Marxistische Bierbrauer aus Bayern

Kurz und gut, der alte zittrige Professor (Regenwurmologe) gefiel mir sehr. Erstens war er gar nicht aus Freiburg, sondern aus Bern. Und das bedeutete nicht wenig. Bern leidet unter dem alten, mitteleuropäischen Vorurteil, etwas kleiner als der jüdische Friedhof von Prag, aber um einiges freudloser zu sein. Doch das ist nicht richtig. Und die Berner sind nicht übel. Sie haben den fast mediterranen Charakter einiger marxistischer Bierbrauer aus Bayern, sind zugleich aber weniger aufdringlich. Und sie haben mit uns Inselgebürtigen etwas gemeinsam: ein gesundes Misstrauen gegen Autos mit dem Kennzeichen AG, das in ihrem Fall das Kennzeichen des Kantons Aargau ist (in Sizilien steht AG für Agrigento, n.d.t.). Dieses wird dort mit “Achtung Gefahr” übersetzt. Diejenigen, die ich gar nicht ausstehen kann, sind die Zürcher, die Genfer und die Freiburger. Auch der Alte erträgt sie nicht!

Passage / Übers. v. A. Impedovo: Die Mordfälle der Via Medina-Sidonia. (Santo Piazzese, I delitti di via Medina-Sidonia, Sellerio Editore Palermo, 1996, S.213f.)

Innere, virtuelle Bibliotheken

(Nachträge II)

Als dritter Bibliothekstyp, den ich hiermit einführe, ist die virtuelle Bibliothek der mündliche oder schriftliche Diskussionsraum über Bücher. Sie ist ein wandlungsfähiger Teil der kollektiven Bibliothek einer jeden Kultur und situiert sich am Kreuzungspunkt der inneren Bibliotheken der jeweiligen Gesprächsteilnehmer.

Aus einer Fussnote (15, S. 156) in: Bayard, Pierre: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat. (Kunstmann, A), 2007

Sammelstellen, hybride

(Nachträge I)

(…) Was als «hybride Bibliothek bezeichnet wird – eine Einrichtung, bei der eine konventionelle um eine digitale Bibliothek ergänzt ist erweist sich zunehmend als problematisch.

Eine virtuelle Bibliothek kann nämlich, inzwischen wieder ganz auf einen lokalen Server fixiert, aus urheberrechtlichen finanziellen Gründen allem technischen Brimborium zum Trotz nicht mehr die umfassenden Dienstleistungen bieten, die für konventionelle Bibliotheken Standard waren. Insbesondere die wissenschaftlichen Zeitschriften werden da Knacknuss, weil die Druckausgaben immer teurer werden und Verlage sich weigern, die elektronischen Rechte an Bibliotheken abzutreten, so dass immer nur neusten Nummern verfügbar und die Kernaufgabe einer Bibliothek, die Archivierung, in Frage gestellt ist.

Jochum macht noch auf etwas anderes aufmerksam, das für Schweiz genauso wie für Deutschland gilt. 2006 ist die «Deutsche Bibliothek » in «Deutsche Nationalbibliothek» umbenannt worden, obwohl sie bloss eine Sammelstelle der seit 1913 in Deutschland erschienenen Veröffentlichungen also «ohne die historische Bestandestiefe auskommen muss, die andere Nationalbibliotheken auszeichnet». Die Kritik gilt, ganz abgesehen von dem für die deutsche Schweiz total unglücklichen Beiklang des Wortes «national», für die kürzlich zur Schweizerischen Nationalbibliothek umgetaufte Landesbibliothek. Auch diese Bibliothek ist bloss eine Sammelstelle der seit 1895 in der Schweiz erschienenen Veröffentlichungen, auch ihr fehlt die für eine wirkliche Nationalbibliothek unabdingbare «historische Bestandestiefe» bis den ersten überlieferten schriftlichen Zeugnissen.

aus dem Artikel: „Hybride Bibliotheken“, Der Bund, 15.8.07, S.25

Im Brunnen

(M56)

Das fließende Wasser zwischen den Büchern, dort in der Bibliothek beuge ich mich unter einen Wasserhahn, das ist der ganze Zauber, sage ich, Bücher und Wasser. Es ist wunderbar, daß in der Bibliothek jemand an Wasser gedacht hat, nämlich vielleicht der Architekt, Scharoun. Es sieht ja fast wie ein Versehen aus, eine falsch gelegte Leitung oder eine nicht geplante Nutzung des Raums. Ich ziehe diese Bibliothek allen übrigen vor wegen dieses Wasserhahns neben den Regalen. Sie ist auch sonst sehr freundlich, die verschiedenen Steine und die zum Himmel schrägen Fenster, der Zugang über die Brücke mit dem abgestuften Garten. Aber, das ist eben alles Scharoun, dieses Waschbecken und das Wasser sind einfach menschlich. Ich bin sehr dankbar für diese Kleinigkeit. (…) Die Unbekannten. ich habe es ja jedes Mal, wenn ich vom Brunnen, was für ein schönes Wort, wie schön wäre das gewesen, einen Brunnen in der Bibliothek zu haben oder eine Bibliothek im Brunnen, wieder neu gesehen dieses Bild und bedauere jetzt in meiner Ungeduld, daß ich nicht schon vorhergesehen habe, wie ich es bei der nächsten Wiederkehr, und Einkehr, DIE OFFENEN TÜREN, sehen werde.

Aus: Ariane Breidenstein, Und nichts an mir ist freundlich, S.109f., Frankfurt a.M., 2007

An dieser Stelle endet Benedikts Passagensammlung.

Umkreisen

(M55)

Alle neunundneunzig Bücher des Erdenkreises habe ich gelesen und das neunundneunzigste, welches den Äquator in Alexandrinern bemisst, habe ich auswendig gelernt. Die rhythmischen Zyklen, die das Versmass durchläuft, imitieren die Sonnenläufe zwischen den Polen und formen so die Welt zu einer Kugel aus ungezählten Kreisen.

Die neunundneunzig Bücher der Bibliothek von Wergenstein enthielten die Welt in ihrer Gesamtheit. Umfassend war das Wissen, das sie dem Leser schenkten, und still das Vergnügen, das ihre Lektüre bereitete. Wer das kreisrunde Gestell umschritt, umkreiste die Dinge und umrundete die Welt. Als Antonia die Bibliothek von Wergenstein betrat, fragte sie: „Beschreiben diese Bücher auch den Raum, der von den Dingen ausgeht?“ Etwas ratlos erzählte ich ihr von den Totenköpfen in Madagaskar, von den Mangrovenwäldern im Amazonas und von den Hunden der Mongolei.

Markus A. Hediger, Die Bibliothek von Wergenstein, Skypaper Press, 2006, mehr …