Trost

(E6)

Benedikt ärgerte sich. Er war mit seinem veranschlagten Zeitplan für diesen Tag schon weit hinterher, hatte sich ablenken lassen, hatte an Fenstern gehangen und das Treiben auf dem Spielplatz auf der gegenüberliegenden Seite verfolgt, hatte sich von vielversprechenden Titeln seiner Tageszeitung einfangen lassen, die alle nicht hielten, was sie versprachen, und hatte zuviel Kaffee getrunken, sodass er nun kaum still sitzen konnte und die Schreibhand zitternd, aber nicht aus Gründen eines Überdrucks etwa, der bald eine Blase zum platzen brächte und das leere Blatt vor ihm füllen würde, sondern aus dem naheliegenden Grund, der nun völligen Nervenüberreizung.

Natürlich war ihm auch der Bücherberg, der sich vor ihm aufbaute und den er nicht weiter bewegt hatte, seit er ihn gestern hier zwischenlagerte, ein Graus, eine kaum zu überwinden scheinende Herausforderung, für die er noch nicht einmal angemessen ausgerüstet schien, wie er nun dachte. Die einfachste Möglichkeit wäre sicher, es so zu machen, wie er es immer zu tun pflegte, also ein beliebiges Buch zu nehmen und es zu öffnen, an einer beliebigen Stelle.

Ein Verfahren oder eine Zugangsweise, die ihm schon oft nützlich und zupass kam, wenn er sich in einem unübersichtlichen Meer von Aussenständen bewegte, die alle gleichermassen aufdringlich um seine Aufmerksamkeit warben.

Gerade wollte er sich ein Bändchen vornehmen, das ganz zuunterst des Gewächses lag und etwas dünn geraten war, und vielleicht gerade deswegen verlockend oder auch: wegen einer etwas Beifall heischenden Symmetrie der Signatur am Buchrücken, da stockte er in der Bewegung, wie es uns im Moment eines plötzlichen Dejavues geschehen kann, das uns ein Wiedererkennen vorspielt und uns gänzlich und für eine kurze Zeit aus allen Räumen und Zusammenhängen entfernt.

Und es war eher ein Gefühl als konkretes Bild, das sich da auftat, aber sogleich von Benedikt einem Ereignis zugeordnet werden konnte, was wiederum von ihm als eher seltenes Phänomen gewertet wurde. Dieses Gefühl, das zwar allmählich ein Bild, aber allerhöchstens ein Schriftbild erzeugte, war von ihm, wie ihm allmählich dämmerte, in einer ebensolchen Lage schon einmal untergekommen und gespeichert, und es hatte mit seiner ersten längeren Arbeit zu tun. Seinem Roman, wie er sie nun selbstbewusst nannte.

Auch dort hatte er sich mit dem Zugriff auf geschlossene Bücher beschäftigt, oder war das zu einem Zeitpunkt, als er sich in Gefangenschaft eines solchen befand?

Er ging wieder hinüber in sein Arbeitszimmer und holte sich das Exemplar mit den Korrekturen letzter Hand. Wie dankbar war er nun sich und dem Text, dass er damals ein ausführliches Register angelegt hatte. Mehr noch: dass eigentlich das Register den Kern des Buches darstellte. Die meisten Leser seines Buches hatten sich vor allem auf das Register gestürzt und nicht wenige gaben zu, nur dieses gelesen zu haben, was ihnen aber vollauf zu genügen schien, wie stets versichert wurde, und der Haupttext, was nicht weiter schlimm wäre, weil nun einmal notwendig, für sie mit dem Charakter einer Fussnote.

Benedikt fand die Registerstelle sehr schnell, denn diese war auch nach dem Erscheinen des Romans eine wieder und wieder konsultierte Seite, die weiter mit Stichworten und handschriftlichen Eintragungen versorgt und ergänzt worden war. Mit immer neuen Ideen und Gedanken, die im Falle einer Neuauflage dort hätten einfliessen können.

Es handelte sich um eine sehr kleine Passage aus dem fünften Kapitel, die er Kleine Theorie des Exzerpts genannt hatte, von dieser aber allerdings nur noch, zumindest in der von ihm überschriebenen Fassung, der Titel übriggeblieben war. Benedikt las:

Während der Lektüre der alten Dokumente kommen ICH Zweifel an der Sinnhaftigkeit seines Tuns. Vor allem die Texte zu exzerpieren bereitet Mühe, da auch dieses Verfahren eine subjektive Schnittsetzung bedeutet und damit nun weder wissenschaftlich sauber, noch fiktional originär wäre. ICH arbeitet dennoch weiter.

Eine nicht mehr besonders aussagekräftige Eintragung nach all den Überarbeitungen, dachte Benedikt, und fragte sich kurz, ob das denn nun der Sinn seines vielfachen Überarbeitens sein konnte, doch dann, und vielleicht war es gerade das, was hier als Sinn entwickelt wurde, blätterte er über einen Verweis zu der hier so zusammengefassten Passage zur Originalstelle und machte es sich mit ihr gemütlich.

Überhaupt: Die Stille. Die Arbeit am Exzerpt ist eine methodische und deshalb unbefriedigende Frage und quält mich. Ist das, was da von mir ausgeschnitten wurde und wird, was da von mir als wichtig oder irgendwie bedeutend wofür auch immer von mir erkannt und isoliert wird, was da also von mir möglicherweise auch physisch herausgelöst wird, vorsichtig, sicherlich, aber sich dann, nachdem es vorne und hinten und oben und unten gekappt wurde oder auch aus einem ganz anderen Medium in dieses überführt wurde, noch originär? Und: Wozu es gut sei ohne Hinblick? Oder ist es nicht etwa Etwas, das man schon mit seinen Schnitten gestempelt hatte? Und würde es dann nicht ganz etwas anderes bedeuten? Vor allem einen Missbrauch? Etwas in etwas anderes einzubetten.

