Zwischen Fronten (und Deckeln)

(B08 zu M08)

Verwundungen: ein Riss in der Seite. Leistenschaden, behelfsmässig getaped. Ein anderer: neben ihr in einem schmutzigen Verband, die Adern sichtbar, halboffen.

Auch ihr Blick ist ein Schnitt in den Raum. Ist kurzfristige Hebung und Senkung von Raum mit halbgehobenen Kopf, bis dieser wieder zurückfällt auf ein Brett, das vor langer Zeit einmal Kissen war. Wo liegt sie? In einem Untergeschoss, sagt man ihr knapp. Im Getümmel zwischen ehrbaren Latzhosenherren und einer Gegenströmung, die sich immer noch wie eine wildgewordene Herde Clowns gebärdet. Ihrem Wunsch nach Wasser wird entsprochen: Wasser gäbe es aus einem kleinen Rinnsal, das sich aus einer nie versiegenden Pfütze speiste, direkt unterhalb eines Regals. Man reicht es ihr in einer Kelle, denn bewegen kann sie sich nicht.

Immer wieder Hektik und Beatmung. Immer wieder das Abklemmen der Venen, der ins Kreuzfeuer Geratenen. Der Opfer der friends of the friendly fire. Immer wieder Aufregung um einen zerborstenen Rücken. Wie jetzt. Wie um denjenigen neben ihr.

Ohne Narkose, erzählt er ihr Wochen später in einer kühlen Kammer, oder mit nur unzureichender Dosierung habe man sich an ihm zuschaffen gemacht und er alles registriert. Erst war es ein Grüner. Der habe an ihm gerungen. Der habe ihn wieder zurückschicken wollen ins Feld. Für den lag er noch im brauchbaren Bereich. Man habe sich um ihn geprügelt, denn für die Clowns war der Fall klar: Lazarett. Amputationen. Das volle Programm. Die schwerste Beeinträchtigung, die ihm zugefügt worden war, sei aber eben nicht während eines Einsatzes als Beobachter, sondern hier, im Streit um seinen Körper entstanden. Es würde wohl nie wieder so werden, wie es einmal war. Er würde wohl nie wieder so werden, wie er einmal war.

Dann beginnt er ihr von einer Maschine zu berichten, in die man ihn gesteckt hatte. Ihm habe es zu diesem Zeitpunkt eigentlich an nichts gefehlt, weswegen er sich selbst aus dem Verkehr gezogen hätte. Eine leichte Schürfung an einer Stelle. An einer anderen eine Instabilität. Die Untersuchungen dieser haben aber für eine Vertiefung, eine Intensivierung gesorgt. Dann will er ihr noch ganz genau und in allen Einzelheiten die Behandlungen, die er über sich ergehen lassen musste, schildern, doch sie wird mit einem Male von einer Erschöpfung überschattet.

Und er ist noch nicht zu Ende gekommen mit seiner Krankengeschichte, als sie wieder an ihr teilnehmen muss. Bald spricht er von vielen Pinzetten und Stäbchen, die in ihn eingeführt wurden, und auch von einem ganzen Arsenal von Flüssigkeiten und Tinkturen, das man über ihn ausgeleert hatte. An deren Gerüchen wäre sie nun allerdings sehr interessiert gewesen. Aber die Nase. Ihre Nase. Die fehle ihr doch sehr, wie sie ihm zu verstehen gibt.

Er kann nicht weiter ihre Aufmerksamkeit binden. Ihr diese Gerüche nicht zu beschreiben, liegt aber nicht etwa an seinem Unwillen, sondern seinen unzureichenden Möglichkeiten, für diese eine Sprache zu finden oder erfinden. Wenn sie wieder aufwachen wird, wird sie schon neben einem anderen liegen und den vorigen, der in eine andere Abteilung gebracht oder entsorgt worden war, hat sie dann schon vergessen.

Sphaera

(B07 zu M07)

Aber als Georg die Augen aufschlägt, befindet er sich gar nicht, wie von einigen Seiten behauptet und noch vielen weiteren bestätigt, etwa in ein Insekt verwandelt. Sein Körper scheint nach einer ersten gründlichen Inspektion geradezu in topform, und Georg muss sich zunächst ein wenig den Stolz von den Wimpern wischen. All seine Trainings- und Trennkostprogramme beginnen nun Wirkung zu zeigen, und er: wieder auf dem Rückweg der Fallfleischgeraden in Richtung Jugend, körperlich.

