Luftbibliothek

(M44)

erst jetzt stosse ich auf diese anmerkung mit einem zitat von charles babbage in franz dodels weblog, das zunächst verwirrte, dann aber klarer und verständlicher wurde und bald eigene vermutungen (lange gehegte, vage vorgestellte, nie formulierte modelle) bestätigt. und noch weitergehend: die frage worüber oder warum schreiben* ein für alle mal beantwortete. denn es geht sehr wohl um eine sehr sehr kleine aber ganz konkrete form der einflussnahme.

10374-10378: Vgl.: Charles Babbage, The Ninth Bridgewater Treatise. A Fragment. First publishes 1837; 2nd ed. London 1838; Chapter IX., On the Permanent Impression of our Words and Actions on the Globe we inhabit: “The pulsations of the air, once set in motion by the human voice, cease not to exist with the sounds to which they gave rise. (…) The waves of air thus raised, perambulate the earth and ocean’s surface, and in less than twenty hours every atom of its atmosphere takes up the altered movement due to that infinitesimal portion of the primitive motion which has been conveyed to it through countless channels, and which must continue to influence its path throughout its future existence. (…) Thus considered, what a strange chaos is this wide atmosphere we breathe! Every atom, impressed with good and with ill, retains at once the motions which philosophers and sages have imparted to it, mixed and combined in ten thousand ways with all that is worthless and base. The air itself is one vast library, on whose pages are for ever written all that man has ever said or woman whispered. (…)”

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* wenn wir das schreiben nicht nur als grundlage und vorstufe des gesprochenen wortes (voice), sondern analog, die bewegungen des schreibens und die dadurch verursachten druckwellen als akkumulierbar, speicherbar oder sonstwie (atmosphärisch) repräsentierbar vorstellen. weitere stichworte: schallarchive, lichtbildarchive, druckwellenarchive, luftliteratur

(via)

Diskurse

(M43)

Aus: Stocker, Günther. – Schrift, Wissen und Gedächtnis : das Motiv der Bibliothek als Spiegel des Medienwandels im 20. Jahrhundert / Günther Stocker. – Würzburg : Königshausen und Neumann, 1997

Bibliothek der Gnade

(M42)

Die Bibliothek der Gnade wurde im Jahre 1997 gegründet. (…) in sämtlichen Zeitungen erschien eines Novembertages 1997 die gleiche Annonce. Es sei, hieß es dort, eine Spezialbibliothek geschaffen worden. Ihr Ziel bestünde in der Sammlung, Archivierung und dem öffentlichen Zurverfügungstellen all derjenigen Werke, die keinen Verlag gefunden hatten. Arbeiten jeder Art und jeglichen Umfangs seien willkommen. Die Bibliothek mache keine Unterschiede. Tagebücher, verschmähte Enzyklopädien, Waschzettel, Abhandlungen, Träume, Spruchsammlungen, Witze, Pamphlete, Romane – was auch immer in Schriftform vorliege und gedemütigt sei, es fände nun seinen Ort und seine Signatur. (…) Jedes eingereichte Manuskript werde mit Freuden angenommen und zugleich einer konservatorischen Behandlung unterzogen, um es für spätere Jahrhunderte und deren klügeres Urteil haltbar zu machen. Jedermann habe, Tag und Nacht, Zutritt zur Bibliothek. Auf Verlangen erhielte man eine mit neuartigen Reproduktionstechniken blitzschnell hergestellte Kopie jeder beliebigen Arbeit kostenlos ausgehändigt. Modernste Computertechnologie mit ausgeklügelten Retrievalsystemen ermöglichen den uneingeschränkten Zugriff auf die Bestände, in sämtlichen Sprachen der Welt. (…) Es ist kein Geheimnis, daß sich gerade in den Anfängen der Bibliothek die Mehrzahl der Benutzer aus Autoren rekrutierte. (…) Mit dem unaufhaltsamen Anwachsen der Gnadenbibliothek (…) spitze sich der Konflikt zwischen der althergebrachten Lese- und Schreibkultur auf der einen Seite und der anarchistischen Flut der Freien auf der anderen Seite zu. Die Beliebtheit der Gnadenbibliotheken verkleinerte die Absatzchancen des selektierenden Verlagswesens drastisch. (…) Energisch wies man auf die eigene Bedeutsamkeit hin. Die Flut einzudämmen, aus dem Strom aus Höchstem und Tiefstem, aus Geschmiere, Mittelmäßigen, Dilettantischem, Widerwärtigem (…) die wenigen Fische herauszuangeln, die der Lesemühe wert seien, müsse als undankbares und edles Geschäft hoch geachtet werden. (…) hiervon

