Chloride

(E11)

Seine Haut war immer noch aufgedunsen. Besonders die Faltenwürfe der Fingerkuppen widerstanden der Ausbeulung der Zeit, der Teint, illuster, rote Flecken wichen nur langsam dem edelkranken Grundzustand in weiss und weich, die Poren noch geweitet, wie er bei schwachem Licht erkennen konnte im Rückspiegel eines geparkten Autos am Ende seiner Strasse. Die rollte Benedikt weiter von hinten auf.

Die Wadenkrämpfe, die er kurz nach dem Ausstieg aus dem Thermalbecken bekommen hatte und nur mithilfe eines herbeigeeilten Bademeisterassistenten unter Kontrolle gebracht werden konnten, waren augenblicklich mit einer hohen Magnesiumdosis zu bekämpfen. War das Wasser noch sein Element?

Die Strecke, die er früher einmal noch spielend zurücklegen konnte, ja, die er gerade einmal zur Aufwärmung genommen hatte, bereitete ihm heute – nach so langer Zeit körperlicher Passivität – grösste Schwierigkeiten, und geblieben war nur die Hartnäckigkeit sein vordefiniertes Minimalziel zu erreichen. Mit diesen Konsequenzen. Der Fehler dann: sich sofort ins überheisse Brausewasser zu begeben. Anfängerfehler. Benedikt war klar, dass er beim nächsten Mal, wenn es überhaupt ein solches gab, so eine überdrehte Sache gemächlicher anzugehen hatte. Verschwommen dagegen: sein gerade noch, wie er einschätzte, genialischer Vergleich, oder besser: die Assoziation, ein Schwimmbad, seine unterschiedlich grossen und funktional divergierenden Becken, seine Umkleidekabinen, Passagen, Ein- und Ausgänge, Ein- und Ausstiege, Schichten, Nasszellen, Verbindungen, kurzum: die ganze Aussen- und Innenstruktur ins feste und ephemere Gebäude einer Bibliothek zu übersetzen.

Im Whirlpool hatte er noch für jeden Ort, da wie dort eine Entsprechung gefunden, und besonders sein Hauptmedium: Wasser – schien sich von dort in dieses als wirklich geschmeidige Metapher zu transferieren. Mit der spezifischen Zugabe, augenrötende Essenzen, auch für diese hatte er ein passendes Pendant gefunden.

Theoretisch war ihm das eine wie das andere – gemeinsamer Nenner – Heterotopie, Spielplatz entkleideter Gedanken, beweglicher, fast schwerkraftloser Modelle in lockerem Medium, undsoweiter.

Wie gerne hätte er das alles festgehalten, was ihm da durch den Kopf geflossen war, aber Papier und Wasser, das weiss jedes Kind: Erzfeinde, und je schneller er seine Schreibstube ansteuerte, umso mehr schien sich das, was sich da unter dem Druck massierender Düsen gebildet hatte, wieder zu verflüchtigen.

Die endlose Strasse. In Sichtweite seiner Haustüre waren Vorplatz und umschliessendes Heckengelände schon fast eingedunkelt, nur noch trübe Verklumpungen, die der vollautomatischen, bewegungsempfindlichen Hauszugangslampe Grund zu strahlen gab – just in diesem Moment.

Die helle Aussendung wies aber nicht nur in diesem Moment die restliche Trennschärfe der Umgebung zurück, sondern gab auch noch die Konturen von etwas anderem frei: über drei Stufen gefläzt lag dort ein Körper, der schnell darauf zu vibrieren begann, was Benedikt dazu brachte, innezuhalten.

Immer feinere Umrisse zeichneten sich ab, bald war ein Rock zu erahnen, bald festes Schuhwerk, das nun Halt suchte und gleich darauf dem sich erhebenden Rest unterstand. Aus einem dunkelblauen Mantel ragte oben der Kopf Annas, wie Benedikt nun endgültig an der Pagenfrisur ausmachen konnte. Nieselregen setzte wieder ein, und das Gebüsch: erneut in Stimmung zu plaudern. Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen, begrüsste ihn Anna.

Dabei rang sie immer noch um Luft, als Benedikt sie hereinbat. Eben war sie erst angekommen, behauptete sie, und wollte auch gleich wieder weiter. Auch war sie rein zufällig in dieser Gegend, wie sie sagte: Ich war nicht sicher, ob du da bist.

Sind wir also schon beim Du?, fragte sich Benedikt. Das ging ihm doch alles etwas schnell, aber er unternahm nichts gegen diese weitere Vereinnahmung, nahm ihr stattdessen den Mantel ab und klopfte diesem den Sprühregen von der Schulter. Dann warf er ihn über einen Küchenstuhl.

Hast du meinen Brief erhalten? Benedikt zog entschuldigend die Achseln nach oben. Er hatte noch keine Möglichkeit gehabt, seinen Briefkasten zu leeren. Fürchtete sich auch ein wenig davor, denn immer befand sich darin alles, nur nichts von Belang. Was ihn immer sehr ärgerte, und diesbezüglicher Verärgerung stets zu befürchten. Froh war er, wenn sich darin immer nichts oder fast nichts befand, und eigentlich sollte sich darin auch immer fast nichts befinden, nach den unmissverständlichen Anweisungen, die er an die Zulieferungsindustrie richtete, die diese aber immer wieder aufs Neue geschickt uminterpretierten, um seine Fach weiter und ungestrafterweise zurotzen zu können. Also ärgerte er sich nur noch alle paar Tage.

Ich habe noch nicht nachgeschaut, antwortete Benedikt also, und fügte hinzu, dass er den ganzen Tag unterwegs gewesen sei. Als er mit seiner Aversion gegen Briefkastenspam nachlegen wollte, unterbrach ihn Anna, wie schade das doch sei, denn sie hatte ihm darin Wichtiges mitgeteilt.

Benedikt war nicht eingerichtet, Gäste zu empfangen. Aber Anna war sehr zufrieden mit dem Vorhandenen, freute sich über kühles Sparbier und sogar den alten Jägermeister, von dem sich Benedikt nach vielfachen Erwägungen doch nicht getrennt hatte bei seinem Umzug, wie sich herausstellte. Mit viel Eis und etwas Zitronensaftkonzentrat war die braune Brühe sogar durchaus geniessbar. Lecker, schmatzte Anna, dann schoben sich wieder Sorgen in ihr Lächeln.

Sie waren auch schon in ihrer Wohnung, legte Anna unvermittelt los. Sie gaben sich grösstmögliche Mühe, nicht bemerkt zu werden, hatten aber ihren Scharfsinn und ihre Aufmerksamkeit unterschätzt, sprach sie weiter. Wer, unterbrach sie Benedikt, von wem spreche sie da? Anna blickte zur Wand und spielte am Verschluss einer Bierdose. Ich spreche von den Leuten, die immer wieder versuchen, mich von meiner Arbeit abzuhalten, die mich behindern! Benedikt wurde nun etwas ungehalten. Er hatte genug Erfahrungen von Annas Ausweichmanövern gesammelt und wollte: Jetzt aber bitte Fleisch an die Dinge. Wer bitteschön sind diese Leute? Von wem sprichst du da die ganze Zeit? Sind es Kollegen von dir? Polizei? Hast du Feinde? Warum?

