnte.

Röhrling stellte sich einen Schemel zurecht und lagerte darauf sein rechtes Bein. Wieder fiel Benedikt die eigentümliche Bekleidungspraxis Röhrlings auf, nun ganz deutlich: lugte eine graue Cord- unter einer blauen Jogginghose hervor. Weste und Hemd dagegen wiesen sich allerdings geschmacklich und auch sonst in passablem Zustand. Im Grossen und Ganzen schien ihm Röhrling heute in einem etwas gepflegteren Zustand, auch wenn es in seiner Wohnung etwas muffelte.

Ehe Röhrling weiter referieren konnte über die Weinwelt als Sprachwelt, wobei er sich in ersterer nur als Besucher fühlte, und die Weinwelt als Sprachwelt, wobei sich erstere ihm glücklicherweise als eine nichtnationale präsentierte, wie er betonte, und er auch sonst weitere Unterscheidungen aber auch Vergleiche machen wollte, zu diesem und jenem zu einer Bemerkung imstande war und möglicherweise noch zur Transzendenz all dessen stossen sollte, konnte sich Benedikt einklinken und ihm endlich von seinem heute Erlebten, jener unerhörten Begebenheit, Auskunft geben, die ihm immer noch sehr auf dem Herzen brannte. Röhrling unterbrach ihn wider Erwarten nicht, und so verlor sich Benedikt in eine etwas unsortierte Rede über den Zusammenbruch des Bibliotheksgeschäfts, Annas Verschollensein und ihre fragwürdigen Ansichten und Theorien, die er zu seiner Überraschung aber gerne und besser und besser zu verteidigen mochte. Am Ende lag ein krummgewuchertes Gewächs von Informationen, Vermutungen und Spekulationen zwischen ihnen, sodass Benedikt kaum mehr über dessen oberen Rand zu Röhrlings Sofaecke zu schauen vermochte, also machte er hier erst einmal einen Punkt.

Das musste ja irgendwann einmal passieren. Wie bitte? So ein kleiner Büchergau, spöttelte Röhrling. Ich verstehe Sie immer noch nicht recht, entfuhr es Benedikt, der sich nicht für voll genommen fühlte.

Selektion! Natürliche Selektion! Oder glauben Sie etwa, sie könnten so einen aufgemotzten Zustand auf ewig halten? Nichts ist da ewig. Fast nichts. Wie sollte man denn das alles auch tradieren. Am Ende wäre man nur noch mit dem Durchreichen beschäftigt. Das Leben geht weiter. Nicht? Tradieren. Radieren. Verstehen Sie? Und zum anderen: Wie hätten Sie denn gehandelt, wenn da ein Wildfremder in so einer unübersichtlichen Situation sich verdächtig verhielte? Am Ende gar ein Saboteur. Nein, versteifte sich Röhrling, das ist mir doch alles sehr nachvollziehbar. Die Gedanken ihrer kleinen Freundin allerdings … Röhrling wurde nun etwas despektierlich, fand Benedikt. Das Hirngespinst ihrer Bekannten, korrigierte sich Röhrling, als hätte er Benedikts Gedanken erraten, und lehnte sich etwas zurück, zog auch das andere Bein auf den Schemel. Nun ja. Vielleicht mag da etwas dran sein. Theoretisch, meine ich. Aber überlegen Sie mal: Wäre es denn wirklich gesund, alles, alles sichtbar zu machen. Schon so eine Willensäusserung ist da vielleicht nicht ungefährlich.

Ich bin etwas hungrig. Mögen Sie auch etwas Suppe? Kürbissuppe? Die Zutaten habe ich mir gestern auf dem Markt gekauft. Es ist noch genug da. Benedikt war mit den Brotscheiben, von denen er sich zwischen den Gläsern reichlich bedient hatte, sehr zufrieden, und weil er vom Wohnungsgeruch auf die Suppe rückzuschliessen begann, verzichtete er freundlich aber bestimmt und liess Röhrling in die Küche schlurfen.

Wie sehr oder wie weit hatte er sich schon mit Anna, nein, mit ihrer Arbeit vermengt? Wie stark hatte sich schon seine Perspektive auf die Dinge verengt, sodass er eine Grundlage, oder wie er es nennen würde: den Ausgangspunkt seiner Beobachtungen, einer Art mitfühlenden Objektivität, mittlerweile verlassen hatte. Hatte Röhrling vielleicht Recht und er spielte mit dem Feuer ohne dies zu ahnen? Als sich Röhrling wieder zu ihm gesellte und zu schlürfen begann, versuchte er die Diskussion in eine eher harmlose Richtung zu verschieben, sprach über seine Fortschritte bei der Materialsammlung, improvisierte ein paar Lesarten des letzteren und wurde auch sonst nicht müde, weitergehende Schreibversuche anzusprechen, sodass Röhrling an manchen Stellen zu glucksen begann, an anderen wiederum die Stirn runzelte, ihn immer aber mit Interesse begleitete. Als nur noch Suppenstreifen ein bizarres Muster an Rand und Boden des Schälchens zeichneten, brach sich Röhrling ein Stückchen Brot ab und strich den Rest zusammen, ass den Brocken mit einem schnellen Haps und liess den Löffel mit lautem Geklapper ins Gefäss fallen.

