Sariette schreibt beinahe ein Gedicht und verliert es nicht.

(B03 zu M03)

Nennt es: Halbe Miete. Träufelt die Ordensritter vom Trüffel hinein. Streicht die Trüffel wieder. Kurz danach die Ordensritter. Beginnt noch einmal neu mit panforte marguerita. Was bedeutete es gleich? Steht da noch etwas in seinem Heftchen? Bar jeder Bedeutung. Hoffnung, dass es phonetisch taugte: „Abwarten“, sagen. Dann weiter: Über zwei Arten zu gehen, sollen die nächsten Zentimeterchen sein. Fussnote: Das eigene Gehen und das der anderen. Denn selbst geht man nie. Sariette muss lachen über diese geniale Destruktion. Den Ortswechsel. Fügt hinzu: Zukunftsangst im Spargelwasser. Oder war es: und. Das würde sich später glätten. Ähnlich wie die Sorgen des kleinen Darwin. Sein leichter Flaum von Nordnordost. Wird aufgefangen. Hineingeklebt. Halbe halbe Miete. Und ein Wortdreher: letztwann / alle irgendlich. Mal schaun, ob noch zu gebrauchen. Und nun: der wichtigste Satz: Ich schaue bei meiner eigenen Geistesvernichtung zu. Bin, ehrlich betroffen, mein eigener Gast. Das waren zwei, den letzten muss man streichen. Feststellen: Wieder über den Rand gemalt zu haben. Nicht als schlimm empfinden, schreibt man über: das Malen jenseits der Ränder. Bringt man noch etwas Lokalcouleur hinein. Und etwas Tagesschau, zitiert man eben: Ambrosia. Und klatscht und staunt und freut sich über nationale Ausreisstage. Allergikertage. Tage eben. Dann folgt kein Punkt und fertig ist die Chose fürs Erste. Und wartet und wartet und wartet und wartet und wartet und wartet als Rohbau bis sich Sariette wieder geneigt fühlen wird, zu dichten. Das ist er nämlich in Teilzeit: ein Rohbaudichter. Naturgemäss: Mit der berufsfälligen Angst vor dem letzten Anstrich. Und legt es zu den anderen. Das Zettelchen mit den vielen Zahlen auf der Rückseite. Die Gedichtbaustelle. In ein Buch. Das nicht ihm gehört. Dem es egal sein wird. Es wird nicht gefunden werden. Ausser von ihm. Vielleicht. Der es jetzt noch einmal herzen muss.

Walters Grund

(B02 zu M02)

Gab es noch einen Grund zu leben? Die grösste Demütigung war ihnen widerfahren, war ihm persönlich widerfahren. Den grössten Teil seines Lebens hatte er sich eingesetzt für das Werk wie kein anderer. Zusammengehalten, wo keine Kohäsion, die ganze Truppe: über Generationen; über alle Hierarchien hinweg. Die grauste Maus zum Glänzen gebracht. Noch einmal zog er das Gruppenphoto vom letzten Auftritt bei den nationalen Meisterschaften, bei denen sie nur ganz knapp das Siegerpodest verpasst hatten, aus seiner Jackentasche. Und strich ihnen fast zärtlich über ihre geöffneten Münder: wie er sie liebte. Mochten sie ihm persönlich auch noch so verhasst sein. Als Ganzes waren sie, ja, etwas Besonderes. Etwas Grosses. Jahre war das her.

Natürlich hatte er keine Augen dafür. Kein Gefühl. Er war gänzlich unmusikalisch, das hatte Walter sofort festgestellt, als er auf der Toilette pfiff. Sekunden daneben. Und doch wollte er ihm eine Chance geben. Damit es nicht hiesse … mit der Hoffnung allerdings, sie wurde nicht ergriffen, dass er absagen würde, was er dann auch tat. Ein Chef im Personalchor. Undenkbar. All the ologies of the colleges, all the isms of the schools. Das war dann wohl nicht ranggemäss.

Misstrauisch hatte er alle Aktivitäten Walters beäugt. Vermutet, zu recht, dass er, Walter, sie alle zu etwas formen konnte, wozu er nicht imstande war. Ja, dass man auf ihn hörte und sein Stöckchen Gewicht hatte, mehr als alle Rundschreiben seiner Welt. Und All the ologies of the colleges, all the isms of the schools und er als Neuling, damals, und Walter dagegen, jenseits der Arbeitszeiten, aber auch sonst: das hatte er mitbekommen müssen, nicht er, der Bläser des Marsches, denn er: nur zweite Garnitur. Und doch Institutionsdirektor.