Anna war den Tränen nahe. Du glaubst mir also nicht? Wenn sie es nicht selbst besser wüsste … aber … nein … das war unmöglich … Sie hatte das Gefühl, sie habe das alles schon einmal erlebt … was heisst erlebt? … zumindest gelesen! Anna machte die Flasche leer und gab noch drei Eiswürfel hinzu. Den Rest des Gläschens füllte sie mit Zitronensaft auf, sodass das Getränk die Farbe eines abgestandenen Eiskaffees annahm. Vitamine, kommentierte sie ihre Aktion trocken. Immer gut: Vitamine.

Obwohl Benedikt fest entschlossen war, nicht aufzugeben und nun endlich mehr über ihre Verfolger oder ihre Verfolgung, an die er schon fast nicht mehr glauben konnte, herauszubekommen, probierte er es, angesichts ihres Zustandes mit Güte und fügte dem wiederum nur ein neutrales: Soso hinzu, das – ohne aber intendiert worden zu sein – doch eine ordentliche Portion Mitleid enthielt.

Anna hatte das herausgehört und fasste sich wieder. Hast du zufällig die Zeitung vom letzten Samstag da? Muss ich mal nachschauen, antwortete Benedikt und war schon auf halber Strecke zu einem Altpapierstapel, der gleich neben dem Kühlschrank seinen Platz gefunden hatte. Sie wollte ihm etwas zeigen, das für sich selbst spräche.

Der Stapel wuchs dort fast ungelesen zu einem wilden Haufen, durchsetzt mit Inseratemagazinen und Gratiszeitungen, und eine gezielte Suche gestaltete sich sehr schwierig und auch das Vorhaben, obwohl die Anhäufung numerus currens, dozierte Benedikt, dort zum besagten Zeitpunkt zu gelangen, ohne dass das peinliche Konstrukt in sich zusammenbrach.

Als er sich immer mehr dem Wochenende näherte und Fündigkeit zumindest in greifbare Nähe gerückt war, hörte er ein schematisches Hupen, gefolgt vom Signal des Lichtbewegungsmelders.

Das muss für mich sein. Anna sprang auf und zerrte ihren Mantel vom Stuhl. Eine Freundin Die wollte sie abholen. Unbeweglicher Benedikt: in der Hocke gelähmt, spürte er eine langsame aber eindringlich zunehmende Verkrampfung seines Oberschenkels, die im Moment der Entlastung gegenwertig seine Wade befiel. Nur mit äusserster Anstrengung fand er eine Position, die beide Schmerzherde gleichzeitig entlasten und Auflösen konnte. Und noch anstrengender fand er es, von seinem Schmerz und seiner Schwäche abzulenken und so zu tun, als könnte seine Konzentration vor dem Zeitungshaufen kein Wässerchen trüben. Als Anna sich an ihm vorbeischob, sich bedankte und ihm einem flüchtigen Kuss an die Wange hauchte, konnte er sein Gesicht nur zu einem halbidiotischen Grinsen entstellen, wie es ihm vorkam. Etwas Regenwasser blieb zurück an dem Stuhl, als sie ging, und er zog sich an ihm hoch um sich bald darauf wieder zu Boden zu werfen, sich flach abzulegen und mit aller Kraft seine Beine gegen die Wand zu drücken.

Nach einiger Zeit, die sich wie Stunden gebärdete, hatte das Blut wieder seine natürliche Viskosität erreicht und seine Gesamtkonstitution war einigermassen passabel, sodass er sich auf seine Beine verlassen konnte und zum Briefkasten humpelte. Fast hätte er darauf gewettet: es befand sich nichts darin bis auf eine Broschur, die zu einem Besuch eines abschüssigen Gartencenters einlud. Keine Hinweise, auf einen Brief. Kein Garnichts, das ihm die jüngste Erscheinung erklärte. Blieben ihm nur die vermischten Meldungen eines Samstags einer alten Zeitung.

Wechsel

(E10)

Erst am nächsten Morgen, ein früher Morgen, kam es ihm vor, weit früher als die vergangenen Morgende, kam es ihm vor, begann Benedikt aufzustehen und gleich darauf sich seiner Kleider zu entledigen. Er hatte sich vor dem Einschlafen nicht ausgezogen, wieder einmal, und auch sonst verliess er den gestrigen Abend unverrichteter Dinge. Noch bevor er sich aufmachte in Richtung Dusche, empfand er die dahingeworfene Jacke nebst der Tasche als derartige Störung, dass er den Inhalt letzterer entleerte und notgedrungen versorgte. Die Jacke unterzog er einer Säuberungsaktion. Seltsam. Da tauchte ein Durchschlag eines Wechsels vom Goldenen Falken auf – an diesen konnte er sich gerade noch erinnern. Es war aber doch ein erstaunlicher Betrag, der da nun zuunterst stand. Dieser blanke Briefumschlag ohne Adressierung oder Absender jedoch, war ihm völlig unbekannt. Wie kam er dort hinein?

Schon etwas klamm, beförderte er seinen Inhalt ans Licht. Zwei zweimal und ineinander gefaltete, dichtbefüllte Seiten, von denen er just den Anfang erwischte.

Die Schrift war, gelinde gesprochen, flüchtig dahingewischt und ihre Entzifferung bereiteten Benedikts lemyatischen Augen reichlich Mühe, aber er war nun neugierig geworden.

Lieber Benedikt, ich darf Sie doch hoffentlich so nennen? Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, dass Sie gekommen sind und mich gleichzeitig bei Ihnen entschuldigen. Sicher haben Sie bemerkt, dass ich mich gestern Abend etwas verhalten habe, dass ich nicht sprechen konnte, das heisst öffnen, wie es üblicherweise meine Art ist. Aber unsere Bekantschaft hat wohl auch noch nicht das Stadium der Üblichkeit erreicht. Ich möchte Sie wirklich versichern, dass es nicht an Ihnen lag. Dass ich Ihrer Person durchaus zugeneigt bin. Aber es lag an den Umständen. Ich möchte da ganz offen mit Ihnen sein, denn ich habe das Gefühl, Ihnen vertrauen zu können. Ich glaube, ich werde beobachtet. Ich will nicht so weit gehen zu sagen, ich würde verfolgt werden, aber es gibt da Indizien, dass man mich ins Visier genommen hat. Es gäbe da auch einige Gründe, warum diese Vermutung Berechtigung hat, aber in der Eile – ich möchte nicht allzusehr ins Detail gehen …