Ja selbst wenn es sich noch nicht in seiner neuen Heimat befände, wenn es sich also auf dem Weg, aus dem langen Schlaf der Geschichte gerissen und mit noch verklebten Augen herausgezerrt fühlt, fast nackt, durch den Kopf des wieder ersten Lesers, also mir, dann in der Luft, dann durch Tastenschläge malträtiert, auch wenn nichts darauf hindeutete, dass etwas in so einer langen Kette verloren ginge oder geändert würde: wenn es sich also daraus formiert, digitalisiert und nun nicht mehr auf halbsaurem, gelblichem Untergrund sauber dahingeblättert liegt, sondern auf blütenweiss glänzender Leinwand, einer Plasmaschicht, die nach der Auslöschung des Lichts mich spiegeln will? Was wäre dabei passiert?

Einige Momente der Entauratisierung, oder, muss man sagen: der Transautorisation wären dann verstrichen und der exakte Ort nicht mehr lokalisierbar, notiere ich darunter.

Und: Dass all dies nur zur Fussnote taugte, die nur im Zweifelsfall etwas sagen und bestätigen oder widerlegen soll, was nur beiläufig zu erwähnen ist und dann aber nur vielleicht irgendetwas erhärtet. Dabei, scheint es mir, ist es unerheblich, wie lange das Gesagte, wie klein zerstückelt, wie – wieder miteinander verschachtelt und verkettet – das Erscheinungsbild des Entnommenen, nur diesem einen Zweck, so die Vermutung: dort konkret zu werden im Moment des Sinnlichkeitsverlusts. Und mich etwas zu stärken auf Kosten besagten Missbrauchs in einer Fussnote, die von niemanden gelesen wird. Das ist der Trost.

Benedikt kam wieder zu sich. In nicht wenigen Fällen eines solchen Lektüreschlafs blieb nicht etwa nichts von der durchschlafenen Passage in ihm übrig, sondern manchmal ein, zwei reisserische Sätze, die um Verwebung baten, in diesem Falle: Der Trostblock. Nur dieses Wort schon zu lesen, hinterliess in ihm ein Gefühl des Trostes und der Versöhntheit, sodass er den Nachgeschmack eines weiteren Überbleibsels seiner dort fortgeführten Theorie des Abschriebs von sich selbst, die allerdings etwas naserümpfend vorgetragen wurde, überwand und diese positiv besetzte. Er notierte: „Der Selbstabschrieb“. Und begann sich dafür innerlich zu preisen, auch wenn dieser nur andeutungsweise und keineswegs stark umrissen oder verworfen worden war von seinem damaligen Ich, so nun: poetisch und als legitime Verfahrensweise empfunden, mit der er sich, wie er gleich darauf beschloss, noch einmal näher beschäftigen würde.

Alles zu seiner Zeit, murmelte Benedikt, denn dieser Komplex, wie er sich nun weiszumachen versuchte, und das musste er strengstens, wollte ihm heute noch etwas anderes gelingen als eine Überdenkung dieses Gedankens, hatte nur mittelbar mit seiner jetzigen Arbeit zu tun. Also: Alles zu seiner Zeit, murmelte Benedikt noch einmal, während er sich wieder dem Buch mit der auffälligen Buchrückennummer zuwenden wollte, da fiel sein Blick auf den Buchrückentitel.

„Eine kleine Geschichte der Ökonomie“, stand da. Und auf der Vorderseite: „Eine kleine Geschichte der Ökonomie“. Benedikt war auf einmal ratlos, dann überflog er die anderen Buchtitel seines Apparats. „Unternehmensethik und globale Märkte“, fand er da, und: „Denkanstösse zu einer anderen Geographie der Wirtschaft“. Undsoweiter.

All das, was er unter grossem Aufwand nach Hause getragen hatte, war nichts, womit er nur irgend etwas anfangen konnte. Lange grübelte er, wie und warum da etwas schief gelaufen war, dann erkannte er den Fehler.

Nur ein kleiner Unterschied in der Schreibweise seines Namens, eine phonetische Namensvetterschaft, musste wohl für dieses Versehen gesorgt haben.

Seltsamerweise trat er den Weg in die Stadt in sehr beschwingter Laune an.

An der Ausleihe herrschte Hochbetrieb. Als Benedikt an die Reihe kam, seine schweren Tüten über den Tisch schob und versuchte, sein Problem zu erklären, erfuhr er der Grund der ungewöhnlichen Betriebsamkeit. Ein Netzwerkfehler, hiess es, der zu andauernden Abstürzen im Zentralsystem der Verwaltung führte. Der Auszubildende wollte ihm noch weitere Details verraten, da griff ein Kollege ein. Eine Kollegin würde sich gleich seiner annehmen, vertröstete man ihn. Im Moment müsste alles händisch festgehalten werden, damit später die Buchungen korrekt nachgetragen werden könnten. In seinem besonderen Anliegen … Dann wurde er zu einem Zimmer geleitet, vor dem er kurz warten sollte, man würde sich gleich um ihn kümmern.

Nach einer kurzen Weile öffnete sich die Türe und die Auskunftsbibliothekarin von gestern bat ihn herein. Benedikt hatte von diesem Moment den Eindruck, dass er sich Ewigkeiten in die Länge zog: der Tritt über die Schwelle in ihr Büro. Unsicher tastete sein Blick die Regale und Veranstaltungsposter in diesem winzigen Raum ab, dann blieb er an dem Namensschild auf ihrem T-Shirt hängen. Ihr Name war Anna.

Wort & Vita

(E5)

Diesen Ort zu skizzieren, der in so grosser Zahl schon skizziert worden war, in seiner Allgemeinheit, mit Worten, wie er sie besser nicht erfinden konnte und es also nur eine Frage der Aneinanderreihung und Menge dieser war, ein halbwegs korrektes Abbild, besser vielleicht: eine Ahnung zu produzieren, wohin er sich jetzt begeben wollte, dachte Benedikt, war paradoxerweise selbst ein Ort, der im Kern nur aus Wörtern bestand.