Ihre Arbeit in Ehren, lieber Benedikt, ich sehe, wie hier einiges langsam Gestalt annimmt und bin fast versucht zu sagen: Sie sind auf dem richtigen Weg. Aber: Haben Sie das auch schriftlich? Haben Sie das dabei? Vielleicht lassen Sie mir ein paar Seiten da, damit ich in aller Ruhe …

Nichts hatte Benedikt dabei. Und das bereute er jetzt doch sehr. Ich kann gerne und jederzeit etwas vorbeibringen. Es wäre mir eine grosse Ehre … Na, es ist wohl doch etwas spät geworden, bremste ihn Röhrling mit einem Fingerzeig auf die Wanduhr. Haben Sie nächste Woche um diese Zeit etwas vor? Ich kann zwar noch nicht versprechen, dass ich tatsächlich da sein werde, aber fassen wir das mal ins Auge: Rufen Sie mich noch einmal vorher an, Benedikt.

Als sich Benedikt im dunklen Flur seine Jacke an der Garderobe ertastete und sich anschickte die Wohnung zu verlassen, hielt ihn Röhrling am Ärmel fest. Ich habe das vorhin übrigens sehr ernst gemeint. Ihre Suche nach einem Feinstoffdecodierer, oder wie immer Sie das nennen mögen: Lassen Sie da die Finger davon. Daran haben sich schon ganz andere die Zähne ausgebissen. Wer? Wer war das? Wer zum Beispiel? Haben Sie da Hinweise? Benedikt spürte seinen Puls in die Höhe schnellen. Sie sind alle wahnsinnig geworden, entgegnete Röhrling und senkte seine Stimme. Und denken Sie noch einmal scharf darüber nach: Nur einmal angenommen, solch ein Medium würde gefunden werden – würde seine Entdeckung nicht sofort eine Erschütterung mit einer Sprengkraft katastrophalen Ausmasses freisetzen? Gehen Sie jetzt, raunte Röhrling, dann machte er im Treppenhaus Licht, schob Benedikt hinaus und verschloss hinter ihm die Türe.

Im Schatten des Körpers des Kaders

(E14)

Röhrling konnte ihn ein wenig beruhigen. Nieder mit der Aufregung, war eine seiner Ansagen. Es gab tausend Gründe für das plötzliche Verschwinden Annas. Und tausend mehr, sich deswegen nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Denn, was wollte er eigentlich?: eine geschätzte Verbindung, die auf keinerlei Verpflichtungen, denn auf theoretischen Austausch beruhte, die sich nicht aber auch praktisch in Luft auflösen konnte – das wäre wohl doch des Guten zuviel und sehr wahrscheinlich für Benedikts Vorankommen denn auch eher schädlich als nützlich. Er sollte es einfach als etwas Gegebenes hinnehmen. Nun war bei ihm sicherlich kein Handlungsbedarf, geschweige denn Schuld für dieses Verhalten, wenn es denn überhaupt ihr eigenes war, zu suchen. Regen Sie sich also bitte wieder ab! Kommen Sie doch lieber wieder einmal bei mir vorbei und erzählen Sie mir etwas Neues. Gerade ist mir ein feiner Portugiese angeliefert worden. Ein Messeschnäppchen. Den sollten wir unbedingt zusammen verkosten.

Was Benedikt an Röhrling so schätzte, war sein Sinn fürs Praktische, der ihm zugegebenermassen selbst des öfteren abging. Er tat also, wie von ihm vorgeschlagen, wartete noch zwanzig Minuten und war dann bereit, die Reste des Picknicks und alles andere, was sich mittlerweile über die Bank verstreut hatte, zusammenzupacken. Der Augenblick war auch von der Rückkehr der Gassenküchler begünstigt, die nun wieder genährt und voller Tatendrang an das Örtchen zurückkehrten, sodass die Szene alsbald wieder unübersichtlich wurde.

Annas Sandbuch, wie er hoffte, war tatsächlich nicht in der Tasche, stellte er fest, als er diese ein weiteres Mal auf den Kopf gestellt hatte. Und auch beim zweiten Blick in den Ordner wurde er nicht besonders schlau aus seinem Inhalt, den er aber doch noch einmal etwas genauer unter die Lupe nehmen wollte. Ausdrucke von E-Mails, ganzen Konversationssträngen, Sitzungsprotokollen, Dokumente eines Unternehmensstrukturwandels, wie es hiess, aber kaum zuzuordnen, um welches es denn da ging. In fast allem herrschte ein aseptischer Ton vor, der jedwede Konkretion verunmöglichte, so zumindest für ihn als Aussenstehenden. Allerdings gab es bisweilen wie eingestreute Korrespondenzen, die mit dem Gesamt der Unterlagen kaum etwas zu tun haben konnten. Eine rührige Absenzmeldung. Ein privater Rücklauf, der den Fund eines Geldbeutels auf einer Damentoilette annoncierte. Ein komisch gedachtes Schreiben, das auf eine Fussballwette verwies. Eine Entrüstungsnotiz, die forderte, mit persönlichen Anliegen sollte doch nicht eine ganze Division behelligt werden. Meldungen und Abmeldungen von Unbotmässigkeiten der Systeme. Kaputte Telefone. Abzugebende oder zu verschenkende Materialien. Es war für ihn ein unsortiertes Gros, ein durcheinander von Geräuschen zweier Welten, die sich da wechselseitig, nolensvolens durchdrangen in dieser Räumlichkeit, aber kaum dieselbe Sprache sprachen, Parallelgesellschaften, die nur ab und zu aufeinander zeigten, und dieses: nicht völlig frei von ironischen Kadenzen, wie Benedikt zu spüren meinte.