Und auch die Haut: glatter. Und das Lächeln: fester, erfolgreicher, vielseitig einsetzbar, selbstbewusst und gelungen. Und die greisen Eltern: nahezu versorgt. Und die Geschwister: in einer anderen Stadt. Wo waren sie gleich? In Wanne-Eickel?1 Und der Hund wieder folgsam und das Drama mit P.: ausgestanden. Und so weiter.

Und dennoch erscheint es ihm heute morgen, nein, ist es: unmöglich. Das Bett zu verlassen und ein Tagwerk zu beginnen. Denn jetzt muss er feststellen: das Tagwerk wurde schon von einem Anderen vollbracht. Und weiter: Kein Tagwerk – weit und breit. Nirgends. Nicht in der Ferne und auch nicht neben oder unter seinem Gestell.

Die krampfhaften Bemühungen auch ein nochsokleines Problem zu erinnern, das ihn zu einer Lösung bemüssigen könnte, schlagen allesamt fehl. Auch ein zu konstruierendes liegt nicht im Bereich seines Zugriffs, wie er bald einsehen muss. Ja, sogar ein fehlender Knopf, wie er noch vor dem Einschlafen feststellte, hat sich über Nacht wieder angenäht.

Erst in diesem Moment beginnt er langsam das volle Ausmass der Kompromisslosigkeit seiner Situation zu begreifen. Der Schlafzimmerspiegel steht wohl in einer sehr eigentümlichen Wölbung an der Wand. Mag man da noch von einer Wand sprechen? Georg fällt das Wort Kreissaal ein, denn er befindet sich offensichtlich in der exakten Mitte eines kreisrunden Saales. Aber, Wortbetrug: kein Kreisen, kein Schmerzakt, keine Geburt, keine Hervorbringung, auch wenn es sich nun zwischen seinen Schenkeln zu bewegen beginnt. Auch Decke und Boden passen sich nahtlos in das Bild. Der Raum verweigert Zylinder zu sein und glättet seine Kanten, oben und unten, verschleift und wölbt auch dort, wo einmal Winkel waren. Wo immer Georg nun hinzuschauen versucht, um seinen Blick zu ankern, wird er auf sich zurückgeworfen. Aber einmal fällt sein Blick kurz dahinter: ins Jenseits der werdenden Kugel. Und er vermutet mit einiger Zuversicht: einen Hohlraum im verwinkelten Gebälk. Ein Vakuumgegenteil, das sich ihm bieten will und doch nicht kann. Und er: Er nur noch glatte, gedachte Oberfläche. Er nur noch er, aus dem er langsam erwacht. Und seine Glieder schmerzen. Wieder. Aber was heisst hier Glieder?

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1 Wanne-Eickel war eine kreisfreie Stadt im nördlichen Ruhrgebiet. Im Rahmen der Gebietsreform wurde Wanne-Eickel mit Wirkung vom 1. Januar 1975 mit der kreisfreien Stadt Herne zusammengeschlossen. Seine Kreisfreiheit erhielt Wanne-Eickel 1926 als Stadtkreis, seit 1955 war es Großstadt. Das ehemalige Kfz-Kennzeichen ist WAN. Bis zu seinem Zusammenschluss mit Herne wies Wanne-Eickel die größte Bevölkerungsdichte ganz Europas auf. Das Wappen der Stadt Wanne-Eickel wurde in leicht veränderter Form das Wappen der neuen Stadt Herne. Auch die Stadtfarben gelb-schwarz-gelb wurden übernommen. (Quelle: Wikipedia)

Vorarbeiten zu einer Beschreibung binärer Verhältnisse

(B06 zu M06)

Denn sie wissen nicht, dass sie es beide schon in der Hand hatten. D.h.: Manchmal sitzen sie beide nur so am Fenster. Ohne auch nur das geringste voneinander zu wissen.  Bzw.: Eine Zwischenfall. Der XY-Zwischenfall? Der sogenannte XY-Zwischenfall? Das Geben und Nehmen, beider. Der Austausch, auch: Zyklus. Ein Double-bind? Reziprozität. Materialaustausch. Vielleicht kann man sogar sagen: sie haben sich mittelbar die Hand gegeben. Vielleicht auch, aber das wäre ein etwas anderer Ansatz: sie, die zwei Hände eines Körpers, rechte und linke, gebende, nehmende, eines Körpers, der noch näher zu beschreiben wäre.