Man habe sie also im Blick, schrieb sie da weiter, und ihre Schrift zeugte von einer zunehmenden Nervosität. Sehr wahrscheinlich handelte es sich dabei um ihre Arbeit, die von gewissen Seiten beargwöhnt wurde, wie sie stark annahm. Und das war zum einen oder doch hauptsächlich: die der Wahrnehmung. Sie halte also Ereignisse fest, so gut sie konnte, so bemühte sie sich etwas umständlich auszudrücken, musste diese aber dementsprechend verkleiden, ständig, das hiesse: diese bis zur Kenntlichkeit entstellen, wie sie ihm gegenüber wohl schon einmal bemerkt hatte. Und: ob ihm vielleicht aufgefallen war, dass sie sich manchmal wiederhole? Aber gerade das war ein Effekt ihrer Camouflage. Es blieben da nicht immer viele Möglichkeiten etwas Anderes anders zu beschreiben, als in der Wiederholung, schrieb sie da. Nun wollte sie ja auch von dem Stück, an dem sie gerade arbeitete berichten, aber eben Zeitpunkt und Ort: ungeeignet. Und doch hatte alles mit ihrer, nein “unserer”, wie Benedikt nach nochmaliger Lektüre herauslas, Sachlage zu tun. Alles.

Benedikt musste das ja bemerkt haben. Hatte er das? Wer denn in diesem Lokal anwesend war, in das sie bald nicht mehr gehen konnte, was sie sehr bedauerte, denn eigentlich entspräche es ganz ihren Wünschen.

Ich schlage also vor, lieber Benedikt, wenn ich Sie denn so nennen darf, dass wir uns einmal an einer anderen Stelle treffen. Natürlich nur, wenn Sie noch Interesse haben. Das muss Ihnen doch sehr ungeheuerlich vorkommen. Nun muss ich Schluss machen und ich hoffe, dass Sie alles weitere werden vertraulich behandeln können. Vielleicht bis bald, A.

Das alles hatte sie auf zwei Seiten makuliertem Papier untergebracht. Benedikt rätselte immer noch, wann sie das alles geschrieben haben konnte. Etwa auf der Toilette? – doch so lange war sie gar nicht abwesend gewesen. Er konnte das nicht mehr rekonstruieren. Und wie hatte sie es fertiggebracht, ihm diesen Umschlag unterzujubeln? Auch bei diesem Punkt vermochte Benedikt nicht genau zu erkennen, ihr irgendwann eine Gelegenheit gegeben zu haben. Als er das Schreiben ablegen und endlich zur Dusche gehen wollte, nicht ohne die leichte Befürchtung, sich eine Irre angelacht zu haben, fiel ihm die Rückseite der Papiere auf. Dabei handelte es sich um Ausdrucke oder Kopien eines dramatischen Entwurfs, dieser allerdings grosszügig gestrichen.

Das Wasser war eiskalt. Er hatte vergessen den Boiler wieder anzustellen. Das: vor zwei Tagen schon, als dieses von den Handwerkern kurzfristig und aus ihm undurchsichtigen Gründen gefordert worden war. Die Erwärmung würde eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen, also schlurfte er in die Küche, bereitet ein Kännchen Kaffee vor und machte sich an die Arbeit.

Was sollte man davon halten? Benedikt war sich seiner Sache nicht mehr so sicher. Je mehr er las und fand, und das waren einerseits wissenschaftliche Texte, zumindest sahen diese nach dem ersten Augenschein so aus, solche, die sich aus einer direkten Zeitgenossenschaft erhoben und dabei gleichzeitig auf der Augenhöher des Alltags sprachen, dann wieder: seltsame Theorien unfassbarer Ideen, die von seinem Gegenstand als einem Gebäude sprachen, ohne Anschein auf eine molekulare Struktur, oder etwas, das beliebig viel und gleichzeitig keinen Raum in Anspruch zu nehmen imstande war. Ein abstraktes Etwas, das auch an einzelnen Stellen auf Punktgrösse reduziert wurde. Dann wiederum pflückte er Prosaflocken aus Romanen oder Erzählungen, die diese lediglich als Gestaltungsraum möblierte. Fluides Material, alles in allem, und in dieser losen Unordnung, durchscheinen, instabil und jederzeit bereit, sich schnell in etwas anderes zu verwandeln, wenn es denn wie jetzt auf dem Küchenboden verschoben wurde. Benedikt plante, als der Kaffee zu sprudeln begann, dieses bald zumindest einer kleinen Nummerierung zu unterziehen, damit wenigstens eine Winzigkeit an Orientierung entstehen konnte, durch die er später, wie sich langsam abzeichnete, wohl oder übel geduldig, navigieren konnte.

Gerade, als er sich eine einfache und handhabbare Möglichkeit der Triagierung ausgedacht hatte, und er damit begann, die Erscheinungsdaten seiner Fundstücke mit einem Leuchtstift zu markieren, drängte sich der Verdacht auf: je weiter sich die Passagen in seine Richtung entlang einer Zeitachse bewegten, desto stärker schien sich eine vorgebliche Realität jener Untersuchungen neuerer Zeit den Grossentwürfen sogenannter Spekulativer Bibliotheken anzunähern. Er versuchte diesen ihm fremden Gedanken noch einmal genauer zu fassen. Folgerichtig musste es dann wohl heissen, dass sich jüngere oder jüngste Zeit jenen absurden, oder vielleicht sollte er sagen: realitätsalternativen Entwürfen annäherte, die allgemein aber als “Realität” anerkannt waren, oder und: diese Realität sollte – nach Ansicht der dominierenden Kommentatoren – weiter so betrieben und ausgeführt werden … Benedikt nahm sich nun einen Stift zur Hand, denn der Gedanke war kurz davor, ihm zu entgleiten. Noch einmal versuchte er seine Beobachtung in einer Frage einzufangen, reduzierte weiter und hielt fest: könnte es sein, würde man all diese einzelnen Ausschnitte zusammenlesen, dass sich allmählich sogenannte Wirklichkeit, was nun das Verständnis der Bibliothek anging, auch – und das war von den meisten unbestritten – als Spiegel der Welt aufzufassen, deren Sein und Status sich allmählich in eine Grossfiktion verwandelte? Was ihre fortschreitende Entmaterialisierung anginge, wie es nun häufig genannte wurde, musste Realität also als irreales, oder war es umgekehrt?, Ereignis, oder eher: unmöglichmöglicher, aber gleichberechtigter Zustand bezeichnet werden. Wenn eine Bibliothek denn Spiegel der Welt zu sein hatte … Das war ein phantastische These! Benedikt freute sich, dass es ihm doch noch gelungen war aus all diesem Wirrwarr zumindest eine kleine Provokation zu formulieren. Es war ihm natürlich klar, dass dieser Gedanke fast so alt war, wie die Menschheitsgeschichte. Aber vielleicht hatte er einen weiteren kleinen Weg gefunden, dieser Form des Konstruktivismus, den er an sich nicht unsympathisch fand, wieder etwas Wasser auf die Mühlen schaufeln zu können. Er würde es weiter verfolgen müssen, und sicher: einige empirische Daten mussten hinzugezogen werden, nur so bliebe dieser Ansatz auch in grösseren Kreisen haltbar. So musste sich Dirac gefühlt haben, kurz nach seiner Entdeckung eines quantentheoretischen Novums, dachte sich Benedikt. Doch das war noch zu zementieren.