Vereinzelt jedoch waren Abschnitte und kleinere Elemente der einen wie anderen Welt mit Leuchtstift markiert worden. Und diese betrafen Stellen, so las Benedikt bald heraus, die seltsamerweise nie der Kern einer Aussage betonten, sodass man in deren Bearbeitung wohl weniger eine rationalisierende Massnahme erkennen durfte, sondern die höchstens in einer phrasalen Art und Weise auffällig waren, die den sie umkreissenden Gegenstand lediglich zu wittern verstanden, diesen aber niemals zu benennen gedachten. Was war mit so einer Arbeit bezweckt worden. Worauf hatte man hier geachtet? Was hatte sich Anna dabei gedacht, wenn es sich hierbei überhaupt um ihre Blattsammlung handelte?

Seis drum. Benedikt hatte gelernt, sich nicht allzu lange an solchen Steinbrüchen aufzuhalten – sie konnten alles bedeuten. Und nichts. Er würde sich dieser, um sich von der Last der Hinterlassenschaft zu befreien, wie angeraten an Annas Arbeitsplatz entledigen und dann, worauf er sich nun doch etwas freute, mit Röhrling einen heben.

Schon von weitem konnte er erkennen, dass etwas nicht in Ordnung war. Benutzer verliessen mit hängenden Köpfen das Haus durch das Portal. Die Rauchergruppe stand verdoppelt und wild gestikulierend um einen Mülleimer, und verstopfte wie ein Gerinnsel den Laubendurchgang vollends, sodass Benedikt diese umgehen und von einem anderen Flügel her angreifen musste. Es war beinahe unmöglich gegen den Strom der Abgänger anzukommen – die Besucher wurden von einem irritierten Personal hinausgebeten und geleitet, und er durfte auch nur zurück ins Gebäude, weil er auf die Frage, wie er seinen Zugang rechtfertigen wollte, mit dem richtigen Passwort bestätigte.

Noch einige wenige kamen ihm im Treppenhaus entgegen, gestützt, tastend an den Handläufen – dunkel war es, und die elektrische Versorgung offenbar unterbrochen. Von den höhergelegenen Stockwerken brummten und tuckerten die Notstromaggregate. Diesel lag in der Luft, meinte Benedikt zu riechen, und zog sich sogleich ein Taschentuch und hielt es vorsorglich vor die Nase. Im Katalogsaal herrschte dagegen Hochbetrieb. Die Angestellten flitzten, wie von unsichtbaren Mächten gesteuert, mit Mundschutz durch den Raum und machten sich an den Terminals zu schaffen oder versuchten die Übriggebliebenen, die sich krampfhaft an Zettelkästen festklammerten erst freundlich, dann unter Einsatz sanfter Gewalt das Haus zu verlassen zu bewegen.

Bitte kommen Sie morgen wieder oder in den nächsten Tagen. Wir haben hier ein Problem. Dabei fühlte sich Benedikt scharf von hinten unter die Achseln gefasst und so zur Umkehr bewogen – von zwei kräftigen, jungen Männern in Securitymontur. Sein Ansinnen prallte an dieser Firewall sang- und klanglos ab und nur die Versicherung, eine Angehörige halte sich hier auf und war zu retten, lockerte den komplexen Griff, aus dem er sich schnell winden und in Richtung Backoffice stürmen konnte. Die Kerle liessen von ihm ab und gingen auf ein anderes, nähergelegenes Ziel über.

Annas Türe war verschlossen, und auf sein Pochen: keine Reaktion. Resigniert überlegte sich Benedikt, wo er denn nun die Fundsache loswerden oder absondern konnte. Wie kann ich Ihnen helfen? Der Abteilungsleiter war aus einem Schatten an ihn herangetreten. Sie sollten doch eigentlich gar nicht hier sein. Wir müssen sofort das Gebäude räumen. Kommen Sie! Wir haben hier eine Störung. Überrascht versuchte Benedikt Annas Tasche hinter seinem Rücken zu verbergen. Das ist doch! Diese Tasche kenne ich doch! Das Abteilungsleitergesicht verzog sich zu einem finsteren Fletschen. Geben Sie das sofort heraus! Hallo!

Die Uniformierten wurden auf die Szene aufmerksam. Ein Dieb!, hallte es. Dann wurde ihm die Tasche von hinten entrissen.

Es tut uns leid. Wir müssen diese Angelegenheit melden. Wenn Sie sich bitte ausweisen. Benedikt machte Anstalten in seiner Jackentasche zu suchen, holte aber dabei mit aller Kraft aus, stiess dem einen in die Magengrube und setzte ihn ausser Gefecht. Als der andere eingreifen wollte, aber in ungünstigem Winkel und durch die Körper des darniederliegenden Kollegen und Kaders schwer beeinträchtigt war, nahm Benedikt die Beine in die Hand und bahnte sich den Weg durch das fiebernde und wimmernde Getümmel. Vielleicht hörte er auch noch hinter seinem Rücken: Lasst ihn laufen.

