Zur Grablegung einer jungen Autorenhoffnung (Vordr., Gek. Fass., Entw.)

(B13 zu M13)

Liebe/r Xy,

es ist noch nicht lange her, da hast du uns überzeugt. Hast uns Dinge vorgetragen und zukommen lassen, die wir sehr schätzten und denen von uns und auch gleichermassen von dir grosse Bedeutung beigemessen wurde. Wir haben zusammen etwas wachsen gesehen. Es gedieh anfänglich prächtig und entwickelte sich weiter, sodass es auch in anderen Kreisen hochachtungsvoll wahrgenommen wurde.

Dass es nun nach kurzer Krankheit von uns gehen musste, ist nicht nur dein Verschulden. Es sind so viele Umstände und Verwinkelungen als Gründe zu nennen, die das, was einmal war, nicht weiter sein liess und aus einem Stadium des Werdens riss, wie man es oft beobachten kann und woraus nicht allzuviele neue Hoffnung schöpfen. Diese jetzt zu nennen, fehlt uns leider die Zeit. Doch es gibt Hoffnung.

Liebe/r Xy,

Es gibt so schöne Dinge im Leben, die nun wieder Platz haben werden und völlig unverstellt angenommen werden können. Eine Fahrradtour vielleicht, am frühen Sonntagmorgen. Ein längerer Urlaub mit Freunden oder Verwandten, oder nur schon eine durchgeschlafene Nacht, nicht zu vergessen die Lektüre eines Bucher oder einer Zeitschrift ohne Verwertungszwang.

Wir alle werden in nächster Zeit für dich da sein und helfen, wo es nur geht, wieder zurückzufinden in ein würdiges Leben. Vergiss bitte nicht: wir werden bei dir sein.

Usw.

Nullkommaneun %

(B12 zu M12)

Soll das die Seele sein? Im besten Sinne nur ein Stückchen nahrhafte Luft? Zu grössten Teilen: Stickstoff, Sauerstoff, Kohlenstoffdioxid und etwas Argon, wie jeder weiss. Letztenfalls, ein beinahe verbindungsloses Elementchen. Ein bisschen wie sie: schweissend, löschend und isolierend. Und dabei nur ein Hundertstel dieses Gemischs – im Durchschnitt. Und so eben deckungsgleich mit ihr, was ihre Selbsteinschätzung – wie edel – und dem öffentlich kaum wahrgenommenen Gäschen angeht, misst sie ab, als sie sich oder dem, was sich davon übrig zu bleiben abzeichnet, hinterher zu schauen beginnt. Sie dreht sichs noch einmal zurecht: Ihr Argonseelenanteil müsste im Grunde um einiges höher, um nicht zu sagen: hochprozentig sein. Am liebsten möchte sie noch von sich behaupten: sie sei Argon pur, sei: eine Argonautin und jenseits aller Schnitte. Diese Rolle hätte ihr zugestanden. Doch da ist schon der Film zuende und das kleine Lüftchen strömt aus ihr heraus. Und der Blick teilt sich, brechenden Auges, schielt auf die nur noch offenen Höhlen und das leise Gebläse, das sich allmählich zu verflüchtigen beginnt. Dann ist alles wieder angenehm dunkel und das Schiff segelt weiter

Vorüberlegungen eines erfolgsuchenden Dichters auf statistischer Basis

(B11 zu M11)

Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine Höherwertigkeit des Dahingestellten handelt, wenn das Dargestellte als minderwertig wahrgenommen wird, liegt bei ungefähr sechzig Prozent, wenn man also dieser Ausführung glauben darf. Insgesamt jedoch sinkt dieser Wert um zwanzig Prozent, wenn alles Ausgewertete und nicht nur das Höherbewertete hinzugezogen wird. Muss es also nicht umgekehrt auch lauten: je schlechter ich das Darzustellende darstelle, das nun aber nicht ästhetischen Sinne, um so höher die Wahrscheinlichkeit, dass das Darstellende, das nun aber nicht im moralischen Sinne, als höherwertig wahrgenommen werden wird?

Und die Räume? Verwende ich einen Raum, der als solcher eindeutig dargestellt werden würde, und nicht offen liesse, sich zu verwandeln, nicht die Möglichkeit zuliesse, dass dort ein Keller wäre, bildlicherweise, ist wiederum die Wahrscheinlichkeit höher, dass das Dargestellte als minderwertiger empfunden, selbst wenn dem Darzustellenden mit hochwertigen Mitteln begegnet würde, wenn man also dieser Ausführung glauben darf.

Ähnlich verhält es sich bei der Anlage der Charaktere. Wird ein Protagonist nur mit berufstypischen Insignien, weniger aber mit gewissen Eigenheiten ausgestattet, die es erlauben, diesen als doch unabhängiges Subjekt zu sehen, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass es sich hierbei um ein tragfähiges Element in einem als höherwertig zu beurteilenden Dargestellten handelt, wenn man also dieser Ausführung glauben darf.