Subordination. Die unassorted knowledges. Subordination sei die Stärke, hatte er Walter gepredigt, die er an Menschen schätzte, und die er daran bemass. Walter sah seine Harmondeweys als eine Alternative zu diesem Alltag. Sah sein Stöckchen und die unmenschliche Liebe seiner Stimmgabel. Eine Verantwortung, die von Holz und Eisen übernommen wurde und frei von Selbstzweck und kranker Eitelei. Er aber sah: gefährliche Konkurrenz. Doch: je mehr er versucht hatte, ihre Treffen zu unterbinden, ihnen die Räume zu verschliessen oder sie mit Nutzern zu belegen, einmal sogar, sich in ihr Repertoire einzumischen: umso erfolgreicher und passionierter dirigierte Walter seinen gemischten Chor gegen die Zwänge dieser Diktatur. Und sie erhielten Anfrage um Anfrage und Kranz um Kranz. Doch auch das war Jahre her.

Die neuen Samstagsöffnungszeiten waren ganz klar gegen sein sich im Tiefgang befindendes Projekt gerichtet und vorläufiger Gipfel einer langen Reihe von Schikanen. Wer mochte noch zu den Proben kommen. Schon den Freitag zu verschieben, bedeutete die Grenze der Belastbarkeit dieses sensiblen Gefüges zu überschreiten. Und den Schwund einzuleiten. Und nicht etwa ein zunehmendes Desinteresse an dieser göttlichen Musik, wie manche behaupteten. Mit der Samstagsöffnung hatte er sein Ziel erreicht und brachte ihre Gemeinschaft zu Bruch. Subordination. Dieses Wort wollte Walter noch einmal hören.

Er steckte das Bild zurück in sein Jackeninneres und klopfte an der Türe, trat aber ein, ohne eine Antwort abzuwarten.

Der Mann sass von ihm abgewendet, starrte aus dem Fenster und hatte offensichtlich sein Klopfen und Eintreten nicht bemerkt. Erst als Walter näher trat und in seine Gesässtasche fasste, schien er ihn wahrzunehmen. Doch da war es schon zu spät. Er hörte vielleicht noch den Beginn der zweiten Strophe, die Walter nun summte. Aber er gab keinen Laut mehr von sich. Darauf konnte Walter aber auch verzichten.

MacFinsters ästhetischer Blick für die Zahl

(B01 zu M01)

Wann genau ihm diese Fähigkeit, wie man nun sagt, zufiel, kann selbst MacFinster nicht mehr erinnern. Uns wird berichtet, dass er eines Tages bei der Niederschrift einer Signatur ins Stocken geriet und zunächst davongetragen werden musste. Er lernte aber bald mit dieser neuen Art des Sehens zu leben. Nicht mehr eine Zahl als Darstellung eines Wertes wahrzunehmen, sondern „ihren Strich“, ihre Materialität als Bild zu betrachten. Betrachten zu müssen. Dabei ist dieses Betrachten ein durchaus verschiedenes und hängt sehr stark auch von seiner Gemütsverfassung oder vielleicht nur vom Wetter ab. Einmal machte er sich die Mühe, seine spontanen Empfindungen, die er gegen die uns bewegenden Zahlen hatte, zum Ausdruck zu bringen, zu notieren und hinterliess uns für

0 ein Ei, eine Glatze von oben, ein offenes Ohr

1 ein Hausteil mit Vordach, ein ramponierter Pfeil, ein Haken an keiner Sache

2 immer auch: ein Fragezeichen – ohne Punkt, eine Nase

3 ein blankes Gesäss, ein Schmetterlingsflügel

4 eine Triangel oder ein Wäscheständer

5 ein Rollstuhlteil, eine Schwangere

6 eine halbe Brille, ein Pflänzchen

7 ein schlankes Beil oder Stemmeisen

8 eine Brezel oder Gebäck, ein dickes gliedloses Männchen

9 die andere Brillenhälfte, ein Spaziergang um einen See

Das war an einem Donnerstag vor vier oder fünf Jahren. Ihm dränge sich, wie er immer wieder betont, eine Zahl, eine ganze Zahlenreihe genau mit solchen Eindrücken auf, sodass er eigentlich eine Zahl als solche schon gar nicht mehr erkennen könnte. Dagegen läsen sich Kontoauszüge wie kurzweilige Erzählungen. Die Lehrbücher der Mathematik verschlünge er wie wunderbare Romane und die Ziffern auf den Wartemarken im Arbeitsamt erschienen ihm als manchmal gelungene Bonmots. Für seinen damaligen Beruf eines Bibliothekars war er aufgrund dieser nun veranlagten, epiphanischen Qualität nicht mehr geeignet und nach einer gewissen Übergangszeit fand man auch die Möglichkeit, sich seiner zu entledigen. Viele seiner ehemaligen Mitarbeiter vermissen aber bis heute seine präzisen Voraussagen, Zusammenfassungen oder Interpretationen eines ihm unbekannten Buches aus lediglich seiner numerischen Signatur.