Mit lautem Getöse schoss nun der Rest des Kaffees durch die kleine Bricca. Benedikt war nun bester Dinge und goss ihn in eine übergrosse Tasse, worin er noch im selben Moment erkaltete. Dann steckte er sich eine Zigarette an.

Benedikt ordnete immer noch das schon vorhandene Material, zufrieden, die einzelnen Passagen benannt, d.h.: zur besseren Austauschbarkeit identifiziert zu haben. Beinahe dreissig solcher Funde waren schon gemacht, übertragen und vermerkt, und mit diesem neuen Schlüssel, wovon Benedikt nun überzeugt war, konnte er vielleicht etwas zeigen, etwas, das für sich sprechen und stehen konnte, etwas, das im besten Falle auch belehrte und erheiterte, etwas, Benedikts Puls war ihm nun halsseitig spürbar und er so etwas wie einem kleinen Rausch nahe, was aber nur ein kleiner Schwindel sein konnte, auf Kaffee und Nikotin und leeren Magen zurückzuführen … etwas … da klingelte das Telefon, was ihn flugs aus seiner Bekiffung riss.

Wer konnte ihn da anrufen? Er hatte doch niemandem seine Nummer gegeben.

Am Apparat war Anna. Sofort fragte er sie, mit ihm ungebührlich strenger Stimme, was ihm aber augenblicklich leid tat, woher sie denn seine Nummer hatte; doch sie konterte geschmeidig: schliesslich sei er ein Benutzer. Eine Bibliothek wisse viel, wenn nicht sogar alles über ihre Benutzer. Dann: ob er denn nun einmal Zeit habe, die nächsten Tage. Benedikt bejahte. Schön, antwortete sie. Sie käme dann vorbei. Benedikt wollte noch nachfragen, wann das denn nun genau sein sollte, da war die Leitung schon unterbrochen.

In der gleichen Bewegung

(E9)

Als sich Benedikt durch den Windfang schob, sah er zunächst einmal: nichts. Zur stark war der Kontrast zwischen Aussen und Innen, das Gefälle der Lichtteilchendichte dieser zwei Räume, bis sich die Augen an die neue Umgebung gewöhnt hatten. Also nahm er den nächstgelegenen Gang mit einer Tischreihe zur Rechten, sporadisch besetzt mit Alleinstehenden oder flüsternden Pärchen, zur Linken eine Holzbar mit grossem Zapfhahn, dahinter ein Zapfer bei der Arbeit, wahr. Von Anna dagegen: keine Spur. Erst als das Hintere Konturen gewann und überhaupt eine abgeschlossene Fläche sichtbar wurde, das Ende des Lichttunnels, wurde ihm klar, dass dort auch noch Nischenplätze waren, mit kleinen Kerzen beleuchtet.

Benedikt steuerte in diese Richtung und bald zeichnete sich auch Annas Umriss ab, über ein Buch gebeugt oder war es ein Notizheft, indem sie blätterte?, vor sich ein Karäffchen Wein und zwei Gläser, das andere gefüllt mit etwas Wasser.

Benedikt war erleichtert, sie zu sehen. Bis jetzt hatte er die Möglichkeit in Betracht gezogen, versetzt zu werden. Das wäre nicht das erste Mal gewesen, und die Umstände ihrer Verabredung durchaus mit dieser Neigung. Einen kleinen Ruck musste er sich dennoch geben, entschlossen an den Tisch treten zu wollen, motivierte sich noch einmal, denn souveränes Auftreten, dachte er, konnte so eine Situation durchaus begünstigen und machte es auch dem anderen leichter, entsprechend seine Rolle zu finden.

Als er auf den letzten Metern noch überlegte, welche Wörter er denn für den Einstand verwenden wollte, denn auch das, dachte er, konnte mitunter entscheidend sein in solcherlei Situationen, entschied er sich dann aber – es waren bald nur mehr zwei Schritte und ihm noch nichts Brauchbares untergekommen – für ein einfaches Räuspern und zog eine dementsprechende Menge Speichel nach hinten in den Luftkanal, damit dieses auch einigermassen glaubhaft geäussert werden konnte, nahm sich Anna blitzschnell ein Zigarillo aus einem Etui, zündete dieses in einer eleganten Bewegung an, erkannte ihn noch während dieser Bewegung und nickte ihm zu, rückte einen Stuhl an ihrer Seite zurecht, strich über das Metalltischchen und beseitigte auf diese Weise ein paar unsichtbare Schmutzpartikel, klappte ihr Buch – oder war es ein Katalog?, das vermochte Benedikt immer noch nicht bestimmen – zu, exhalierte und begrüsste wie selbstverständlich mit einem vertrauten: Hallo. Worauf sich Benedikt etwas verschluckte.

Er würde sich wohl eher als Biertrinker bezeichnen, getraute sich aber nicht einzuschreiten, als Anna dem griesgrämigen Zapfer ein Handzeichen gab, das auf ein nochmaliges Karäffchen hindeutete und die Frage, ob auch er ein Glas wolle und ein weiteres Handzeichen aber nur kurz darauf noch einmal gegeben wurde. In einer grösseren Ausführung, allerdings.

Um das klarzustellen, begann Anna, ich freue mich, dass Sie da sind und sich mit mir über Ihr Projekt unterhalten möchten, aber: bitte schauen Sie mich dabei nicht so benutzermässig an.

Damit wollte sie ihm lediglich sagen, wie sie präzisierte: sie arbeitete vielleicht in einer Bibliothek und erledigte damit naturgemäss bibliothekarische Dinge, aber in der Zeit, jenseits dieser Zeit, der Zeit also, die sie als Possessivzeit bezeichnen würde, sei sie eigentlich das Gegenteil von dem, was sie in jener Zeit möglicherweise darstellte, und worüber sie eigentlich nicht so gerne spräche.

Benedikt wollte natürlich mehr erfahren, bekam aber kaum eine Gelegenheit, den Verlauf ihrer immer angeregteren Rede zu durchkreuzen und dieses etwas mitzugestalten.

Auf dem Papier war sie wohl eine Halbtagsbibliothekarin, dabei wehrte sie sich immer gegen derlei Vereinnahmungen, denn vielmehr war sie, Benedikt sollte dieses hässliche Wort doch entschuldigen: Halbtagsschreiberin. Und vielmehr noch ein Halbtagsdichterin. Vielmehr noch eine … Aber das führte jetzt etwas zu weit, unterbrach sich Anna. Jedenfalls ernährte das eine das andere, notgedrungen, und nicht umgekehrt.