Wenn man also dieser Ausführung glauben darf, kann man zwar nicht mit maximalem Erfolg, aber vielleicht mit einer gewissen Gunst in der Bewertung rechnen, was die Einschätzung der Rangigkeit eines Werkes anbelangt, wenn ich eine Geschichte schreibe über einen unerträglichen Zustand, an einem Ort, der überall sein könnte, mit Handlungsträgern, die nicht sind, wie der Rest der Gesellschaft. Mit anderen Worten: schreibe ich über mich und mein Schreiben.

W. selbst

(B10 zu M10)

Fernsehen? Die Projektbegleiter machen das auch so. Die Projektleiter machen das nicht aus einer Langeweile heraus. Dahinter steckt ein konkretes Kalkül und nicht etwa Selbstlosigkeit, wie man uns denken machen will. In den Fokus stellt sich die Verwaltung des Selbst. Die grossen Posen, die es zu einem Anderen machen. Diese Verwaltung ist AUFGABE. Es wird an einer Stückelung der Zeit gearbeitet. An einer Stückelung in maximal kleine Einheiten. Man bevorzugt das Modell der Intervallschachtelung. Gedacht wird, vermutet W., an eine äusserste Auslagerung des Eigenen in ein Zurverfügungstehendes. Das Zurverfügungstehende muss weitmöglichst dem Anderen, das man noch nicht selbst ist, übergestülpt werden. So wird da gedacht, bilanziert W. Das andere wird immer weniger. Schwieriger wird es auch weiterhin, das Selbst in immer kürzeren Einheiten zu denken. Die Räume werden eng. Wer kann sich vorstellen, in immer kleineren Etappen bei sich zu sein. Doch nur Projektleiter, mutmasst W. nicht ohne noch einmal nachzuschenken.

Und die Projektplaner. Und die Projektbegleiter. Oftmals ein und dieselbe Personengruppe. Oftmals ein und dieselbe Person. Oftmals, nein immer, in gewissem Sinne, die Gruppe eine Person, die sich durch den ganzen Körper gezogen hat. Schaut man auf so ein Projektreferentenleben, denkt er: was für ein Projektreferentenleben? Oder: Projektplanerleben. Denkt er unwillkürlich, muss man denken: Projektabschluss. Das Leben als eine Summe kürzester Momente zu begreifen. Eine Zigarette zu rauchen, um ein Beispiel zu nennen. Ein mittlerweile verpöntes Beispiel, aber seis drum. Ein Beispiel, das in einem bestimmten Ausland unbedingt würde wegretuschiert werden müssen wie ein halbmillimetergrosser Knabenskulpturpenis in einem Kinderbuch. In dem Anderen. Dieses als: eine Allegorie eines sehr kurzen Moments. Ausdrücken! Man hat das selbst in der Hand. Hier: hat man das Selbst in der Hand. Gedankenverloren. Die Schwaden. Die verpufften Energien. Die rauchgewordene Lebenszeit versus ewiger Nebel. Versus all der Nebel auf den Bergkämmen, die zu betrachten: in einem kurzen Moment auf einer Terasse. Auf einem Balkon. Südlage. Südblick. Süden, seufzt W. Möchte man das wirklich?

Der zweitsonderbarste Fall von der Welt

(B09 zu M09)

Einige Jahre später wird sich auch ein Sohn Goethes aus einer nicht weiter genannten Verbindung gegen seinen Erzeuger wenden. Er wird ein Pamphlet schreiben mit obigem Titel und damit seinen Alten Herrn sehr traurig stimmen. So ist die Pubertät!, wird dieser dann sagen. Einen Nichtsnutz wird ihn Goethe wenig später nennen, allerdings doch ein wenig gerührt, von seiner Schreibkraft, von der Schärfe und aufkeimenden Brillanz seines illegitimen Ablegers, den er daraufhin nur noch eine kurze Zeitspanne aushalten wird. In „Über das nichtstuende Nichtstun“, einem Kapitel dieser Sudelschrift, wie sie Goethe auch einmal nennen wird, kann sein Autor doch dergestalt Argumente anführen, die Goethes Idee eines nützlich-zweckfreien Schreibens zumindest für einige zweifelhaft machen wird.

Noch mehr entrüsten wird es Goethe allerdings, dass er kein Kapital aus seinen Anlagen schöpfen wird. Dass das so erscheinende, schmale Heftchen, das nur unter der Hand und in geheimen Kreisen zu zirkulieren beginnen wird, das letzte sein soll, was von ihm erscheinen und er tatsächlich seine Theorie in die Praxis umsetzen und von heute auf morgen kein einziges Wort an das andere reihen wird. Der Junge wird verstummen, bald ausreissen und dann nicht mehr gesehen werden.

Möglicherweise wird dem alten Mann so das Herz gebrochen werden, dass er gar nicht mehr anders kann, als melancholische Gedichte zu schreiben oder auch, seine Kritiker werden lange nicht verstehen werden, sich ins Allegorische zu stürzen.

Eines Tages aber wird ihn das Gerücht erreichen, man habe ihn – seinen Sohn – in einer Vorstadtbibliothek Genuas gesehen. Wie gross wird da Goethes Freude sein? So gross doch mindestens, dass er auf die Frage, was man denn tun solle, wieder sagen wird: „es ist gar nichts zu tun, als dass man tut“. Dann wird er friedlich einschlafen, was man dann vielleicht so überliefert.