Spekulationen zum Verständnis einer Funktion als Figur
(Essay, Beta)
1 Grundsätzliches
Wodurch unterscheiden sich Mensch und Troll?
PEER GYNT.
Die unterscheiden sich wohl nicht sehr.
Großtroll will zwicken und Kleintroll will zwacken; –
Ganz wie bei uns, wenn’s erlaubt nur wär’.
Henrik Ibsen, Peer Gynt
Die überlieferten Erzählungen einer kulturellen Gemeinschaft werden bisweilen von seltsamen Wesen bevölkert. Diese Wesen können Figuren sein, denen besondere Merkmale zugewiesen werden, umgekehrt kann es aber auch eine gewisse Form des Erzählens selbst sein, das sich zu so einem Wesen figuriert.
Die in Skandinavien besonders reiche Tradition von Texten, die sich um Trolle, Berg- und andere Geister ranken, werden auch im Rahmen von Kulturtheorien verhandelt, denen zufolge alle zivilisatorische Aktivität als Zähmung innerer elementarer Energien, die der Mensch als Naturwille oder Explosionskraft erlebt, verstanden werden muss. Diese der Psyche innewohnenden Triebkräfte spaltet der Mensch von seinem Selbstbild ab. (1)
Die Auseinandersetzung von Protagonisten mit solchen Kobolden, Dämonen oder ungeschlachten Kerlen unterschiedlichster Grösse, die sich seit dem 17. Jahrhundert auch in deutschsprachigen Literaturen tummeln, können auf dieser Folie immer auch im Kontext des Gegensatzes von Individualität und verinnerlichten kulturellen Zwangs, bis hin zu Symbolisierungen von schizophrener Persönlichkeit gelesen werden; wie Mythenwesen sich generell für Analysen dieser Sorte anbieten. Dabei sind Trolle auf den zweiten Blick keineswegs nur schlechtgelaunte oder übelwollende Kreaturen. Man hat von ihnen auch als Menschenverbündete gelesen, die in ihrer anthropomorphen Gestalt durchaus auch anthropophile Züge zeitigen, etwa als Verbündete des Menschen im Zeichen des Fortschritts, wie beispielsweise in Einar Benediktssons Dichtung (2).
Die Ruchbarkeit des Fiktionalen hängt auch jüngsten Textsorten an, die oder deren Urheber mit dem Trollbegriff in Verbindung gebracht werden.
Schon seit den frühen 1990ern finden sich in Newsgroups, später dann in anderen Kommunikationsgefässen des Internets wie Plattformen und Weblogs derlei Bezeichnungen und Statuszuweisungen von Beiträgern und Autorschaften als Troll statt und läuten damit eine alternative Begriffskarriere ein, die sich letztlich in Enzyklopädien (3) nicht nur der Netzkultur spiegelt.
Dabei befinden sich die als Einzel- wie auch Hordenwesen auftretenden Phänomene in Netz- wie Mythenraum in breiten verwandtschaftlichen Beziehungen aufgestellt. Werden Trolle als Unholde, Riesen oder Zauberwesen im Verein mit Feen, Elfen oder Hexen fiktiv vergesellschaftet, sind diesen in jenem den Flamern, Kooks (4), Shills oder anderen Sockpuppets (5) in fast familiäre Bande zugeordnet. Die Trollwiesen (6), die das Netz dieser tollen Sippe bereithält, sind dagegen der Mythenforschung im Moment noch weniger bekannt.
Wo immer sich rabulistisch, eristisch hier wie dort ein Raum erhitzt oder sich dazu anbietet, kann man sicher davon ausgehen, auf den einen oder anderen Dampfplauderer zu treffen, der versucht, die Suppe am Kochen zu halten. Das natürlich nur, wenn man ihn lässt, hüben wie drüben, wenn also die einschränkenden Massnahmen der Verhinderung seiner Existenz, der Grad von Dichtung und Imagination und dessen Tradition bzw. den Massnahmen der In- und Exklusivität von Forenbetreibern, Herausgebern, Autorschaften und anderen Türstehern der Form vor Text, erlauben.
Letztere Massnahmen wiederum können selbst Ansporn (7) für Trolle sein, die Hürden einer Zensur ihres Textes und Auftritts zu überspringen und sich doch unerkannt in einen anschwellenden Diskurs einzupflanzen und diesen, je nach dem, kollabieren zu lassen. Die Grenze zur Grauzone der Kollaborateure kollaborativen Textens ist bisweilen schwer auszumachen.
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1 Joachim Schiedermair: Jonas Lie, Trold. Vgl. Artikel / Hinweise in KLL
2 Gert Kreutzer: Einar Benediktsson, Das lyrische Werk. Vgl. Artikel / Hinweise in KLL
3 troll, n.1. Oxford University Press. 2006. . (Q) Retrieved 1 March 2010. OED gives an example from alt.folklore.urban (Usenet newsgroup), 14 Dec 1992
4 vgl. http://www.searchlores.org/way_kook.htm
5 vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Sockpuppet_(Internet)
6 vgl. die Trollwiese bei Heise-Online. Hier ist Füttern erlaubt!
7 vgl. den Aufsatz über das Trollen als Kunstform (englisch): http://www.urban75.com/Mag/troll.html