Sie schreiben also Gedichte?, fragte Benedikt noch einmal nach, wie um sich wieder ins Spiel zu bringen, verfluchte sich aber noch im selben Moment, denn er wusste, dass er etwas Dummes gesagt hatte.

Anna schaute ihn milde an, und ihr verzeihenden Augen, schien es, deren Aufschlag ihn nun bannten und verzauberten, für einen kurzen Moment, entspannten sich ein wenig. Da bliess sie ihm in einer Beiläufigkeit ihren Rauch ins Gesicht, dass er nun wirklich nicht wusste, ob dies mit Absicht geschehen war, oder nicht.

Er musste gegenrauchen. Im Begriff, seine Parisiennepackung hervorzukramen, schob Anna ihm ihr Etui hin und forderte beinahe: Bedienen Sie sich bitte, sodass Benedikt zugriff, er wollte ja nicht als Drückeberger dastehen, dachte er sich.

Er kam nicht zum Zug. Immer, wenn er auf seine eigene Arbeit zu sprechen kommen wollte, schaffte sie es, das Thema umzulenken, ihm den Boden unter den Füssen wegzuziehen, ihn regelrecht in eine Fragehaltung zu zwingen, die ihm selbst auch noch ein ehrliches Interesse an ihrer Person und deren Possessivzeitgestaltung, suggerierte.

Einen durch und durch absurden Job hatte sie da, den sie nur durchs Schreiben ertrage, oder besser: schreibend, aber eher war es ein eigentliches Schreiben, das sie über das andere finanzierte, wobei ersteres aber doch wieder auf eine gewisse Weise zurückgab, konnte sie denn sonst noch arbeiten, vielleicht aber befinde sie sich auch irgendwo dazwischen, das könnte sie manchmal selbst nicht so genau sagen, das war so eine Tagesformangelegenheit, da widersprach sie sich manchmal selbst, wie sie von sich wisse, und überhaupt: wiederholte sie sich auch manchmal, aber ihre Einsicht: alles sei Wiederholung und die Tatsache, dass diese nur in anderen Worten verkleidet war, war für sie noch kein hinreichender Grund, dies zu beschweigen, was sie aber auch manchmal bedauerte, wie sie nun sagte und noch einmal nachgoss und ihren Zigarillo ausdrückte. Dann entschuldigte sie sich und ging auf die Toilette.

Es handelte sich um kein richtiges Buch, eines also, das von einem ordentlichen Verlag vertrieben wurde, eines, das in einer festgegossenen, unabänderlichen Form hergestellt worden war und diese in einer gewissen Exemplarzahl einer gewissen Exemplarzahl an möglichen Lesenden zugänglich gemacht worden war. Da gab es wohl viele bedruckte Seiten und sogar der gesamte Druckblock schien fein durchnummeriert. Aber die Zeichen der Titelei und des Impressums waren merkwürdig durchscheinend und auch das Papier darunter in hoher Opazität, dass sie eigentlich gar nicht erst gelesen werden konnten. Einband und dessen Innenteil waren in schlichtem Schwarz gehalten und was darauf stand, war ebenfalls schwarz und nur schwach erhaben, sodass Benedikt bei diesen Lichtverhältnissen denn auch gar keine Anhaltspunkte zu dessen Herkunft oder Inhalt ausmachen konnte.

Allerdings waren, wie er beim Durchblättern feststellen konnte, die Seiten durchgängig und aufsteigend nummeriert. Oder waren sie es nicht, denn immer wieder schien eine Seite aus einer natürlichen Nummernfolge zu tanzen und auch die Letztnummerierte konnte sich nicht auf eine konkrete Zahl einigen? Er blieb an einer für ihn lesbaren Stelle hängen.

am schreibtisch // versucht mich die sprache zu / doppeln zu doppelter führung zu / zwingen die zeichen in ordnung zu / bringen die / einmal sehr ordentlich aufgestellt waren bevor / wir uns kannten und / nun eher tropfend als fliessend ein / nachmals umschreiben ein / vormals und damals und mehrmals in hauch / dünnen lettern den blättern / aufdrängen und diese zu / türmen bald anschwellen / lassen ich kann sie nur / fassen indem ich sie / binde in grosser verknappung sie fortschicken möchte zu / einem der möge sie horten für / eine die das einmal lese zur / strasse hinaus in die richtige richtung den / schienen entlang im begriff zu versenden am / häuschen im regen da / wartest schon du //

Noch weitere solcher Texthäufchen, manche flatternd, andere wiederum blockmässig, alternierend, einem ihm unbekannten System gehorchend, schienen sich in dieser Art lose auf das Buch zu verteilen, und Benedikt hätte gerne weiter darin geblättert, als er beobachtete, wie sich die Toilettentüre öffnete. Er klappte es hastig zu und versuchte es wieder in die rechte Position auf dem Tisch anzurichten, doch an diese konnte er sich plötzlich nicht mehr erinnern. Er spielte den Unschuldigen. Anna war wohl aufgefallen, dass etwas dejustiert worden war, doch auch auf einmal in Eile, denn sie schaute allzu betont auf die Uhr. So spät schon? Um Himmels Willen! Nun haben wir uns wohl etwas verschwatzt, tat sie aufgebracht.

Benedikt wollte gar nicht darauf eingehen und sie lieber weiter ins Gespräch verwickeln, egal, wie einseitig es gewesen war. Bekomme ich denn einmal ein paar Gedichte von Ihnen zu lesen? Ungern, sagte Anna, alles unhaltbares Zeug. Das meiste schmisse sie wieder weg, und: da war im Moment gar nichts Repräsentatives vorhanden und in letzter Zeit beschäftigte sie sich ohnehin mit eher dramatischen Texte.

Wie interessant, gab Benedikt zurück, schon wieder war er entsetzt über seine langweilige Replik, darf man … Dürfen Sie. Es geht natürlich um, Sie haben es sicher geahnt, eine Handlung, die in einer Bibliothek spielt. Ein kleines Bibliotheksstückchen. Jetzt aber nichts, was Sie denken, denn es könnte im übertragenen Sinne auch irgendwo ganz anders spielen.

Aha, räusperte sich Benedikt, nun endlich etwas zufriedengestellter: eine Allegorie also?

Naja, ergänzte Anna, eine Art beispielhaftreale Bibliothek in einer völlig absurden Situation. Das Absurde darin ist allerdings, dass die Situation völlig der Realität entspricht. Soso, mit so einem Lifeisstrangerthanfiction- Ansatz?, hakte Benedikt nach. Ich kann jetzt wirklich noch nicht weiter darüber sprechen. Es ist alles noch ein wenig zu früh.