Tesla

(E13)

Und noch einmal liess er sich die Sätze auf der Zunge zergehen – The pulsations of the air, once set in motion by the human voice, cease not to exist with the sounds to which they gave rise. (…) The waves of air thus raised, perambulate the earth and ocean’s surface, and in less than twenty hours every atom of its atmosphere takes up the altered movement due to that infinitesimal portion of the primitive motion which has been conveyed to it through countless channels, and which must continue to influence its path throughout its future existence. (…) Thus considered, what a strange chaos is this wide atmosphere we breathe! Every atom, impressed with good and with ill, retains at once the motions which philosophers and sages have imparted to it, mixed and combined in ten thousand ways with all that is worthless and base. The air itself is one vast library, on whose pages are for ever written all that man has ever said or woman whispered. (…) – sah die Luft mit ganz anderen Augen, sah, wie sie sich allmählich versteifte und Spuren ausbildete, Kratzer bekam, Gravuren, sich langsam überlappende Meinungsstriche und Knötchen formten. Je mehr er sich allerdings auf diesen Vordergrund kaprizierte, umso vager, durchlässiger, dünner und kontrastarmer wurde das Interface. Versuchte er stattdessen dieses für kurze Zeit zu fixieren, nahm jenes an Kenntlichkeit ab, wurde Kaltnadelstich, dieser – im schnellen Widerschein – wie eine Lehrbuchabbildung eines chaotischen, doch aber leicht magnetisierten Feldes, ein Naturgemälde, wie er es aus dem lange zurückliegenden Physikunterricht in Erinnerung hatte: kleine Eisenfeilspäne, die sich halbentschlossen in einem schwachen Feld richteten.

Dass es sich dabei noch um Text handelte, ging subito verloren, und die Abbildung, die noch eine gewisse Zeit auf seiner Netzhaut nachtrübte, verblasste endlich zu einer Darstellung reiner Richtung, Vektoren, die – ein Experte würde vielleicht sagen – ein bestimmtes ästhetisches Desiderat offen legten, aber sonst wenig.

Die Verkrustung im Schlemmkanal. Zu benetzende Hornhaut. Benedikt konnte nicht mehr und musste schliesslich blinzeln und schob damit, ebenso plötzlich, das Phänomen wie ein Scheibenwischer in den blinden Winkel seiner Leinwand, wusste aber noch im Nu seines Verschwindens: das war es. Er hatte es auch gesehen.

The air itself is one vast library und die Aufdunstung dieser auf seine Hornhaut, beispielsweise, konnte jene sichtbar machen. Wenn auch nicht gerade lesbar. Die Luftstarre seines Oculars war also ein Weg, diese zumindest nachzuweisen. Aber wie wurde sie haltbar? Wie liess sie sich abziehen? Zitieren? Und wer mochte das entziffern? Benedikt folgerte daraus, dass er sich mit dieser Erkenntnis nun auch über ganz andere Dinge den Kopf zerbrechen musste. Begriffe, die sich in Luft auflösten, zerfallende molekulare Vielheiten, die unbekannte Entitäten, scheinbare, freigaben. Ein beispielloses Protokoll begann sich hinter seinem Rücken zusammenzuballen und zu sammeln. Machte sich bereit zum Angriff. „Eins nach dem anderen“, hatte Anna gesagt.

Nun hatte er also diesen nicht schmerzlosen Selbsttest unternommen und dieser war in der A-Probe: positiv. Es wurde irgendetwas bewiesen, er hatte es ja selbst erlebt, dass es da etwas gab, und folgerichtig musste er nun, wenn er ehrlich zu sich und Anna sein wollte: ein paar Konsequenzen akzeptieren. Und er freute sich darüber, als er sich eine weitere Zigarette anzündete und auf seinen kleinen Balkon hinaustrat wie ein frischgewählter Bürgermeister. Eigentlich konnte er es kaum erwarten, ihr davon zu berichten: dass es funktioniert hatte. Zweifelsfrei. Und dass er also – wie versprochen – nach diesem Ereignis mit ihr zusammenarbeiten würde.

Das war also ein Teil des von ihr Bibliotheca caelestis genannten Projektes. Und sie war sich nicht zu schade, ihn da noch mit hineinzunehmen, obwohl er doch fast nichts mitbringen konnte. Er dagegen sah, wie seine Arbeit in Windeseile ganz neue Dimensionen annahm, sah in dieser eine wichtige, vielleicht sogar noch wichtigere Grundlegung des Phänomens, strich diesen berauschten Fortsatz aber sogleich … soweit wollte er denn doch nicht vorgreifen.