Einige Studenten standen dicht gedrängt um einen Aschenbecher herum und machten erst Anstalten den Weg durch die Arkaden freizumachen, als er seinerseits mit mehrmaligen Hinweisen auf seine Person und Absichten hinweisen musste. Dann machten sie Platz und liessen ihn stummfeixend passieren. Noch bevor er sich durch die elektromagnetische Sicherheitsanlage schleussen konnte, eilte ihm eine junge Frau mit dunkler Fliegenbrille entgegen, scherte sich nicht um das plötzlich anschwellende Piepsen und Blinken der Kontrollstelen und verliess den Vorraum hastig in Richtung Ausgang.

Der Diensthabende in der Nähe der Installation merkte wohl, dass hier gerade eine Entführung stattgefunden hatte, doch was sollte er dagegen unternehmen? Vor ihm drängelte sich eine Benutzerschlange und er war allein und schmächtig, so schmächtig, das Schulterzucken geriet ihm zu nicht mehr als einem leichten Zittern. Dann setzte er seine Arbeit fort.

Zum Katalogsaal ging es in den ersten Stock über eine spiralförmige, ausladende Steintreppe, die mit einem roten Läufer überzogen war. Noch auf der Hälfte des Weges hing ihm die Mischung aus Cafeteriagerüchen und Männertoilette nach. Eine kleine Vitrine vor dem Eingang des Saals machte auf runde Autorengeburts- und Todestage aufmerksam. Diese Woche feierte Ludwig Harig seinen achtzigsten Geburtstag. Als kleine, bibliophile Delikatesse wurde eine jüngere Publikation des Autors aufgelegt. Ein mit grünem Samtmaterial ausgestattetes Bändchen mit Fussballsonetten, in das auf der Vorderseite ein Fussballplatz hineingearbeitet war.

Etwas davon in Bann gezogen, stiess Benedikt gegen die Glastüre und fühlte sogleich Blicke auf sich gezogen, die sich aber augenblicklich wieder in Bücher oder Bildschirme versenkten. Die übermalten Holzwände schmückten noch Regale mit den Kapseln des sogenannten „Alten Katalogs“, ein papiergewordener Schnappschuss eine Bestandes zu einem bestimmten Zeitpunkt, sortiert und geordnet nach einem ihm unbekannten, dunklen System, in das er sich gar nicht erst hineindenken mochte. Gottlob, es gibt nun die virtuellen Kataloge und ein paar Geheimnisse weniger, dachte Benedikt.

An den Ausleihtresen kam es zu einer ersten, kleinen Enttäuschung.  Die Bücher, die er gestern bestellt hatte, befanden sich in einem Magazin ausserhalb der Stadt. Da musste er sich wohl vertan haben. Aber, wenn er denn noch etwas Zeit hätte: in einer Stunde würden sie mit einem Kurier angeliefert werden, informierte ihn ein Auszubildender. Benedikt kam schnell über seine Enttäuschung hinweg. Er werde einfach noch ein wenig weiter in den Katalogen stöbern, in der Zwischenzeit. Den Auszubildenden schien dies nicht besonders zu interessieren, aber er versicherte ihm, dass man ihn direkt nach dem Eintreffen der Lieferung informierte. Wo er denn sässe? Benedikt zeigte etwas unbestimmt in eine Ecke, in der es noch freie Plätze gab, dann steuerte er einen Rechercheplatz an und justierte sich einen Sessel auf seine Ergonomie zurecht.

Dabei war es gar nicht so, dass er an diesem Platz eine andere Tätigkeit ausführen wollte, als eben die des Suchens und Findens von Büchern und Texten und deren Bestellung. Er hatte nur diese kleine Idee, wie er beteuerte, die ihn bei der Durchsicht der Unterlagen, die ihn zu weiteren, ähnlichen Materialien führen sollte, die ihn also folglich erst eine Idee liefern konnte, von dem, was er suchte, wobei es noch nicht einmal gesagt war, dass er sich denn auch schnell in die ihm hier zur Verfügung stehenden Instrumente einarbeiten konnte und diese beherrschte, aber soweit war es noch gar nicht, denn er, sagte Benedikt, habe sich wie gesagt etwas in die Unterlagen verfressen und wollte nur schnell, ganz zügig also, ein paar Zeilen notieren, er hatte also nicht die Absicht, so lange … Benedikt merkte nun, dass er sich verheddert hatte. Es tue ihm also leid. Dabei, das war von ihm überhört worden, ist ihm nur die Frage gestellt worden, ob man ihm denn helfen könne.

Die Bibliothekarin beschwichtigte ihn und fragte noch einmal. Benedikt errötete. Nein, nein, das ist doch nicht nötig, ich komme schon zurecht, danke, und ja, wenn ich nicht mehr weiterkomme. wende ich mich gerne an Sie. Herzlichen Dank!

Sie sässe dort drüben, und zeigte ihm ihren Arbeitsplatz schräg durch den Raum. Dort. Einfach nur fragen. Und nichts für ungut. Dann verschwand sie wieder so plötzlich hinter seinem Rücken, wie sie aufgetaucht war.

Wie hatte er nur umhergewirbelt? Benedikt versuchte wieder Ordnung in den in Unordnung geratenen Zettelhaufen zu bringen, fand dabei Fassungen von Texten, die er noch mit Namen getitelt hatte. Walter hiess einer. Und MacFinster ein anderer. Und legte sie mit den entsprechenden Vorlagen ab. Dann zweifelte er wieder daran, ob das denn ein günstiges, das beste Verfahren war, oder ob nicht vielleicht eine alphabetische Reihung geschickter wäre, wenn sich die Seiten mehren würden. Doch im jetzigen Rohzustand der Texte schien ihm ein Miteinander der Geschichtchen mit ihren Auslösern am geeignetsten. Weitere Aufstellungs- und Anordnungsstrategien, so machte er es sich noch einmal klar, würden sich vielleicht zu gegebener Zeit schon von selbst einstellen. Und natürlich: all das musste auch noch abgetippt werden. Wäre dies einmal geschehen, vielleicht fände sich dann ja alles noch einmal anders, und doch von selbst, hoffte Benedikt.