Benedikt fasste sich ein Herz und zeigte auf den schwarzen Wälzer. Das Buch da! Und was hat es mit diesem Buch auf sich? Anna nahm es an sich und packte es ein, um in der gleichen Bewegung eine Geldbörse hervorzukramen. Sie müsste nun wirklich los, bedauerte sie, sie habe noch einen wichtigen Termin. Und die bibliotheca caelestis? Was ist nun damit? Erst jetzt kam Benedikt auf den eigentlichen Grund ihres Treffens zu sprechen. Ein anderes Mal, sagte Anna. Wirklich, Sie wissen ja, wo Sie mich finden. Dann ging Sie zur Theke und wollte dort bezahlen, doch Benedikt rief ihr nach, dass er dies gerne übernehmen würde.

Als sich der Windfang hinter ihr schloss. rief Benedikt den Wirt herbei, um zu zahlen. Noch auf dessen Anweg zerbrach er sich den Kopf, ob er denn etwas falsch gemacht hatte und wie es denn nun weiter ginge, da stand dieser schon vor ihm. Benedikt bemerkte jetzt erst, dass er seinen Geldbeutel nicht mit sich führte.

Bitte warten

(E8)

Das Imaginäre. Das Spekulative. Das Absurde. Die theoriebildenden Kanäle. Benedikt war verwirrt, als er sich noch einmal all die unterschiedlichen Ausschnitte vorgenommen hatte. Wie sehr er sich auch bemühte, er konnte keine Klarheit in die Begrifflichkeiten, in ihre Unterscheidung, in die einzelnen Ansätze bringen. Schrieb der eine Autor über dieses, meinte er aber auch jenes, unter Ausschluss wiederum eines anderen. Ein anderer sah im anderen dieses und in jenem ein Tertium, das er in eine Fussnote verdrängte. All die Konzepte theoretischer Bibliotheken also solcher, die es – nach Benedikt – nur auf den Vorstellungsflächen eines Lesers zu besichtigen gab, wurden nur mit einem mehr oder weniger starken Vielleicht, nicht nur in ihrer Umsetzbarkeit, nein, sogar in ihrer Versteh- und weiter: Vermittelbarkeit bestimmbar. All diese Gebilde hatten nur eines gemeinsam: eine sprachliche Ursprünglichkeit, an der jedes andere Medium zu knabbern hatte.

Benedikt erinnerte sich an einen kleinen Abschnitt, den er innerhalb eines Kapitels seines ersten Romans platziert hatte. Es war eine Art Miniphilosophie des Vielleicht, und er hoffte nun, dass er dieses vielleicht plündern konnte, dass er das dort einmal Gedachte, herübernehmen konnte und auf der seltsam abgesteckten Fläche, einer kaum umrissenen Karte der paar Wörter, die er bald immer weniger verstand, auswalzen konnte, als Backmasse, die einen soliden Boden abgeben würde, die er dann vielleicht mit einer selbstgefundenen Bezeichnung nur noch auszustechen hatte.

Alles Suchen war erfolglos. Weder auf seiner Festplatte fand er etwas, das ihn über den Titel zu diesem Abschnitt brachte, noch ein Retrieval mit einer Suchmaschine, die er über seine Internetseite auf die er all sein Geschriebenes spiegelte, gleiten liess, machte ihn fündig. Eine Abfrage mit dem Wort „vielleicht“ ergab ihm, schien es, dagegen eine unendliche Treffermenge, die er nicht einmal in einer Schnelldurchsicht bewältigen wollte.

Dann schaute er auf die Uhr. Schon Zwölf vorbei. Er hatte den ganzen Vormittag durchgebracht ohne auch nur einen Satz zu Papier zu bringen. Und was er in die unzähligen Formularfelder eingegeben hatte: alles vergessen. Er war an einem Punkt angelangt, an dem seine Suchhistorie, wie er sich nun vorstellte, selbst den Umfang eines Romans haben musste und belustigte sich auch sogleich über diese Vorstellung. Eine Suchhistorie zu einem Romanthema selbst als Roman auszugeben, wie es in jüngerer Zeit wohl durchaus möglich geworden war, nachdem ein Roman denn fast alles sein konnte, was eine gewisse Zeichenlänge überdauerte und die Entwicklung seines Inhalts – eine Frage der Dechiffrierungskompetenz – nun schon seit langem in die Verantwortung seines Lesers übergegangen war. Ein netter Einfall. Aber Benedikt genügte es in diesem Moment so etwas Nettes gedacht zu haben und beliess es damit und strebte nicht etwa seine Umsetzung an, nach der Abwägung kategorischer und anderer Imperative: er selbst würde dies nicht einmal lesen wollen.

Dann öffnete er eine Flasche Bier, denn es war ja schon zwölf vorbei und liess Luft in eine Dose Wasabi.

Bibliotheca caelestis war der seltsame Titel, den er dann nach weiterer, etwas lustloser Recherche im Onlinekatalog der Bibliothek fand. Er war eigentlich per Zufall auf diesen Eintrag gestossen, wie, das konnte er sich nun im Nachhinein nicht mehr erklären. Vielleicht, weil er auch den Untertitel Versuch über die Unmöglichkeit einer Ordnung enthielt, und ihm nach Ordnung, zumindest im Moment zumute war.

Das Indexat enthielt noch keine Sacherschliessung und auch im Standortfeld fand er nur die dürftige Information: in Bearbeitung.

Um weitere Auskünfte darüber zu erhalten, denn Benedikt hatte es sich nun partout in den Kopf gesetzt, darüber Näheres in Erfahrung zu bringen, und offensichtlich war auch dem gesamten Internet dieses Buch ein Fremdes, rief er auf einer Zentralnummer an, die ihn aber nur mit einer ausweichenden Antwort eines Automaten beunfriedigte. Schnell trank er noch ein weiteres Bier, dann machte er sich erneut auf den Weg in die Stadt, liess alles stehen und liegen, fertigte aber schnell noch einen Bildschirmausdruck seines Funds an. Er wollte ja nicht wieder mit leeren Händen dastehen.

Heute kam es ihm so vor, als wäre noch viel grösserer Betrieb und die Summer der Checkpointkonsolen am Eingang in pausenlosem Einsatz, die Schlangen vor den Ausgabestellen und Terminals, mit zuckenden Schwänzen, eine Geraune wie vor Vorstellungen üblich, bei denen lange nicht gesprochen werden durfte. Verbitterte, frustrierte Fassaden, schubweise Hektik, Zwischenrufe, Insultationen, Hände in Nebenhänden, das Lesen im Lesesaal verunmöglicht, ein Schild am Eingang des Katalogsaals: Entschuldigung, ein Serverausfall, man arbeite daran, danke.

Benedikt machte sich gar nicht erst die Mühe, sich in einen langen Wartepfad einzureihen, sondern ging direkt, beschwingt wie er immer noch war, wieder quer durch den Saal in Richtung des kleinen Kabuffs, worin er Hilfe hoffte.