Oder: Klammern einer Gleichung, satzzeichenmässig: Schrei und exclamation mark. Zwei: wie Hund und Katz, nein: das doppelte Lottchen. Max und Moritz. Teufel und Beelzebub. Zwei: wie Tag und Nacht. Durch dick und dünn, oder: Dick und doof. Vier Fäuste für ein Hallelujah. Vier: Augen, sehen besser als zwei.

Vielleicht auch: Gast und Gastgeber, wobei die Frage: wer Geber? Zwei Monokel: Brillenräder. Körper des Königs. Ausser Rand und Band. Bild und Spiegelbild. Wie: Licht und Schatten.

Noch einmal: Topf und Deckel, Hase und Igel, Stadt und Land. Oder: Liebhaber und Geliebte. Freund und Feind. Geliebter Feind. Himmel und Hölle. Kaffee mit Schuss. (Kaffee fertig). Dann wieder: Vater und Sohn. Mutter und Sohn. Freud und Leid. Rose: mit oder ohne Dornen. Apfel und Ei. Fünfer und Weckli. Wind und Wetter.

Vielleicht aber oder: Narziss oder Goldmund. Pat oder Pattachon. Don Quichotte oder Sancho Pansa. Cindi oder Bert. Hamlet oder Macbeth. Pech oder Schwefel. Sodom oder Gomorrha. Lack oder Leder. Mit anderen Worten: petals on a wet, black bough.

Oder aber und: Stock und Hut. Feuer und Flamme oder Kind und Kegel. Andererseits auch: Leib und Seele, Haus und Hof, Haut und Haar oder laut und Luise.

Mit anderen Worten, zwei wie: Kopf oder Zahl. Geld oder Leben. Sekt oder Selters. Beatles oder Stones. List und Tücke. Maus und Mann. Das heisst: Zimt und Zucker. Dichtung und Wahrheit oder Raum und Zeit. Nicht aber oder: Samt und sonders. Monarchie und Alltag. Rand und Band. Jacke wie Hose. Auch nicht: Jauche und Levkojen. Teer und Feder. Land und Leute. Wum und Wendelin. Wenndelin. Auch nicht ohne: wenn und aber.

Dagegen: Form und Inhalt. Gestell und Ungestalt. Rang und Namen. Sonne und Regen. Oder: Ross und Reiter oder Paul und Paula oder Zeit und Geld oder Geld oder Liebe oder Ratz und Rübe oder Sein oder Nichtsein oder Sein und Zeit oder Kimme und Korn oder Wahnsinn und Gesellschaft oder und oder oder und oder entweder oder. Ff.

Draussen: Greyscale

(B05 zu M05)

Ein Text ist erst da, wenn er da ist. Vorher ist er ein Text, der nicht da ist. Denkt sie. Und über: Das Zuscherbenschreiben. Das gerade nicht. Am Freitag: die Wäsche. Zusatzwäsche. In den Kalender schreiben. Und anderswo: Bier und Wein für die Gäste. Und die Entwicklungszusammenhänge, denkt sie. Und: heute mach ich etwas ganz anderes, denkt sie. Und: Ach wär doch etwas mehr Wut in meinen Texten, und: ach wär ich doch wütender in meinen Texten, so wutmächtig, wie ich manchmal bin, ach, was sind das für Texte, die gar nicht wütend sind. Nicht einmal Scherben, denkt sie. Doch nicht meine Texte, denkt sie, und: Welche denn? Muss ich in meinen Schädel schaun und finde: tausend kleine Schädel. Und da ist nichts das zum aufstehn zwingt. Und nirgends auch nur ein vernünftiger Gedanke. Nur Gedanken über Gedanken. Nur solche die ordnen wollen. Nur kleine Schädelteilchen, denkt sie. Und all die schmutzigen Teller in der Küche. Und der Regen vor dem Fenster. Dauerregen. Regen. Regen. Am Fenster die Schädeltropfen. Nur Gedanken über Gedanken und kein einziger fliesst, nicht dem Glas zu Boden. Oder ist haltbar, seit er gegangen ist, denkt sie. Fast auf dem Weg zur Arbeit fällt der letzte Grund zu Boden. Regnet es. Sind nur tausend kleine Schädelstellen auf dem Balkon. In feuchten Kräutern die Gedanken um Gedanken. Bleibt nichts am Glas. Schaun sie zurück, denkt sie. Machen ganz etwas anderes, denkt sie: machen den Ofen an. Entzündet sich die Flamme nicht. Und nicht nur das, denkt sie, wenn ich nur wütend wäre, wie ich manchmal sein wollte, in meinen Texten. Wenn ichs nur ausdrücken könnte. All die kleinen Schädelchen. Wenn sie sich zeigten, denkt sie. Wenn er sie gesehen hätte, denkt sie, bevor er gegangen ist. Spülen die Teller kaum. Verklebt. Vertrocknet. Natron, muss da ran, denkt sie. Keine Flammen. Nur das kalte Glimmen kleiner Knochen. Werden ausgetrunken, heute noch, denkt sie. Und draussen alles Grau. Und draussen die Farben abgezogen, rechnerisch, denkt sie, mit einer kurzen Bewegung. Und draussen: Greyscale und auch die Plakatwerbung eine Fläche ohne Wut. Hat jemand die Wut abgezogen mit den Farben. Hat jemand die Farben rausgenommen, seit er gegangen ist, bleiben nicht einmal mehr Scherben. Bleiben Schwarz und Weiss und ein paar Töne dazwischen. Bleiben nur Gedanken über Gedanken anstelle der Gedanken. Ist da noch ein Fahrplan in der Ferne und beleuchtet und das Licht nur Grau. Und die Bahnen. Alle pünktlich.