Vielleicht war es auch die Unterschiedlichkeit all der bislang entstandenen, kleinen Formen. Keine einzige schien einer anderen zu gleichen. Das musste figurenmässig so sein, aber war das stilistisch auch angemessen? Oder die Ausschnittgrösse der „kargen Leben“: er ahnte schon jetzt, da er kaum zehn solcher Viten geschaffen hatte, das heisst: Ausschnitte von Viten, Vitenschnittchen, dass diese bestimmt zeitlich zwischen Sekundenbruchteilen und Jahren sich bewegten. War dies theoretisch noch vertretbar? War dies noch zulässig bei einer Idee, die doch mehr auf Konstruktion denn auf irgendetwas anderes beruhte. Dann wiederum, besann sich Benedikt, handelte es sich dabei ja wohl um eine Idee, die selbst noch zu Ende gedacht werden musste. Eine Idee also, die sich noch im Stadium ihres Vorvorhandenseins befand. Auch diese Vorstellung konnte Benedikt weiter beruhigen und er räkelte sich und bog sein Kreuz durch, das allmählich etwas zu schmerzen begann. Schliesslich war er der Autor und konnte diesbezüglich schalten und walten, wie er wollte: er hatte da keine Vorgaben. Er war derjenige, der diese lieferte. Als er sich wieder daran machen wollte, die komplizierte, virtuelle Mechanik des elektronischen Katalogs kennenzulernen, rief man seinen Namen aus.

Wie bitte? Das alles soll ich bestellt haben? Benedikt war peinlich berührt, wollte gleichzeitig aber nicht als unerfahren abgestempelt werden und schloss darauf gleich ein: Aha und Ach so, natürlich an. Tatsächlich: mehrere, ganze Werkreihen waren von ihm da vermerkt worden. Benedikt tat weiter so, als wäre dies alles rechtens und beabsichtigt und packte wortlos einen Teil des Stapels, so gut es ging, in seinen Rucksack, war dann aber doch sehr dankbar, dass man ihm mit einigen Taschen aushalf, in die er den Rest seiner Bestellung verstauen konnte.

Weitere Nachforschungen musste er wohl zu einem späteren Zeitpunkt ausführen, dachte er sich da und machte sich, stark beladen, auf den Weg hinaus und wieder die Treppe hinunter. Als es hinter ihm zu Piepsen begann, fragte er sich noch, ob das ein freundliches Nicken der Auskunft war, das ihn da verfolgt hatte, wie er glaubte. Oder etwa ein spöttisches?

Ablegen

(E4)

Gerade als er dachte beinahe einen Standort für sich, nein wohl eher: für sein Schreiben und dessen Ergebnisse bestimmt, das heisst: gefunden zu haben glaubte, kam er an und die Maschinenstimme riss ihn aus einem besonders verrätselten Satz. Monbijou. Sagte sie. Das war die Haltestelle an der er neuerdings auszusteigen hatte. Kleinod, dachte er, da war er nun hingewachsen, und dass es sich nach Kurzatmigkeit anhörte. Und Kleinod wieder: Bijou. Mit den semantischen Restbeständen eines freimaurerischen Logenzusammenhangs, wie die wenigsten noch wussten und er nur deshalb, weil er es eher zufällig in einem Wörterbuch fand, wie das meiste seines Findens eher auf Zufall beruhte, hier passend: nur wenige Schritte bergab und er befand sich in der Gutenbergstrasse mit den grossen Wohnhäusern aus der Gründerzeit.

Das einzige, was ihm an seinem neuen Domizil störte, war das Wissen, dass es nur Übergang war. Aber er war dankbar, dass er es doch so gut getroffen hatte. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass niemand der ehemaligen Anwohner seiner damaligen Wohnung an dem gewaltigen Hausbrand schuld war, wie verschiedene Experten bestätigten, versprach die Versicherung, die Schäden vollumfänglich zu übernehmen. Man sorgte gut dafür, dass die Hinausgebrannten bald und mehr als erträglich unterkamen, in frisch renovierten Altbauten nicht unweit des vollzusanierenden Wracks, als Interim, allerdings.

Benedikt sah das als Chance, wieder bei Null anzufangen. Sicher, es schien vorerst alles verloren: die Bücher, das Persönliche, kurz: all das – wie man sagte – Hab und Gut, das bestimmt die meisten Menschen als massgeblichen Anteil ihrer Identität ausmachten. Ihm dagegen gefiel der Gedanke, sich wieder neu beschriften zu können, und einmal überlegte er sich sogar kurz, sich vielleicht auch noch einen neuen Namen zuzulegen, verwarf ihn aber schnell wieder.  Die Formalitäten schienen ihm zu widrig.

Warum er Röhrling nur die halbe Wahrheit erzählt hatte? Benedikt vermutete, er tat gut daran, nicht allzu viele Fragen aufzuwerfen.

Das neue Herz war bald gezimmert. Eigentlich bewohnte er nur zwei Räume dieser Vierzimmerwohnung im Hochparterre. Die anderen liess er Raum sein. Mit was sollten sie denn auch befüllt werden? Die Bücher und Regale: die Lungenflügel seiner Wohnprojekte: Rauch und Asche, und das meiste „ehemaliger Ballast“, wie er es jetzt bezeichnete. Und die noch zu beschaffenden Bücher in den noch zu beschaffenden Regalen: nicht viel mehr als eine vage Vorstellung. Doch auch so: es entstand schnell wieder ein kleiner, lebensfähiger Organismus. Ein Schreibtisch, ein Computer und die üblichen kommunikationstechnischen Ergänzungen, und nicht unwichtig für seine Arbeit: eine grosse Registratur aus einer Brockenstube, mit Schienen, auf die schon etliche, leere Mappen aufgegleist waren. Ein Ablagesystem, das im Moment noch mehr als System aussah, im Moment, den es war noch fast hohle Struktur.