Zwei Tage waren verstrichen und Anna hatte sich nicht bei ihm gemeldet, hatte nicht das Ergebnis seines Selbstversuchs abgerufen oder abrufen wollen. Oder abrufen können? Benedikt war etwas gereizt zwischen all den Kartons und Schachteln der Fertiggerichte, Dosensäcken und Kleiderhaufen. Letztere hatte er immer noch nicht in die Waschküche getragen, in dieses fremde System, zu dem ihm der Schlüssel fehlte, aber nur halb so fremd wie die Nachbarschaft, die er vielleicht um Rat hätte fragen können. Waschküchengeschichten. Für solche Dinge hatte es später noch Zeit genug, also zog er sie weiter und weiter mit sich. Setzte er dabei andere Ziele. Formulierte Zielvorgaben. War er auf der Suche nach einem – wie Anna zu sagen pflegte – praktischen Filter. Oder Medium. Und kam doch nicht voran. In der Tat: nur sie konnte ihm da helfen. Nur im weiteren Gespräch war da etwas fortzusetzen.

Die Blätter hingen schlaff und trocken wie eingeschlafene Hände an den Ästen herunter. Der Blattbestand der Bäume hatte sich in der Zwischenzeit um mehr als die Hälfte reduziert, bildete auf dem Kiesweg und verwilderten Rasenstück einen dumpfen Teppich, und der noch übrige, hängige war bei genauer Betrachtung grossenteils von einer obskuren Patina überzogen. Ein Virus? Ein Bakterium? Oder Käfer? Benedikt hatte die Nachrichten lange nicht verfolgt und war nicht auf dem Laufenden, was den landesweit grassierenden Baumbefall durch Schädlinge betraf. Der Grund, warum er sogleich ein Bänkchen für sich allein fand, ja, warum das Pärkchen fast gänzlich ohne Besucherschaft war, sah er aber eher in der Tageszeit – die Gassenküche hatte ihre Pforten geöffnet, gut einige hundert Meter entfernt, und aus dieser Ecke unsichtbar für Benedikt, aber wohl zu hören: das Gejohle der Bedürftigen, die sich noch einmal für heute eine ordentliche Grundlage beschafften.

Er war ein Meister des Wartens – niemand konnte ihm da so schnell etwas vormachen, denn er war stets gut mit Lektüren bestückt, und – wenn doch einmal nicht – so war ihm alles, was ihm vors Angesicht trat ein Buch, ein ordentlicher Laib nur zu zerschneidender und zu verzehrender Zusammenhänge, die in ihm dieses und jenes auslösten, gerade so, als würde er auch einer selbstgewählten Schriftrille folgen.

Er machte es sich also gemütlich, sah bald einen lieblichen Ort, dachte sich einen Ahorn im Urzustand, hörte die Sangeslust und –kunst im Gekrächze der Spatzen, spielte mit den Fussspitzen in einer rostenden Pfütze, Labsal eines frischen Quells, und beinahe überzog sich auch ein trüber Busch mit fussigem Fell, wurde rotbraunes Rehlein, zahm, erotisch aufgeladen aber soweit zufrieden.

Diskussionen. Gratwanderungen. Umruderungen von Positionen. Sprachliche Rücknahmen, aber doch: das Beharren auf jeweilige Positionen. Besprechungen werden länger und länger. Ergebnisse, Outcomes, dürftiger und dürftiger, fügte Anna hinzu, nicht ohne ironisch eine Braue zu heben, werden immer unbefriedigender, unwahrscheinlicher, undurchsichtiger. Jetzt haben wir schon die Zeit der Entscheidungen, ergänzte Anna weiter, deren Historisierung schon im Moment der Fällungen angelegt seien. Darum ihr Zuspätsein, und ausserdem: Die Luft wird dünner. Es gab Beweise, dass jeder Tastendruck, jedes Wort protokolliert wurde. Und kommentiert, wie sie denke, aber: Damit möchte ich dich heute nicht belästigen, lieber Benedikt. Schön, dass du da bist, begrüsste ihn Anna noch einmal herzlich und gab ihm einen Kuss auf einen Teil der Wange, der schon beinahe Mund war. Dass du hier bist, sagt wohl alles! Du hast es also getan, oder nicht? Anna breitete sich neben Benedikt auf dem Bänkchen aus, legte ab: Ihren Mantel, eine Tasche.

Beide hatten schon trockene Schleimhäute vom vielen Reden. Diskutieren. Annäherungen. Abmachungen. Entwürfe. Zielformulierungen. Vereinbarungen. Wollen wir es so machen? Benedikt war überglücklich. Ich hohle uns schnell etwas zu trinken, darauf müssen wir doch anstossen. Anna nickte. Für mich nur etwas Wasser, ja? Er entfernte sich leichtfüssig in Richtung Gulaschkanone, in deren Nähe er auch etwas Trinkbares vermutete. Als er beidhändig bepackt wieder an ihren Platz zurückkehrte, war Anna nicht mehr da. Nur noch Jacke und Tasche zeugte von ihren Anwesenheit. Sie war wohl auf dem Weg sich etwas frisch zu machen.

Bestimmt war eine halbe Stunde vergangen, als Benedikt beschloss zu handeln. In der Jacke fand er nichts Persönliches und auch in dem Ordner, dem einzigen Gegenstand in der Tasche, war nichts Brauchbares zu entdecken. Dann fühlte er eine leichte Beklemmung. Auf der Karte seines Mobiltelefons waren nur drei Nummern gespeichert. Benedikt wählte und nach einigem Läuten meldete sich ein sehr verschlafener Röhrling.