Auf sein Klopfen erhielt er keine Rückmeldung, auch nicht auf das kunstvoll synkopierte oder war es nur in diesem Gewitter untergegangen? Er wollte es ein letztes Mal probieren, erntete aber verständnislose Blicke, dachte er, von Seiten der aber vollständig eingebundenen Bewirtschafter, die sich aber allesamt schnell wieder an das Ausfüllen von Kärtchen machten.

Mit dem Ohr an der Türe konnte er sich aber dennoch etwas Zugang verschaffen. Konnte ihre Stimme, die das gesamte Betriebsgeräusch in eine stumme Kugel zu bannen vermochte, hören, die einfach nur: lieblich war und eine andere Umschreibung ihm gerade nicht zupass – , wenn auch etwas unter Druck geraten. Er presste die Klinke nach unten, sie gab ihm gerne nach. Anna schien sein Erscheinen gar nicht zu bemerken, so intensiv kümmerte sie sich um ihre Klientel am anderen Ende der Leitung. Erst als sie diese unter vielmaligen Vertröstungen verabschieden konnte, blickte sie auf und erschrak ein wenig.

Als auch die zweite Leitung zu glühen begann und ein Wortwechsel mit ihr verunmöglicht wurde, stellte Anna mit ein, zwei entschlossenen Tastenkombinationen die penetrante Belästigung auf lautlos, sodass lediglich ein paar nervöse Lämpchen von prallgefüllten Pipelines kündeten, und wendete sich Benedikt zu, gar nicht erbost, dass er hier unerlaubt hereingeraten war, sondern fragte ihn, geschäftsmässig freundlich allerdings, wie ihm denn zu helfen sei.

Benedikt bedankte sich höflich dafür, dass sie sich ihm widmen wollte und legte ihr den Ausdruck vor, schob nach, ob er denn Einsicht in dieses rätselhafte Werk erhalten konnte, sobald es denn bearbeitet worden war.

Anna errötete schlagartig, nachdem sie den Eintrag gesehen hatte. Dann wand sie sich umständlich und versuchte ihm den komplexen Durchlauf eines Buches in dieser Institution zu schildern, wie es von seiner Bestellung bis hin es zu seinem ersten Benutzer gelangte, wie man die Leser hier nannte, worauf sie stockte, als sich hinter Benedikt die Türe öffnete und ein Vorgesetztengesicht abzeichnete. Anna, sagte es kurz und machte eine Brauenbewegung, um sich dann wieder zurückzuziehen. Es erzielt eine Wirkung. Anna versuchte sich kurz zu fassen. Ich kann jetzt wirklich nicht, und: es liegt bei diesem Fall etwas anders. Dann hielt sie erneut inne. Das Buch, das Sie da suchen, setzte wieder an, es ist tatsächlich noch nicht vorhanden, es ist vielmehr wirklich „in Bearbeitung“. Und: sie könne noch nicht einmal ungefähr sagen, wann man es denn greifen könne, ach, flüsterte sie nun beinahe: ich will zu Ihnen ehrlich sein. Ich habe es.

Aber ich kann im Moment beim besten Willen nicht mit Ihnen darüber sprechen. Nicht hier. Benedikt war unangenehm berührt, dass er mit seinen Wünschen Anna offensichtlich in Schwierigkeiten brachte. Ich kann warten, meinte er schliesslich, und: es eilt überhaupt nicht, und: es wäre nur schön, könnte man mich benachrichtigen, sobald es zugänglich wäre. Er verspräche sich doch soviel davon, fügte er hinzu, von seinem Titel, denn mehr kannte er ja noch nicht, oder noch eher: von seinem Untertitel. Und dass er eigentlich nie so unverfroren gewesen, ja, dass es seiner Persönlichkeit sehr zuwider läge, sich so in Stellung zu bringen … Dann entpackte er ein Kräuterbonbon, als er auch seinen Atem für unangemessen befand und nahm dieses ein. Und: ja, es sei ein Thema, das ihn gerade brennend beschäftigte und er war gerade: irgendwie in eine Sackgasse geraten.

Anna begann gerade etwas aufzutauen, da tauchte wieder der Kopf des kahlen Herren auf, nun mitsamt Oberköper, der in ein kariertes Jackett gefasst und von einer grünen Krawatte zusammengehalten wurde. Anna!, gab er – nun noch etwas bedrohlicher – von sich, um ebenso wiederholt, einer Kasperlpuppe nicht unähnlich, ins Jenseits des Vorhangs zurückgeholt zu werden.

Wissen Sie was?, beendete Anna nun das Gespräch und reaktivierte das Klingeln der Sprechanlagen. Wenn Sie unbedingt etwas darüber erfahren möchten, dann finden Sie mich heute Abend im Güldenen Falken. So um Sieben. Wissen Sie wo das ist?

Durchs naturhysterische Museum

(E7)

Warum grünen die Bäume so saftig, zwängen sich durch die Bögen, blinzeln zurück, neugierig, wedeln mit hölzernen Schlingen? Warum spiegeln sich Jahreszeiten, achsensymmetrisch oder drehen sich um ein geheimes Zentrum, um einhundertachtzig Grad? Gerade einmal so, dachte sich Benedikt, als er in die Laube eintauchte. Und die Arkadensteine: die grauen Blöcke gewinnen an Oberfläche, schleudern Himmel in ungewohnte Ecken und beschallen, entschatten beiläufige Hotels mit eiligen Menschen, Portiers in einladenden Kostümen nehmen ein paar Koffer in Empfang und nicken dem Vorbeischwebenden zu, wie Benedikt registrierte. Und das kleine Parkcafé, zu Unzeiten bestuhlt, füllte sich mit plappernder Masse, die sich die Lippen mit Milchschaum verzierte, dazu das nun weniger geplärrte Frühlingslocken des Federviehs, das sich gierig um Streuselkuchenreste balgte, Teichententauchen, wohligwarmes Wasser wahrscheinlich, binnen Augenblicken, Hitze, feuchte Hände, Achseln, des ungewöhnlichen Klimas oder der einigen Kilos wegen, deren Schwere aber nicht weiter ins Gewicht fielen, fragte sich Benedikt.

Selbst den verlotterten Damen am Strassenstrich war er wohlgesonnen und beschleunigte nicht, sondern tanzte seitlich an ihnen vorüber, grüsste die gesichtslosen Mütter auf einem Spielplatz ganz in der Nähe, schob Förmchen zurück in den Sand, liess sich beschnüffeln von einem herrenlosen Hund, das vorher Gekotete weitgehend ignorierend.

Etwas war anders, aber Benedikt noch nicht bereit diesem Zustand einen Namen zu geben, obwohl er ihn doch einigermassen genoss. Insgeheim wusste Benedikt natürlich, was geschehen war, aber das war nichts Neues, das heisst: das Sogeschehene war ihm vertraut und konnte etwas bedeuten oder auch nicht.

