die vielen

(M34)

bibliothek

die vielen buchstaben

die nicht aus ihren wörtern können

die vielen wörter

die nicht aus ihren sätzen können

die vielen sätze

die nicht aus ihren texten können

die vielen texte

die nicht aus ihren büchern können

die vielen bücher

mit dem vielen staub darauf

die gute putzfrau

mit dem staubwedel

In: Ernst Jandl, Gesammelte Werke 2, Gedichte, Frankfurt/M., 1990

Eine imaginäre Universalbibliothek des Privaten

(M33)

Damit stellt sich die Frage nach dem „Übergang“ von privat-biographischer zu öffentlich-politischer Geschichte. Im Gedankenexperiment der Universalbibliothek ist auch das nur eine Sache der Größenordnung. Zwar würde eine Bibliothek, in der alle Handlungen aller Menschen innerhalb eines Jahres minutissime beschrieben wären, ungleich umfangreichere vielbändige Werke erfordern als jene öffentliche Geschichte der Erde; aber auch sie wäre doch enthalten in der Universalbibliothek aller durch Kombinatorik erzeugbaren Bücher. Jede Historia privata ließe sich aus ihr aussortieren. (…)

Es ist aber nicht ohne Reiz zu sehen, wie Leibniz die Geschichte des Individuums für so viel darstellungswürdiger hält als die politische, daß er ihr ohne metaphysische Begründung und Wertung, bloß für den Zweck der Fiktion, einen so ungleichen Beschreibungsaufwand zubilligt, nach dem ein Jahr privaten Lebens mindestens ebenso inhaltsreich wäre wie die Geschichte der öffentlichen Angelegenheiten in dem gleichen Zeitraum.

aus: Hans Blumenberg, Eine imaginäre Universalbibliothek. In: Akzente. 28. Jg., 1981. Heft1. S.30f.

Dämonen

(M32)

Die kombinatorische Universalbibliothek hätte keinen Leser. Weshalb sollte sie auch? Die überwältigende Masse ihres Bestandes wäre ganz und gar wertlos; was in einer der natürlichen oder künstlichen Sprachen überhaupt lesbar wäre, müßte immer noch nicht Beziehung zur Weltgeschichte haben. Die Exemplare reeler Historie herauszufinden, setzte einen Benutzer der Bibliothek voraus, der alles schon wüßte, was darin zu stehen hätte – einen jener der Neuzeit vertrauten Dämonen vom Typus der Laplaceschen Intelligenz, für den die wahrheitshaltigen Bücher ebenso nutzlos wären wie die sinnlosen. Selbst ein Gott würde diese Metabibliothek nicht genießen können. Er wäre mit dem Aussortieren vollauf beschäftigt – wenn auch, der Voraussetzung nach, keine Ewigkeit lang.

aus: Hans Blumenberg, Eine imaginäre Universalbibliothek. In: Akzente. 28. Jg., 1981. Heft1. S.29

Zitat am Anfang des Artikels:

Die Bibliotheken werden endlich Städte werden sagt Leibniz.

Lichtenberg

Verbrennungen

(M31)

Viele Bibliothekszerstörungen in der fiktionalen Literatur meinen indessen – zumindest auch – gerade die Subversion von Machtstrukturen, und zwar zur Stabilisierung oder Implementierung differenter Strukturen.

Die erste Bedeutende Bibliothekszerstörung in der abendländischen Literatur, die Teilverbrennung der Büchersammlung des Hidalgo Don Quijote in Cervantes’ Roman, gehört zur zweiten Kategorie, ohne daß sie indessen in ihr aufginge. Nicht von der Macht, welche diese Bibliothek verleiht, sondern jener, über die sie selbst verfügt, ist hier in erster Linie die Rede. Vor allem aber ist sie – anders als die Bibliothek im Hôtel de la Mole – als Individualbibliothek ein von der Norm abweichender Sonderfall.

Rieger, Dietmar. – Imaginäre Bibliotheken : Bücherwelten in der Literatur / Dietmar Rieger. – München : Wilhelm Fink Verlag, 2002, S.183

Weder Autor noch Leser / Weltformeln

(M30)

Eine in diesem Sinn imaginär-utopische Bibliothek wäre weniger die prinzipiell durchaus realisierbare „biblioteca aperta“, jene ideale „biblioteca a misura d’uomo“, die derselbe Umberto Eco in seinem Vortrag „De Bibliotheca“ von 1981 entwirft und mit jener Bibliothek konfrontiert, deren Funktion darin besteht, „di non far leggere, di nascondere, di celare il libro“, sondern etwa die Megabibliothek, die Leibniz in einem mit Apokatastasis panton betitelten, erst 1921 publizierten Fragment beschreibt: Diese Universalbibliothek, welche die Gesamtheit der Menschheit als „beste aller möglichen Welten“ speichern, aber im Grunde weder Autor noch Leser kennen würde, entstünde im Durchspielen aller Möglichkeiten der Kombination von Buchstaben eines endlichen Alphabets zu Wörtern. (…) Die Tatsache, daß diese Bibliothek indessen nur den beschreibenden Nachcollzug der Welt in rein akkumulierter Form, also ohne Systematisierung speichern könnte, führt Leibniz über sie hinaus zur Utopie der „Mathesis universalis portabilis“, der Weltformel, die ihrerseits aber wieder die Bibliothek, alle Bibliotheken überflüssig machen würde.

Rieger, Dietmar. – Imaginäre Bibliotheken : Bücherwelten in der Literatur / Dietmar Rieger. – München : Wilhelm Fink Verlag, 2002, S.101f.