Fiebertext

(E12b)

Was aber waren diese Zeilen im Privaten? Was für eine Bedeutung wiesen sie sich selbst zu und darüber hinaus, wenn sie nicht aus ihrem ewiggleichen, traumfreien Schlaf geholt wurden – nach Jahren des Vergessenseins? Welchen Sinn verbargen sie und sprachen diesem doch heimlich zu, während sie stumm standen und ihre Zeit absassen, während sie nicht auf ein erstes oder neues Mal enteignet wurden von einer fremden Hand, von schamlosen Augen, Netzhäuten, Speichern, die ihr Innerstes ans Licht einer ungeraden Öffentlichkeit zerren wollten, noch im Bademantel vielleicht, nackt oder bei unsittlichen Beschäftigungen?

Vor, während oder nach der Genesung, die diese – noch im Schweiss auf kalter Stirn verhafteten – entstellt und noch nicht ganz auf der Höhe eigener Eigentlichkeit überraschten. Hatten die besagten Zeichen, Ketten, die oft genug nur als Verstümmeltes, Teil eines Torsos einer Idee, die lediglich auf ein Verdecktes oder Verschüttetes zeigen wollten und wieder und wieder zurechtgestaltet und einem unbegreiflichen Publikum vorgesetzt wurden, nicht ein Anrecht auf Vollständigkeit, Wärme und etwas garantierte Ruhe, wenigstens für eine absehbare und – wohlgemerkt – dezidierte Saison? Warum sich diese Fragen gerade jetzt seiner bemächtigten, konnte Benedikt nur vermuten, als er sich im Strom der Pendler den Hirschengraben hinauf treiben liess. Dieser spontane Zugriff des, ein anderes Wort war ihm gerade nicht zugegen, Unbewussten auf seine doch immer noch kontrollierten Schweifzügen, stellte er – konnte er nur in den Zusammenhang eines noch nicht verarbeiteten Fieberbildes stellen, das ihn zwar schon seit geraumer Zeit auch in nüchternen Nächten heimsuchte, aber sogar ebendort und in den darauffolgenden Halbschlafphasen, in denen er es mittlerweile schaffte, winzige Selbstdokumentationen anzufertigen, war ihm Erschienenes zu unscharf, als dass er es mit dem ihm zur Verfügung stehenden Lexikon einzufangen in der Lage war. Immerhin: die Wahrscheinlichkeit, dass seine febrilen Lektüren genau auf das Jenseits raumoffener und verstellter Körperlichkeit der – ja, so musste man wohl von ihnen sprechen – Opfer doch einen kleinen Funken nicht Wahr-, nein, Wirklichkeit besassen, waren ihnen, theoretisch zumindest, nicht nehmbar, und dieser Umstand, ein weiteres Mal klar verdeutlicht, verhalf ihm zu neuer Energie.

Baustelle. Entschleunigte Pendler, die ihre Anschlüsse zu verpassen befürchteten. Verpasstheiten unter hohem Druck an einem Nadelöhr von Übergang: ein Rohrkanal, der frisch verarztet wurde. Narben. Der ganze Bahnhofsvorplatz war grossräumig abgesperrt. Nur dünnste Adern wurden dem Pflichtverkehr zugestanden, die Stadt mit Menschen und Nährstoffen zu versorgen, die Ausscheidungen mehr oder weniger diskret zu entsorgen.

Benedikt bog schnell in eine Seitengasse ein, um dem Sog dieser Pumpe zu entrinnen. Da nahm er gerne einen kleinen Umweg in Kauf, auch wenn er diesen synästhetischen Klops zu gerne schluckte. Dieser Ort: er musste sich einmal näher mit ihm beschäftigen, nahm er sich vor, schien ihm in all seinem Getöse, Staub und Nebel, maschineller und leiblicher Durchdringung eine perfekte Metapher für … ja, für was eigentlich?

Wollte er sich mit dieser Verfassung abfinden? Zumindest meldeten sich leise Skrupel und Benedikt beschloss sein geladenes Mütchen etwas abzukühlen und nicht gleich sein ursprünglich avisiertes Ziel zu stürmen. Er bestellte sich eine Affenbrause in dem kleinen Café unter der Laube gegenüber, nahm an der Fensterfront Platz und stocherte weiter in seinem Sack traubengleicher Metaphern, die aber alle nicht dem Saft und Geschmack des von ihm gesuchten Allerweltsbildes entsprachen.

Viertel vor Zehn. Schichtwechsel der Auskunft. Teestubenzeit. Das schloss Benedikt aus dem Kommenundgehen ihm bereits bekannter Bibliothekarsgesichter. Die benachbarte Bäckerei war wohl Monopolistin in diesem Quartier und stattete sie alle mit Croissants, belegten Brötchen oder Studentenschnitten aus. Ein Kommen ohne Tütchen. Ein Gehen mit Tütchen. Unterschiedlichste Prallheiten. Ein Knistern und Knittern schon auf dem Weg zurück in die Aufenthaltsräume, hastige Köpfungen von Buttergipfeln, entkrampfte Mundwinkel – daran Blätterteigreste, bei manchen.