Schon die Wahrscheinlichkeit der Bedeutungsfähigkeit des Ereignisses zu berechnen, unterliess er aber, weil er dies desöfteren schon unternommen hatte, nie aber, ohne dieses Ergebnis wieder revidieren zu müssen.

Also blieb ihm: kein Name und auch nicht ein vager Anhaltspunkt, um nicht zu sagen: Beweis, dass hier etwas nicht ganz Geheures vorlag, das dieses noch Namenlose einmal charakterisieren könnte, und das war nicht viel.

Es blieb also bei diesem Gefühl, ein Wort, das Benedikt nicht besonders schätzte, und auch nicht das, was es mehrheitlich zu bezeichnen meinte, aber er beschloss, es dennoch irgendwie positiv zu akzeptieren.

Wenn, ja wenn es nicht weiter seine Arbeit behinderte, denn diese fortzusetzen und abzuschliessen, so schärfte er sich ein, hatte im Moment oberste Priorität, bis er sich wieder einmal etwas anderem zuwenden wollte. Und das sollte noch warten können.

Da gab es noch Einkäufe zu tätigen. Obwohl seine materielle Versorgtheit für einige Jahre abgesichert schien, entsagte sich Benedikt den Griff ins Feinkostregal, ja überhaupt: die Besorgung ökologisch wertvollerer Produkte der Marke „naturaplan“, um hier und da einen Rappen zu sparen. Gewohnheit? Sozialisierung? Vielleicht, und Benedikt gedachte einen Moment seines gotthabihnseligen Vaters, der auch immer nur Instantkaffee aus der untersten Abteilung getrunken hatte, aus denselben Gründen vielleicht, weil dessen Vater, Kriegsgeneration, Russland undsoweiter … er also dieses Vaterverhalten nicht abschütteln konnte, jener wie dieser.

Aber er machte Ausnahmen: Da waren diese leckeren Nüsschen in indischer Gewürzkruste, vakuumverpackt in einer Aluminiumdose, die auch gut als Aschenbecher taugte: bei diesen musste er immer zugreifen. Und bei den Tütensuppen machte er eine Ausnahme und kaufte sich immer einen mittelgrossen Vorrat einer höherpreisigen Sorte. Einer, bei der im nicht immer schlecht wurde.

Und an der Kasse, zusätzlich: zwei Päckchen „Parisienne orange soft“, denn er war vor kurzem auf Leichtzigaretten umgestiegen. Die Verkäuferin kannte diesen letzten Wunsch am Band schon und liess, wenn er mit seinem schütterbestückten Wagen in der Schlange auftauchte, sogleich die automatische Zigarettenorgel herunter.

Heute schwenkte Benedikt noch einmal aus. Hatte er etwas vergessen? Sicher war diese Ungewissheit mit diesem Gefühl in Zusammenhang zu bringen, das er aber auch nicht hier weiter analysieren wollte. Ah ja, verrückte Idee, er hatte einen mächtigen Appetit auf ein Eis und schob noch einmal zurück zu den Gefriertruhen, einer bunten Eiswand, vor der er zunächst nicht in der Lage war, irgendetwas auszuwählen, weil das kollektive Farbgeschrei die Trennschärfe der einzelnen Produkte unterlief.

Einen Waldmeisterfinger. Wie lange hatte er den nicht gegessen? Er war erstaunt, dass es dieses Eis immer noch gab, erstaunt auch, dass er es noch wiedererkannt hatte in diesem Gemetzel und stellte dann fest, dass an ihm verpackungsmässig die Zeit scheinbar spurlos vorübergegangen war. Nur in der Preisklasse wurde nach oben angepasst, wie er sich nun erinnerte, aber das war ihm heute egal, denn: da war dieses Gefühl, das alle weiteren Kriterien verdrängen konnte, und er griff zu.

Mit dieser Wahl hatte er die Kassiererin etwas aus der Fassung gebracht, zumindest kam sie kurz ins stocken, als sie das Eis über den Scanner zog. Sie blickte ihm tief und verschwörerisch in die Augen, dachte Benedikt. Dann wurde alles andere wieder zur Nebensache.

Vielleicht hatte dieses Gefühl aber doch auch nur mit dem etwas ungewohnten Wetter zu tun, das ihn und seine Umgebung in einen durch und durch hormonellen Zustand beförderte, wie er nun überlegte. Das wäre gut, denn auf Sonnenschein folgte bekanntlich Regen, und dieser war wiederum gut für den Rasen, wie sein gotthabihnseliger Vater immer zu sagen pflegte, wenn ihm nichts weiter dazu einfiel, erinnerte sich Benedikt, als er den Schlüssel ins Schloss schob.

Wo war er stehengeblieben? Ah, richtig: Vor seinem Schreibtisch. Benedikt packte seine beiden Plastiktüten aus und vergewisserte sich noch einmal. Mit Anna war er jeden einzelnen Titel durchgegangen und die Richtigkeit dieser Herausgabe stand völlig ausser Zweifel, aber dennoch hoffte es in ihm irgendwo, dass es noch etwas zu beanstanden gab. Gab es aber nicht, und er wurde wieder zurückgeworfen in die Rolle des Entscheiders: was primär werden sollte aus dem Bereich des Sekundären, überhaupt: was nun, aber das hatte man ja schon einmal, wie ihm jetzt einfiel, zuerst begutachtet werden würde, also fasste Benedikt sich schnell und griff – dieses Mal mit geschlossenen Augen und nachdem von ihm ordentlich gemischt worden war – zu.

Weiter unten wollte er sich Notizen machen, denn genau diese Fragen, wenn nicht sogar diese Fragestellungen mussten dokumentiert und verfolgt werden. Und er versuchte sich Fragen zu stellen und bekam sich nicht gefragt. Und verwarf, eine Frage zu stellen, denn bald hätte er sich auch mit nur ein paar wenigen Wörtern begnügt. Ohne Fragezeichen. Die Passagen betreffend, beispielsweise, und ihre Korrespondenz mit den „kargen Leben“. Es wollte keine Frage werden, nicht einmal ein halber Satz. Nicht einmal eine Halbsatzhälfte. Und dies alles mit Leibniz zu verknüpfen. Etwa eine Leibnizthese darin zu finden, war ihm im Moment unmöglich. Schliesslich handelte es sich hierbei um eine Grossthese, die gar nicht daran dachte, in etwas allzu Konkretes überführt werden zu wollen. Benedikt hielt in diesem Moment inne, denn er fühlte sich plötzlich sehr seltsam, fühlte sich – er wusste gar nicht wie anders zu beschreiben – als einfach nur: hier. Für ihn noch abseitiger: er hatte plötzlich ein ganz präzise Lust auf den Waldmeisterfinger, den er auch alsbald öffnete.