Was eine Fürstin vom Bibliothekar verlangte

(M14)

Joseph Sebastian Grüner (1780-1864)

Als wir (Goethe und der Magistrats- und Kriminalrat Grüner in Eger am 30. August 1821) zu den Schlossruinen kamen, erzählte ich Goethe, daß die Erbprinzessin von Oldenburg, geborene Großfürstin von Rußland, indem sie die Stauden mit roten Beeren betrachtete, ausgerufen habe: Sehen Sie hier sproßt das Blut der Ermordeten aus.

Goethe äußerte hierauf: Sie hatte Geist, doch führte dieser sie in ihren Äußerungen oft zu weit. So hat sie zu Weimar in der Bibliothek, als der Bibliothekar ihr malabarische Dokumente vorzeigte, und auf ihr Verlangen, den Inhalt zu wissen, denselben nicht anzugeben vermochte, weil er die Sprache nicht verstehe, ausgerufen: Ein Bibliothekar und versteht nicht malabarisch! als ob ein Bibliothekar, bemerkte Goethe, alle Sprachen der Welt verstehen sollte.

gefunden in: Volkmann, Ernst. – Geschichten von Bücherwarten und Büchereien : Zur Ehrung der um die deutsche Bibliophilie so verdienten Deutschen Bücherei in Leipzig, und um die Buchliebhaber zu erfreuen / gesammelt von Ernst Volkmann im Auftrage der Gesellschaft der Bibliophilen. – Weimar : Gesellschaft der Bibliophilen, S.17, 1938

noch einmal Goethe: „Aus aller Ordnung entsteht zuletzt Pedanterie; um diese loszuwerden, zerstört man jene, und es geht eine Zeit hin, bis man gewahr wird, daß man wieder Ordnung machen müsse. (Maximen/Reflexionen)“

Der Bibliothekar als Autor

(M13)

Wie der lesende, so zählt der schreibende Bibliothekar – naheliegendem Berufsklischee zum Trotz – durchaus nicht zu den typischen Vertretern seiner Zunft. Im Gegenteil bin ich davon überzeugt, daß der literarisch ambitionierte Literaturverwalter in der belletristischen Gesamtproduktion eher unterrepräsentiert ist: Selbst dem nicht mehr als durchschnittlichen Literaturkenner sind spontan zweifellos ebenso viele schriftstellernde Ärzte (Schnitzler, Döblin, Benn) oder Juristen (Thoma, Tucholsky) wie Bibliothekare geläufig. Dies mag zunächst in den schon für die Berufswahl ausschlaggebenden Persönlichkeitsmerkmalen begründet sein, jener nicht so sehr von schöpferischer Intelligenz als verläßlicher Zuarbeit angezogenen Begabung.

Ausschlaggebend wird auch der ernüchternde Umgang mit dem Buch als Verwaltungsmasse, als „bibliographische Einheit“ sein, sowie die schwermütige Pflicht, Autorenhoffnungen gleich zu tausenden in den Magazinen zu begraben.

In: Döhmer, Klaus. – Merkwürdige Leute : Bibliothek und Bibliothekar in der Schönen Literatur. Würzburg : Königshausen und Neumann, 1982 (S.98f.)

Vorgang „V“

(M12)

Was soll ich mit der Seite tun? Ich entschied mich für den Vorgang „V“. Der Buchstabe galt bei mir als Kürzel für „vergängliches, ephemeres Material“. Die Bibliothek verfährt nach dem Motto: solches Material sammeln, sieben und dem Test der Zeit aussetzen. Sobald wir zu einem gegebenem Thema immer mehr Schriften entdecken, wickeln wir sie am Ende in Packpapier, machen eine kurze Katalog-Eintragung und legen den Packen zur Seite … Der V-Vorgang besteht überwiegend aus kauzig verschrobenen literarischen Texten oder unbeantworteten Liebesbriefen – je nachdem, wie man es nimmt … Es war höchste Zeit, daß ich den Vorgang einsah. Er platzte bereits aus den Nähten. Es war an mir, ihn auszujäten, sobald einige Monate verstrichen waren. Dafür gibt es keine Regel … Was den Inhalt angeht, so sind die Papiere allesamt von zweifelhaftem oder unbekanntem Wert, der sich nicht ohne weiteres abschätzen läßt. So sortierte ich nach dem Zufall aus und entfernte: 2 Geständnisse über perfekte Verbrechen, 10 Adelsstammbäume von unbekannten Personen, 12 Manifeste über den einzig wahren Glauben, 1 Entwurf zu einem Perpetuum mobile. Das gab wieder Luft.

In: Ann Grace Mojtabai, Mundome. Frankfurt 1978

Verzeichnungen

(M11)

Auf qualitative Differenzierung ist auch in der vorliegenden Arbeit verzichtet worden. Ersatzweise sei hier die Frage nach der Interdependenz von literarischer Qualität einer Darstellung und ihrer Bewertung des Sujets gestellt. Läßt man als Qualitätsindex jene Auswahl gelten, wie sie durch Verzeichnung in einem neueren Literaturlexikon mittleren Umfangs geleistet wird, so erfüllt etwa die Hälfte der ausgewerteten Texte diese Bedingung. Von diesen nun stellen rund 60% Bibliothek und Bibliothekar mit überwiegend negativen, zumindest aber satirisch überpointierten Eigenschaften dar, signifikant mehr als das Gesamt der Texte (etwas mehr als 40% negative Urteile). (…) Selten oder höchstens in Arbeiten minderer literarischer Potenz ist die Bibliothek selbst unaustauschbarer Darstellungsgegenstand, ist ihre Eigenart als Arbeitsplatz abhängig Beschäftigter thematisiert: Häufiger dagegen begegnet sie als Mythenträger. Selten auch nimmt der Bibliothekar mit seiner Berufsidentität Gestalt an: Literarisch reizvolle Protagonisten werden fast durchweg unter der Rubrik „intelligenter Sonderling“ geführt.

In: Döhmer, Klaus. – Merkwürdige Leute : Bibliothek und Bibliothekar in der Schönen Literatur. Würzburg : Königshausen und Neumann, 1982 (S.96f.)

Werner

(M10)

35 Jahre. Es ging mit Riesenschritten auf die 40 zu. Er war immer noch Bibliothekar. Viele seiner Altersgenossen leiteten große Betriebe, versahen hohe politische Posten oder amteten als Professoren. Hatte er versagt? Nein, er war mit seiner Arbeit zufrieden! Hoher Verdienst lockte ihn nicht, hier konnte er sich selbst sein. Er beneidete niemand, weder den Direktor noch irgendeinen Vorgesetzten.

In: Vollenweider, Ernst: Die Stadt der Gerechten. Zürich, 1968