Frenzl

(B04 zu M04)

Frenzl macht ein Alltagsgeräusch und legt sich wieder hin. Windet sich. Dreht sich um die eigene Achse, bestarrt eine Kuckucksuhr und überlegt: es noch einmal zu tun. Unterlässt es aber aus theoretischen Überlegungen. Nachgerade aus denen des Glaubens. Ein Alltagsgeräusch, will es bewusst und mit festem Willen erzeugt werden, so gut, so intensiv und glaubwürdig verursacht werden, sodass es in so einer Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit stünde, die es unmöglich machte, es näher zu beschreiben, schliesst sich schon der Gedanke an seine theoretische Wiederholbarkeit von Vornherein aus. Die Überlegungskette bräche noch vor dem Entstehen zusammen. Und ein Gesetz kausaler Insuffizienz nichtrepetiver Handlungen. Oder muss es heissen: insuffizienter Kausalität?

So schnell erging sich die Rede über ihn, dass er nur die Hälfte mitbekommen hatte. Darauf ein Helles. Das Helle nach dem Mittagsschläfchen. Sein Mittagshelles. Und der Titel: weg. Wo könnte man es finden? Und Niemand. Und Nichts. Lag es an seinem Dialekt, dass ihn niemand verstand? Oder an seiner direkten Art, mit der er sich an den Sachen vorbeischob? Die ihn ausliess?

Frenzl wischt sich den Schaum von der Oberlippe, wirft einen weiteren Blick auf die Uhr an der Wand, die sich nun regen sollte und es nicht tat. Dreht sich darauf in die Gegenrichtung. Oben und Unten, notiert er sich: auch eine Frage des Handstands. Und er, fügt er hinzu: auch eine Frage des Handstands. Er: ein Handsteher vor dem Herrn. Der Herr: ein Namensschild mit Kaffeeflecken, wenn nicht Schlimmeren. Was hat er da gemacht? Würde er sich bitte umdrehen und mit ihm beschäftigen? I bins doch. Dr Frenzl. Sehens me net? Könnens me hörn? Hallo? Man wird einfach nicht verstanden, denkt sich Frenzl, und das macht die Dinge schwierig. Und er platziert noch einmal eine Frage, aber der sonderbare Herr schüttelt nur den Kopf und nuschelt etwas herüber. Woas homs gsogt?. Ebenso. Nicht. Und oben im ersten Stock: ebenso. Nicht. Dort nur schweigende Eintracht. Dort Gebärdenhölle. Dort oben, oben und unten: Lesende. Frenzl gibt auf. Die Stadt liegt im Durst, denkt er sich. Liegt ihm in den Armen. Am späten Morgen. Wissens. I versteh Sie heit net. I kumm wieder, wenn I Sie versteh. Dann geht er hinaus und macht sich auf die Suche nach einem Biergarten. Dann geht er in einen Supermarkt, weil er keinen Biergarten findet. Dann geht er nach hause. Beim Eintritt in seine Mansarde bleibt er kurz an einem Spiegel hängen. I bins doch. Dr Frenzl. Sehens me net?, sagt er da. Dann legt er sich erst einmal hin. Bis er wieder aufsteht.