Hohl: denn noch immer war ihm die „neue Sicht“ auf das, was er zu bearbeiten und ergo zu schaffen plante, kaum mehr als eine Phrase, die um Bedeutung rang und schwer zwischen ihren Einzelteilen taumelte. Bearbeitungen. Verwandlungen. Metamorphosen ausgedachter Ordnungen und ihrer Konkretionen sollten entstehen und hatten sich hie und da auch schon materialisiert, nicht zuletzt, weil ihm dieses Buch geblieben war. Merkwürdige Leute. Bibliothek und Bibliothekar in der Schönen Literatur. Eine wahre Fundgrube, wie sich bald herausstellte. Mit grossem Genuss blätterte er darin, auch oder vielleicht gerade weil er wusste, dass es sich nicht mehr unbedingt auf der Höhe der Zeit bewegte. Aber ein durchaus oft zitierter Text in der einschlägigen Wissenschaft. Doch was kümmerte diese ihn? Ging es ihm doch zunächst und vor allem um seine Ausschlachtung. Um das eine oder andere Elment, in das er seine Haken schlagen konnte. Das und in dem er sich verwandeln konnte. Das ihn erzeugte, wie er es einmal notierte. Das: was ihn ausmachte, wenn er es und sich damit befasste. Das: war die Ortsbestimmung, so zumindest ihr Prozess, für den er Worte gesucht hatte vor wenigen Minuten, bevor ihm die Stimme diese Schleife zerschnitt. Es war doch so oder so: ein Schlachtfest. Was man üblicherweise als Literatur bezeichnete, und die Zubereitung der Fleischfetzen, oder ihre Grösse, oder die Art und Weise ihrer Verbratung oder Würze, kurzum: der ganze Vorgang vom Mord bis zum Auftisch – eine Frage der Modellierung, und diese wiederum: historisch ziemlich instabil, dachte Benedikt.

Nachdem also alles zu Bruch gegangen war, und damit war nicht nur das jüngste Ereignis, das ihn an diesen Ort versetzte, gemeint, sondern eine lange Kette von Ereignissen, die aber in dieses jüngste Ereignis kulminierte, sodass Benedikt dieses und den ganzen Vorlauf der Einfachkeit halber als ein Ereignis betrachtete, das sich allerdings in einem langen Zeitraum ausbreitete und das er einmal ICH nannte, wovon er nun aber – neues Konzept – stets nachdrücklich und völlig bewusst Abstand nahm, sah er sich kurz darauf nur wenigen Möglichkeiten der Fortexistenz gegenübergestellt. Es waren, um genau zu sein: zwei. Einer Schreibenden. Und einer Nichtschreibenden.

Hierbei handelte es sich um eine der wenigen Kontinuitäten. Denn heute wie schon damals, als das Ich, wenn er es sagte, nach diesem anderen Leben klang, war ihm ein Nichtschreibendsein begrifflich gar nicht vorgesehen, also zur Existenz gehörend, also seiend. So konnte man gar nicht sein, also war man nicht so. Was wiederum seinen Begriff des Schreibens oftmals dehnte. Selbstverständlich galt ihm das auch für den Rest der Menschheit, doch über diesen zerbrach er sich herzlich wenig den Kopf in dem einen Leben. Vielleicht auch darum, weil eine grösser angelegte Betrachtung dieses Phänomens ihn zu Revisionen genötigt hätte. Und er war dann doch auch, zweite Kontinuität, etwas bequem.

Nachdem Benedikt die Türe hinter sich geschlossen und sich aus dem Kühlschrank mit kaltem Bier versorgt hatte, setzte er sich an seinen Schreibtisch und startete seinen Computer. Während dieser hochgefahren wurde, nahm er – wie er es nun regelmässig tat – diese Zeitspanne von genau drei Minuten zum Anlass, weiter an der Liste wiederzubeschaffender Bücher zu grübeln, und ergänzte und strich und schrieb wieder darüber und verwarf erneut, sodass sich die Liste nur unwesentlich, im besten Falle um sehr wenige Titel verlängerte. Es bestand auch keine Eile, diese anzufertigen. Bis der Grossteil der Versicherungssumme dieses Schadens freigegeben wurde, würde noch einiges an Zeit vergehen. Zudem waren die nun zu beackernden Texte nicht gerade diejenigen, die er zu kaufen bereit war. Es waren Texte, die sich ohnehin nur noch in Antiquariaten oder ausgezeichneten Bibliotheken befanden und eine dieser konnte er mit nur wenigen Mausklicks, zumindest an der Oberfläche bereisen.

Das Interface war nun bereit. Er blätterte noch einmal in den „Merkwürdigen Leuten“, die er, wie er befand, nun zur Genüge zerlegt und gefleddert hatte, glitt dann mit dem Zeigefinger über die Bibliographie.

Der Einstiegspunkt der Bibliothek bestand aus einem grosszügigem Suchfeld, in das er nun Kombinationen aus Autorennachnamen und Titelstichworten füllte. Viele gesuchte Titel waren dort nachgewiesen und zu seiner Freude auch vorhanden, und nicht etwa ausgeliehen. Diese würde er morgen schon einsehen können, wenn er wollte. Das heisst: man hatte seine Anfrage registriert. Man verhielt sich ihm gegenüber prinzipiell wohlwollend.

Die Scherben

(E3)

Wir wissen nichts voneinander. Eigentlich: Fast nichts. Entfuhr es Röhrling an einer Stelle. Draussen begann es einzudunkeln und wieder fiel ein Lichtkegel auf die geöffnete Balkontüre, zwängte sich durch die Rahmen und fächerte das Rauchgitter an die Wand zu hellen, schlanken Schatten auf. Röhrling sag aus wie ein Toter. Wie sein eigener Tod. Diese Hose besitze ich nun schon seit beinahe dreissig Jahren, fuhr er fort. Die Cordstruktur hatte sich schon gänzlich aufgelöst in ein feines Netz aus Fäden, ein Geflecht aus weichen Fasern, das nur noch mit Mühe und Not decken, aber sicher nicht mehr wärmen konnte. Darum also die zweite Schicht, das Pyjamaunterteil, das sich auch farblich perfekt unterordnete, ihm Schutz bot und ihm die Scham nackter Haut ersparte, dachte Benedikt. Das Unpassende. Ungehörige, gegen ein anderes getauscht, das weniger schamlos schien, das sich ins eigene fügte.

Ich kann einfach nicht davon lassen. Sie war ein Geschenk. Ist immer noch etwas besonderes. Oder besser: wird immer besonders sein. Sagen wir, sie befindet sich in einem steten Prozess der Besonderung, erklärte Röhrling fast etwas entschuldigend. Ich trage sie noch an Jahrestagen, und heute ist so einer.