Als sich auch noch unerwarteterweise Anna durch die massive Holztüre schob, schnellte Benedikt empor. Was für eine günstige Gelegenheit! Er warf ein paar Münzen in die Schale mit dem Bon, eilte hinaus und konnte Anna abfangen, als diese gerade wieder die Bäckerei verliess. Ein Glöckchen klingelte.

Die Einladung ins Café wurde von Anna ausgeschlagen. Warum? Dort? Vermintes Gelände! Alles voller Wanzen! Grosser Lauschangriff – musste er wissen. Wir gehen besser an einen abhörsicheren Ort, schlug sie vor. Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her, bis sie an einem kleinen Park angelangten, nicht weit von ihrem Arbeitsplatz, eher: eine heruntergekommene Strauchpassage mit zersplitterten Bänken, darauf Hündeler, Punks und dösende Penner, aber mit einem Fleckchen für die beiden auf einer Tischtennisplatte im Schatten eines Ahornbaums.

Benedikt sprudelte los, als sie beide das geteilte Zopfbrötchen zerkaut und geschluckt hatten. Der Aufsatz … Die Sendung aus der Vergangenheit … Past perfect … Überhaupt: Baustellen … elektronische Antwortsysteme … Dabei zeigte er immer wieder auf die Dokumente, die er glücklicherweise mit sich genommen hatte.

Anna schien heute weitaus ausgeglichener, schien – es war Benedikt nicht entgangen – fast wie von einem Nimbus umglänzt, an dem er sich nicht satt sehen konnte, der all seine Sprachpotenz zum erschlaffen brachte. Eins nach dem anderen, beschwichtigte sie ihn und legte dabei eine Hand auf sein Knie. Du hast das schon richtig verstanden. Ich habe einmal an so einem Text gearbeitet und das ist Jahre her. Aber das war bestimmt nicht vor so langer Zeit, oder sehe ich aus wie ein altes Weib?, lachte sie. Die Arbeit ist auch in einer Anthologie erschienen mit einem ganz ähnlichen Titel. Ich bin mir da aber nicht mehr sicher.

Nicht mehr sicher? Benedikt runzelte die Stirn. Wie konnte man so etwas vergessen. Es waren nur ein paar Seiten zur Idee einer Art Luftbibliothek nach Charles Babagge. Hast du davon schon gehört? Benedikt musste verneinen, machte sich aber fortlaufend Notizen, denn Anna, oder war es das, was sie da sagte, vermochte ihn mehr und mehr zu faszinieren. Ein geradezu esoterischer Ansatz, aber nicht von der Hand zu weisen, fuhr Anna fort. Leider war ihr der Text abhanden gekommen, war mit ihrem letzten Computer untergegangen und auch in dieser Bibliothek war er nicht mehr aufzutreiben. Wohl ein Job für die Fernleihe? – Benedikt wollte mit der Kenntnis dieses Services etwas bei ihr punkten, fügte hinzu, er sei sehr interessiert und werde gleich nach ihrer Pause diesen Auftrag erteilen. Anna seufzte. Sie hatte vor ein paar Jahren schon versucht, über diesen Weg an ihren eigenen Text zu gelangen, aber vergebens. Freilich, mit den heutigen Möglichkeiten … Man müsste es wohl einfach wieder einmal probieren. Oder … Oder was?, fragte Benedikt.

Nun, der von ihr dort durchgespielte, abstrakte Ansatz, der aber genau jener Babagge`schen Theorie entsprach und sie lange Zeit beschäftigte, müsste … dann winkte Anna ab. Alles nur Spielerei. Benedikt liess nicht locker. Müsste was?

Müsste auf sich selbst angewendet werden. Nach dieser Theorie wäre der Text auf jeden Fall erhalten und einfach – unzerstörbar. Er befand sich, Anna zeigte nun auf eine unbestimmte Stelle in Richtung Himmel, irgendwo da oder dort und man bräuchte also nur noch den geeigneten Filter, oder sagen wir: ein Medium, um diesen wieder lesbar zu machen. Benedikt schüttelte den Kopf. Vielleicht probieren wir es doch erst einmal mit der Fernleihe.

Wie du meinst, erwiderte Anna. Ich will dir aber nicht allzu grosse Hoffnungen machen. Und was den Zugriff auf diese, Anna räusperte sich, Luftbibliothek angeht … auch wenn du mich vielleicht für verrückt hältst: ich versuche mich immer noch daran, um ehrlich zu sein. Benedikt war nach einem Scherz. Das ist ja spannend! Kann ich dir dabei behilflich sein? Anna reagierte trocken. Du hilfst mir doch schon seit langem. Aber zu deiner anderen und vielleicht viel wichtigeren Frage: Nein, diesen Brief – dann zeigte sie auf den Umschlag, den er immer noch fest umklammert hielt – diesen Brief habe ich dir nicht geschickt.

Wählen Sie bitte die

(E12a)

Was alles in Zeitungen steht. Sind die Zeitungen die verwitterten Bücher von Morgen? Die Bücher gestrige Zeitungen? Das Heute: ein Meer von beidem, das um seinen Träger kämpft, das sich in alles versucht einzuschreiben, was Widerstand bietet, dachte Benedikt, als er im letzten Drittel des Hubs angekommen war.