Aus: Thomas Lehr, Zweiwasser oder die Bibliothek der Gnade, Berlin 1992, S. 347ff.

Lesezeichen

(M41)

Ich saß in schmaler Reihe vor einer Glaswand, hinter der der aufsichtsführende Bibliothekar die Lesenden keine Sekunde aus den Augen ließ. Bei der geringsten Verfehlung kam er aus seinem Glashaus und wies den Benutzer mit Gesten zurecht. Man durfte das Buch beim Umblättern nicht zu sehr ans Lesepult pressen, man durfte es nicht aufgeschlagen zurücklassen, wenn man den Lesesaal verließ, und mußte ein schmales Kärtchen als Lesezeichen hineinstecken. Ließ jemand ein Buch eine Minute aufgeschlagen auf dem Lesepult, kam der Bibliothekar, steckte ein Kärtchen hinein und klappte es zu. Wortlos. Er sprach überhaupt nie. Weder Guten Tag noch Auf Wiedersehen. Hinter seiner Glaswand thronend, maß er die Lesenden mit strengen richterlichen Blicken. Einen englischen Kunsthistoriker, der mit Malerbuchkatalogen arbeitete, hat er stumm hinauskommandiert. Wahrscheinlich wurde er zum Direktor beordert. Was er falsch gemacht hat, weiß ich nicht.

Aus: Ute Treder, Die Alchemistin, 1993, S.11f.

Der gräßlichste Unflat

(M40)

Zwischen den Seiten der Bücher”, sagte er, “aber das können Sie sich nicht einmal vorstellen, weil Sie noch so ein windiger Neuling sind, liegt die gräßlichste Unflat jener schmutzigen und buckligen Wesen, die wir Leser nennen. Ein in seine Lektüre vertiefter Leser ist an sich schon ein lasterhaftes Wesen, übelriechend sein Atem und seine Hose, auf dem besten Weg zum Gehirnschwund mit allem, was sich daraus für die Transpiration und für die Gesundheit der Gliedmaßen im allgemeinen ergibt. In den Büchern findet man daher alles: Schuppen zum Beispiel! Sie wissen ja nicht, wie eklig das ist, eine Schuppendecke, als hätte es ins Buch geschneit, dazu die anderen Absonderungen der Kopfhaut; auch Haare! Sie wissen gar nicht, wie viele Haare, und erst die Körperbehaarung! Härchen aus Bärten, Schnurrbärten und Ohren landen in den Büchern; und bei jeder Lektüre kommen neue dazu, schichtweise, denn Lesen ist ein vandalischer Akt in jeder Hinsicht. Ich kann Ihnen die Seiten zeigen, die den Leuten gefallen und bei denen sie sich unbewußt länger aufhalten; es sind mit einer Fettschicht überzogene Seiten, Fleckchen überall und anderes Zeug, das uns ständig aus dem Gesicht fällt, ohne daß wir es wollen; Spucketröpfchen zerknittern das Papier oder werfen es auf, wenn es sich um Husten, Niesen, Auswurf oder Lachen handelt, vor allem wenn sie zwischen den Zähnen herausspritzen in Form jenes gewiß nicht hygienischen Sprühregens, der Ihnen bekannt ist. Und erst die Nase!

Aus: Ermanno Cavazioni, Mitternachtsabitur, 1991, S.61f.