Benedikt wollte nun den Anlass dieses Gedenkens erfahren, da fiel sein Blick in Gegenrichtung des Lichts und blieb an der Strassenlaterne gegenüber hängen. Ein Betrunkener entleerte sich dort gerade, mit einer Schulter gegen sie gestützt. Röhrling griff hinter sich unter einen Teewagen aus Holzimitat, der ihm als Ablage für allerlei Zeitschriften diente, und zog eine Flasche Rotwein hervor, knipste eine kleine Tischlampe an und setzte sich seine Lesebrille zurecht. Ein … Er blinzelte mit den Augen, kniff sie streng zusammen, doch er konnte das Etikett nicht entziffern. Naja, lesen Sie selbst. Jedenfalls ein 1989er. Und öffnen Sie ihn. Dann gab er Benedikt die Flasche und darauf einen Schlüsselbund, der ihn bis dahin die Hose an der rechten Leistengegend ausgebeult hatte. Daran hing ein Taschenmesser mit Korkenzieher. Der Kork franste aus, als Benedikt ihn bearbeitete. Sie müssen das auch nicht wissen. Was denn? Benedikt blickte auf. Das mit der Hose. Ein anderes Mal vielleicht. Röhrling kippte etwas Wasser in beide Gläser, schwenkte sie hin und her und goss den Auswusch in eine verholzte Yuccapalme auf seinem Balkon. Dann rieb er sie mit einem Stück Stoffe aus, von dem Benedikt nicht wusste, woher es so schnell genommen wurde.

Während Benedikt die Gläser füllte, machte es sich Röhrling wieder gemütlich. Das ist nicht ungefällig, da haben Sie sicherlich recht. Erträglich. Pointiert, vielleicht. In Ordnung. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Aber was bezwecken Sie damit? Worauf wollen Sie hinaus? Wie gesagt: wir wissen wenig voneinander. Wir beide. Was das Private angeht. Aber auch Ihre kleinen Figuren und ich. Was haben wir miteinander zu tun? Sie haben mir hier jetzt ein paar „Fälle“ vorgelegt. Wie viele waren es gleich? Vier, gab Benedikt gedämpft zurück. Vier? Schön. Vier kleine Leben, die da mit wenigen Strichen skizziert werden. Mich interessiert: wie hängen diese zusammen? Überhaupt: was haben diese mit Ihrem Thema zu tun? Sie werden mir doch nicht ernsthaft erzählen wollen, dass es sich mit einer fortlaufenden Aneinanderreihung kleiner Formen getan hätte?

Man müsste Sie gleichzeitig lesen können, zumindest aber müsste die Reihenfolge beliebig sein, aber das sei eine andere Frage, sagte Benedikt. Es gibt da einen Plot, der dieses Gefüge binden soll. Eine Art Kitt, doch doch. Benedikt kam langsam in Fahrt. Da ist ein Leser, der viele Bücher nur anliest, passagenweisse liest, Romane, Sachbücher, Sekundärliteratur, und versucht diese allmählich zu einem Buch zusammenzuzüchten. So etwas Frankensteinsches. Aus vielen Versatzstücken etwas Lebendiges zu schaffen. Ein Lebewesen. Ein Mensch, vielleicht, der gleichzeitig die Summe der einzelnen Teile verkörpert. Aber nicht nur das. Ist Ihnen nicht vielleicht aufgefallen, dass Frankensteins Geschöpf immer nur in Stresssituationen oder doch zumindest in Ausnahmesituationen geschildert wurde. Als hätte es da nicht auch Stunden, Tage oder Wochen gegeben, an denen nichts Schilderungswürdiges passiert wäre. Sehen Sie, so geht es den meisten Protagonisten. Dieses Geschöpf sollte nicht nur funktionieren oder nicht, und das in solchen Situationen. Es sollte sich irgendwie auch: bewähren. Sollte, hm, auch eine gewisse Normalität leben können. Ich weiss, ich bin da noch nicht sehr weit. Das kommt Ihnen vielleicht zurecht noch etwas abstrakt vor.

Röhrling nippte zufrieden an seinem Glas. Machen Sie weiter. Ich habe heute nichts mehr vor.

Was fühlt so ein Buch? Was fühlt dieses Buch? Oder dieses Lebewesen. Oder dieser aus verschiedensten Zeichenketten gemachte Mensch? Was denkt er über seine Identität? Was ist das für eine Identität? Wenn es sich nicht so präsentiert, wie es sich präsentiert. Als Einheit. was für ein Leben herrscht da zwischen den Zeilen? An den Nahtstellen?

Das ist mir jetzt aber doch etwas zu unausgegoren, was Sie mir da erzählen, unterbrach ihn Röhrling. Haben Sie nicht vielleicht auch noch etwas Handfestes?

Was die kleinen Formen angeht, so habe ich mir dafür schon etwas zurechtgelegt, holte Benedikt erneut aus. In einer ersten Beschäftigung mit spekulativen Bibliotheken bin ich über eine Passage von Gottfried Wilhelm Leibniz gestossen. Alles nur Internetrecherche, im Moment, ich muss das noch nachschlagen und prüfen. Aber am Ende eines Textes zur kombinatorischen Bibliothek kommt es bei Leibniz zu einer überraschenden Wendung. Vielleicht kennen Sie den Text? Nur die Monadologie, gab Röhrling einsilbig zurück. Jedenfalls verschiebt sich dort Leibnizens Interesse weg von gedachten, wissenschaftlichen Universalbibliotheken, hin zur Idee einer spekulativen Privatbibliothek. Einer Bibliothek, die sich aus Privatereignissen von Privatleuten zusammensetzte, und diese einen weitaus grösseren Erkenntniswert besässe, als jede andere, wie auch immer ideal gedachte Bibliothek.

Ich verstehe langsam, worauf Sie hinauswollen. Röhrling gab nun wieder seine liegende Stellung auf, brachte etwas Spannung in seinen Körper und setzte sich aufrecht. Dann nahm er die Seiten, aus denen Benedikt gelesen hatte und überflog sie. Wo war die Stelle gleich mit den Scherben? Benedikt zeigte sie ihm und Röhrling begann sie laut zu rezitieren.