War er da nun Stunden davor gesessen, oder waren es Tage, die er aufgewendet hatte in diese Flüchtigkeit einzutauchen? Unfähig die Grenzen zu erkennen, die nur formal angedeutet wurden. Wer sprach da?, fragte sich Benedikt, als er wieder einem langen Zeilenzug aufgesessen war. Wer kümmerte sich um den Fahrplan dieser Meinungen und Bedeutungszuschreibungen, die sich – rückwärts gelesen – alle überschrieben und ineinander verflochten und an ihrem Grund wieder aufhoben zu einer runden Sache? Die aber stets gegeneinander zu arbeiten trachteten. Wen kümmerts überhaupt, seufzte Benedikt erneut, denn der Sog, der von diesen Linien ausgelöst wurde, füllte den kahlen Raum mit angenehmer Wärme, federte von einer Aussenwelt ab: Türsummer, Klopfen, Rufe wurden zu Nebensächlichkeiten.

Auch Anrufe waren eingegangen, schwer oder kaum entgegengenommen. Das überliess er der Maschine. Sollte sie doch machen, sie wurde bezahlt. Und nur einmal kolportierte sie ihm eine Stimme mit Relevanz und starker Strahlung: Röhrling. Er erkundigte sich knapp, wie es denn nun war. Wie es stünde und ob es etwas Neues zu berichten gäbe. Der alte Mann. Was will er Neues? Das Neue lag vor ihm sichtbar, beinahe verarbeitet und liess sich einen grauen Bart wachsen. Dann gab es noch die mechanischen Anrufer der Callcenter, an denen Benedikt sein Vokabular aus der untersten Schublade testete. Ausspie. Sonst: nur weniges.

Gerade wollte Benedikt mit der siebten Woche vor seiner Zeitrechnung beginnen, nachdem er seine zwei Listen, die Tätigkeits- und Untätigkeitstabellen überprüft und abgeglichen hatte, die befanden: Zeit genug bis zur nächsten Be- und Entsorgung, körperseitiger Stoffwechsel und der der Wohnung, der Luft, die in den Zimmern stand, da hörte er ein Knirschen, wie es entsteht, wenn ein Postbote einen Umschlag durch einen Türschlitz zwängte. Zwischen Unterkante Türe und verkrustetem Parkett.

Wozu auch Absender? Mit dieser Mode kommunikativen Verhaltens konnte sich Benedikt durchaus anfreunden. Wieder enthielt der Umschlag nur einen Ausdruck, dessen einzige Referenz ein samtenes Mäntelchen war, innen, das ihn umschloss und liebevoll schützte. Ausdrücklich: ein Digitalisat eines Katalogisats. Maschinenschrift eines Zahlenzeichenklons an der Seite links oben, etwas darunter: Natürlichsprachiges, Zisch- und Sprühlaute, vokalarme Baustellen anderer Planeten. Gleich daneben: ein Häufchen Wörter, aus dem er durchaus etwas zu bilden in der Lage war. Ein fast leserlich invertierter Name mit Herausgeberkürzel eines: ja, was war es denn nun?, grübelte Benedikt. Jedenfalls stand dahinter: Geschichte machen. Quantenphysikalische Thesen zu einer allmählichen Fiktionalisierung unseres Seins.

Ein Aufsatz in diesem Sammelband. Nun konnte er sich beinahe denken, wer hinter dieser Depesche steckte. Einen Zusammenhang, einen Ort, Schnittpunkt oder Radianten, kurz: einen präzisen Auftrag konnte Benedikt sich daraus leider nicht zusammenreimen. Dabei begann er aber leichte, kognitive Verbindungen mit dieser Information zu verspüren, bis er stutzig wurde. Der Eintrag war von einem Sachbearbeiter schon vor mehr als vierzig Jahren angelegt worden. Das war ein Jahr nach Erscheinen der Schrift, deren Autorschaft aber ganz zweifelsfrei auf Anna verwies. Freilich musste es sich hierbei um einen Tippfehler handeln. Anna wäre demzufolge noch lange nicht einmal Säugling. Noch bemerkenswerter allerdings war ihm das Datum des Poststempel. Dieses lag ebenfalls um die vier Jahrzehnte zurück, und der Umschlag – wie Benedikt fachmännisch aus seiner Grösse, der Papierbeschaffenheit und Schreibmaschinentypographie der Anschrift herauslas – deutet auf ein Relikt dieser Zeit. Die Briefmarke, die nur eine mathematische Funktion, oder war es eher der Grundriss eines Raumes?, zierte, schien dagegen aus einem Land, von dem er noch nie gehört hatte. Und Währung und Sprache … das alles war mehr als mysteriös. Benedikt befiel eine Mulmigkeit, von der er sich nicht so schnell erholen konnte und auch die unberichteten Tatsachen, die bald in der Küche zu lärmen begannen, konnten dieses nicht sedieren.

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Als Benedikt alle Nummern in vier Anläufen gewählt, dabei aber jeweils nur einen Hinweis auf die Besetztheit des anderen Endes der Leitung erhalten hatte, und stattdessen mit der Topten der aktuellen Hitparade verbunden wurde, wie er vermutete, warf er den Hörere wütend in die Matratzengruft, rasierte und duschte sich nicht, griff nach seiner muffelnden Öljacke und einem Schirm und verliess stinkend seine Wohnung.