Hir blüht Natur und Kunst / und was man seltzam nänt

(M53)

DIß ist der traute Sitz / den Themis ihr erkohren.

Da Svada sich ergetzt / der hohen Weißheit Zelt

Das aller Künste Schaar in seinen Schrancken hält,

Vnd was berühmte Leut aus ihrem Sinn gebohren!

Hir leß ich / was vorlängst Gott seinem Volck geschworen

Hir sind Gesetz und Recht’ hir wird die grosse Welt

Beschriben / ja was mehr; gebildet vorgestelt /

Hir ist die Zeit / die sich von anbegin verlohren.

Hir find ich was ich wil / hir lern’ ich was ein Geist

Hir seh ich was ein Leib / und was man Tugend heist,

Schau aller Städte Weiß’ und wie sie stehn und fallen.

Hir blüht Natur und Kunst / und was man seltzam nänt

Doch als ich disen Mann / der alhir lebt erkänt /

Fandt ich durch alles ihn / und weit gezihrt vor allen.

Andreas Gryphius, In Bibliothecam Nobiliß. Amplißimique Viri GEORGII SCHONBORNERI, De & in Schönborn & Zissendorff. S. Caes. Mai. Consiliar. Comitis Palatini, Fisci per Silesiam & Lusatiam Praefecti.1643, via Projekt Gutenberg

Der Hungernde

(M52)

Das ist ja das Merkmal jenes “Bruches”, von dem Jedermann als von dem Urleiden der modernen Cultur zu reden pflegt, dass der theoretische Mensch vor seinen Consequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht mehr wagt sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseins anzuvertrauen: ängstlich läuft er am Ufer auf und ab. Er will nichts mehr ganz haben, ganz auch mit aller der natürlichen Grausamkeit der Dinge. Soweit hat ihn das optimistische Betrachten verzärtelt. Dazu fühlt er, wie eine Cultur, die auf dem Princip der Wissenschaft aufgebaut ist, zu Grunde gehen muss, wenn sie anfängt, unlogisch zu werden d.h. vor ihren Consequenzen zurück zu fliehen. Unsere Kunst offenbart diese allgemeine Noth: umsonst dass man sich an alle grossen productiven Perioden und Naturen imitatorisch anlehnt, umsonst dass man die ganze “Weltlitteratur” zum Troste des modernen Menschen um ihn versammelt und ihn mitten unter die Kunststile und Künstler aller Zeiten hinstellt, damit er ihnen, wie Adam den Thieren, einen Namen gebe: er bleibt doch der ewig Hungernde, der “Kritiker” ohne Lust und Kraft, der alexandrinische Mensch, der im Grunde Bibliothekar und Corrector ist und an Bücherstaub und Druckfehlern elend erblindet.

Aus: Friedrich Wilhelm Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Kap.18

Öffnen, rekonstruieren

(M50)

Wie Gessner seine bibliotheca universalis intendiert Fries sein Werk (d.i. Bibliotheca philosophorum, h.a.) als offene Form: Im weiteren Verlauf der Vorrede verspricht er, er wolle zugeben, wenn er sich über chronologische Zuschreibungen unsicher sei, um Sachkundige dadurch zu veranlassen, ihn auf Verbesserungen hinzuweisen; diese wolle er dann mit namentlicher Nennung der res publica litteraria bekannt machen. Bemerkenswert ist hieran zweierlei: Erstens bezieht sich die Offenheit der Form anders als bei Gessner, entsprechend der veränderten Intention des Werkes, nicht auch auf die vorauszusehende weitere Textproduktion der Zukunft, sondern ausschließlich auf die Rekonstruktion der Vergangenheit. Fries’ Projekt ist mithin von Fischarts Kritik an Gessner nicht betroffen: Die Vergangenheit ist theoretisch vollständig rekonstruierbar, wenn man wie Fries einen zeitlichen Grenzpunkt markiert. Zweitens benennt Fries an dieser Stelle explizit den Adressatenkreis seines Werkes: Es ist die internationale Gelehrtenwelt, und zwar insbesondere die nachfolgenden Generationen.

Aus:  Werle, Dirk. – Copia librorum : Problemgeschichte imaginierter Bibliotheken 1580 – 1630 / Dirk Werle. – Tübingen : Max Niemeyer Verlag, 2007. S.205