Es werden nur Scherben gefunden werden, denn es werden nur Scherben produziert. ich selbst produziere nur Scherben. Auch und vor allem indem ich in dem Haufen des Vergangenen stöbere. Ich setze Teile zusammen, die vielleicht einmal ein Ganzes waren. Nur diese Tätigkeit hält alle meine Teile zusammen. Hm. das erinnert mich etwas an all die antiken Vasen, die aus Bruchstücken rekonstruiert wurden. Die Wissenschaft war einigermassen erstaunt, wie viele Sujets sich doch mit den täglichen Leben der Leute beschäftigte. Dass diese als abbildungswürdig angesehen wurden.

Das ist ein sehr interessanter Vergleich, den Sie da machen. Benedikt fühlte sich plötzlich sehr erleichtert und machte sich eine Notiz.

Er war persönlich interessiert, wie sich Benedikts Projekt weiterentwickelte, hatte er versichert. Mehr konnte er in diesem Stadium noch nicht für ihn tun. Aber Benedikt durfte mit ihm jederzeit wieder Kontakt aufnehmen. Ja, er hatte „besuchen“ gesagt. Offensichtlich hatte der Tag dem Alten Spass gemacht.

Eine Turmuhr schlug gerade Neun, als er durchs Treppenhaus auf die Strasse stiess. Auf die nächste Strassenbahn musste er zehn Minuten warten.

Maulwürfe

(E2)

Noch etwas Wasser? Benedikt bejahte gierig und fühlte auch in diesem Moment eine weitere Hitzewelle, die von der Magengegend ausstrahlte. Röhrling wälzte sich von der Couch erst in Schräglage, dann bugsierte er sich mit einem kleinen Schwung an ihr Ende, dem lehnenlosen Fussteil, stiess sich dort ab und schlurfte in Sandalen hinaus in den Gang. In die Küche. Benedikt wunderte sich. Ihm waren die Pyjamabeine unter der Cordhose nicht entgangen. Der Mann war gleichzeitig in vielen Welten zuhause. Dann hörte er das Bollern einer Wasserleitung in der Küche. Dann Klappern. Nach einer Weile kam Röhrling mit einer gefüllten, milchglasigen Karaffe zurück. Oder war das Wasser so kalkig?

Das hier. Röhrling zog mehrere Papierstapel hervor, die unter der Couch auf einer Matte lagen, und liess sich wieder in seine Kissen plumpsen. Das hier. Sie wollen das sicher gar nicht lesen, Ben. Aber das ist das Übriggebliebene. Der Ausschuss, im positivsten Sinne. Das sind die Chancenhaber. Was man eben so unter Chance versteht, bei den Verlagen. Noch nicht einmal dort, denn der Markt bestimmt das ja mit. Es ist ein System der Reflexe, aber lassen wir das.

Zwei historische Romane. Und ich meine: historische. Nicht etwa wie ihr erster Text, der sich vielleicht etwas mit Historie beschäftigte. Literaturgeschichte, präzisierte Benedikt. Sie wissen das ja selbst, fuhr Röhrling fort. Es geht da nicht nur um blosse Ideen. Das wäre nichts zum Eintauchen. Da braucht es schon auch Couleur. Diese Wort dehnte er, bis es Benedikt beinahe schwindelig wurde. Mäntel, Degen und Schlapphütte. Postkutschen, abgelegene Wirtshäuser, solche Sujets. Das soll daheim ja die Wohnungen heizen.

Benedikt wollte protestieren. Tauchübungen dieser Art, wollte er sagen, doch Röhrling schnitt ihm wieder das Wort ab. Geschenkt! Mich müssen Sie ja nicht zu überzeugen versuchen. Und hier: ein Fräuleinwunder. Eigentlich schon wieder tot. Aber ein kleines Wunder pro Jahr kann sich ein grösserer Verlag noch leisten. Und da ein Lyrikbändchen. Geradezu unverkäuflich. Aber schauen Sie mal auf den Absender. Da staunen Sie, was? Könnte vielleicht klappen. Es gibt da ja noch die Sammler, obwohl dieser sich eigentlich auch schon auf dem absteigenden Ast befindet. Wir werden sehen. Und hier: ein Zeitthema. Die Neunzigerjahre. Benedikt verzog dabei etwas das Gesicht. Sicher, etwas früh für Diagnosen, aber ebenso von einem nicht ganz Unbekannten geschrieben, und – sie werden lachen – aus der Sicht eines Maulwurfs. Benedikt lachte nun tatsächlich. Das ist doch nicht Ihr Ernst?

Aber sicher! Das läuft, von Zeit zu Zeit. Vielleicht kennen Sie sogar den Autoren. Hat bei einem Fernsehwettlesen mitgemacht. Unter ferner liefen, allerdings. Auch so ein Faktor. Ich fand die Idee nun aber wirklich nicht so schlecht. Etwas langatmig vielleicht, die vielen Reflexionen in den dunklen Gängen.

Das also ist die Spitze des Eisbergs der vergangenen Monate. Und wo ist der Rest?, fragte Benedikt. Im Keller. Ich sehe das immer sofort, wenn etwas reinkommt. Röhrling machte wieder Anstalten sich zu erheben. Neunzig Prozent trage ich schon kurz nach dem Öffnen vom Briefkasten direkt in den Keller und bereite aus den Anschreiben einen freundlichen Brief vor, den ich um zwei Monate vordatiere und ihn dann zu gegebener Zeit abschicke. Das ist eine meiner Hauptarbeiten. Wollen Sie mal den Keller sehen? Benedikt schüttelte den Kopf und bat Röhrling, sich wieder hinzulegen. Ein paar Wenige schaffen es auf meinen Schreibtisch und die tatsächlichen Kandidaten räume ich unters Sofa und studiere sie genauer. So läuft das. Bei mir zumindest. Aber ich könnte Ihnen auch von Kollegen erzählen, die da noch einiges rigoroser vorgehen. Sie würden Augen machen. Ich bin ja schon so gut wie aus dem Geschäft.

