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Und richtig, fragte er mich sehr gehonigelt und dienstfertig, was der Herr General denn zu wissen wünschen. – ‘Oh, sehr vieles’ – sage ich gedehnt. ‘Ich meine, mit welcher Frage oder welchem Autor beschäftigen Sie sich? Kriegsgeschichtliches?’ sagte er. ‘Nein, gewiß nicht, eher Friedensgeschichtliches.’ ‘Historisch? Oder aktuelle pazifistische Literatur?’ Nein, sagte ich, das ließe sich durchaus nicht so einfach sagen. Zum Beispiel eine Zusammenstellung aller großen Menschheitsgedanken, ob es das gibt, frag ich ihn listig; du erinnerst dich ja, was ich auf dem Gebiet schon habe arbeiten lassen. Er schweigt. ‘Oder ein Buch über die Verwirklichung des Wichtigsten?’ sag ich. ‘Also eine theologische Ehtik?’ meint er. ‘Es kann auch eine theologische Ethik sein, aber es muß darin auch etwas über die alte österreichische Kultur und über Grillparzer vorkommen’ verlange ich. Weißt du, es muß offenbar in meinen Augen ein solcher Wissensdurst gebrannt haben, daß der Kerl plötzlich Angst bekommen hat, er könnte bis auf den Grund ausgetrunken werden; ich sage noch etwas von etwas wie Eisenbahnfahrplänen, die es gestatten müssen, zwischen den Gedanken jede beliebige Verbindung und jeden Anschluß herzustellen, da wird er geradezu unheimlich höflich und bietet mir an, mich ins Katalogzimmer zu führen und dort allein zu lassen, obgleich das eigentlich verboten ist, weil es nur von Bibliothekaren benützt werden darf. Da war ich dann also wirklich im Allerheiligsten der Bibliothek. Ich kann dir sagen, ich habe die Empfindung gehabt, in das Innere eines Schädels eingetreten zu sein; rings herum nichts wie diese Regale mit ihren Bücherzellen, und überall Leitern zum Herumsteigen, und auf den Gestellen und den Tischen nichst wie Kataloge und Bibliographien, so der ganze Succus des Wissens, und nirgends ein vernünftiges Buch zum Lesen, sondern nur Bücher über Bücher: es hat ordentlich nach Gehirnphosphor gerochen, und ich bilde mir nichts ein, wenn ich sage, daß ich den Eindruck hatte, etwas erreicht zu haben! Aber natürlich war mir, wie der Mann mich allein lassen will, auch ganz sonderbar zumute, ich möchte sagen, unheimlich; andächtig und unheimlich.
Aus dem Kapitel In der Bibliothek. In: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1987. Kapitel 100: S. 459-465.