Hätte Röhrling das nicht alles in seinem ihm eigenen ironischen Ton erzählt, Benedikt hätte ihm sicher geglaubt und beinahe Mitleid mit ihm bekommen. Röhrling goss wieder nach und Benedikt sagte dieses Mal nicht Nein zu einer Zigarette. Also reden Sie, gab ihm Röhrling das Wort, als sie erneut angestossen hatten. Was haben Sie dabei?

Nichts. Nicht viel. Kaum Schriftliches, erwiderte Benedikt. Eine Idee, und der Rest, das meiste liegt zuhause. Materialien. Aber noch lange nicht genug. Und ich bin mir nun eigentlich gar nicht mehr sicher, ob das alles noch Sinn ergibt. Oder ob ich darüber schon sprechen kann. Diese Frage kommt allerdings, warf Röhrling ein, schon entschieden zu früh. Da muss sich doch erst einmal ein Druck aufbauen. Wissen Sie, fuhr Benedikt fort, ich glaube, ich schreibe an einem immergleichen Text. Ich plane gerade ein etwas umfangreicheres Werk im, sagen wir: Spannungsfeld von Bibliotheken und Fiktion. Etwas in diese Richtung.

Haben Sie eine Ahnung, wie viel in diese Richtung schon gerabeitet wurde? Sie glauben ja gar nicht, wie viel davon allein schon in meinem Keller schlummert, geschlummert hat, bemerkte Röhrling, denn ich lasse ihn mittlerweile ein Mal im Jahr räumen. Das unter uns, ergänzte Röhrling verschwörerisch. Benedikt wurde etwas nervös.

Neinnein. Nicht in diese Richtung. Und wieder doch. Mit einem anderen Ansatz, aber die Idee ist noch sehr vage. Mit dem einzig richtigen, nein wahren Ansatz. Benedikt erschrak über seinen Scherz, dann begann er zu stottern. Nicht unähnlich dem ersten Roman um den vergessenen Dichter, was das technische anging. Und was die Ausgangslage anging. Die Struktur. Die Arbeit mit literaturgeschichtlichen Referenzen, Sie können mir folgen? Aber etwas, wie soll man sagen: Partikuläreres? Vielleicht noch etwas verschrobener, was die Form angeht. Aber umfassend soll es sein. Das ganze Spektrum. Wenigstens in Ansätzen. Röhrling berührte ihn etwas am Arm, als wollte er ihn beruhigen. Sie wollen uns doch nicht wieder ein unlesbares Experiment vorlegen, warnte Röhrling. Die Leute wollen unterhalten werden. Punkt. Und nicht belehrt. Oder anders: Eine Belehrung darf da allerhöchstens über die Hintertüre, also wenn es schon zu spät ist, Sie können mir folgen? Dann hakte er nach: Details? Wie soll das im Detail aussehen. Und bitte verschonen Sie mich mit umfassenden und unhandlichen Theorien, die dann doch nur an der Oberfläche ausgeführt werden.

Nun war Benedikt beleidigt, wandte sich Röhrling ab und den Manuskripten, den Chancenträgern, die es bei ihm unters Sofa geschafft hatten, zu, und blätterte und tat, als läse er mit zunehmender Konzentration darin. Und mit zunehmendem Ekel. Also schön, Röhrling riss ihm den Stapel aus der Hand, ich lasse Sie ausreden, aber fassen Sie sich bitte etwas zusammen.

Es ist alles noch sehr vage, begann Benedikt erneut, und es ist der Versuch Bibliothek auf einen neuen Begriff zu bringen. Auf einen zeitgemässen. Und zu unterhalten, ja. Ich fühle mich sehr unterhalten, wenn ich mich diesem Thema nähere, und da kann eine Menge zutage gefördert werden. Ich versuche dem eine neue Form zu geben. Eine andere Ordnung. Ich sehe ja selbst, dass diesbezüglich nichts wirklich Neues geschrieben werden kann. Dass überhaupt nichts mehr Neues geschrieben werden kann. Also werfe ich einen neuen Blick. Ein Bündel von Blicken als Blick. Einen Blickbündelblick darauf, wollte er noch sagen, doch dieses Wort schien ihm zu gewagt.

Gibt das denn nun auch eine Maulwurfsgeschichte? Sie sehen selbst, auch damit bin ich versorgt. Ja. Nein. Vielleicht kann man es so betrachten. Was das Sehen anginge, wäre ich aber mit der Vorstellung eines Insekts, einer Libelle vielleicht und ihrer komplexen Wahrnehmung über ihre Facettenaugen, etwas glücklicher. Ihrem Facettenblick. Die Kleinteiligkeit. In diese Richtung. Auch was die Beweglichkeit angeht. Die möglichen Positionen. Das Überfliegen eines grossen Areals. Das ganze Gefüge. Vielleicht ist das doch eine etwas zu kühne Metapher.

Das kommt mir doch alles sehr bekannt vor. Röhrling kratzte sich an seinem lange ausgewachsenen Dreitagebart. Ein Libellenroman. Höchste Zeit, dass der geschrieben wird, und höchste Zeit, dass ich verrentet werde. Nun nahm auch er sich etwas Wasser aus der Karaffe und verdünnte damit sein Getränk. Also gut, fuhr er fort, nachdem er sich seine Lippen mit seinem Taschentuch abgetupft hatte. Dann bitte Fleisch an die Dinge. Geben Sie mir eine Kostprobe. Lesen Sie mir etwas vor. Unterhalten Sie mich. Kleinteilig. Kommen wir zur Sache. Benedikt nestelte umständlich an seiner Tasche herum und förderte endlich eine ausgeleierte Mappe zutage. Ihr Inhalt war sehr überschaubar. Wenige Seiten, die zu kleinen Stössen mit Büroklammern zusammengehalten wurden, lagen wohl geordnet darin. Benedikt griff sich entschlossen den zuunterst liegenden Block heraus und wollte gerade ausholen, etwas dazu zu sagen, als Röhrling einen Bleistift zur Hand nahm und damit gegen sein Glas tippte. Lesen Sie mir etwas vor!