die ersten Mordgelüste aus Mitleid. (GuU12)

Am Lepétimnos stauen sich dunkle Wolken. Ein Nescafé, viele Zigaretten, kaum Sätze. Früher Spaziergang durch die Stadt, unten, noch in der Sonne. – Scharfe, unwirkliche Kontraste. Doch Molyvos ist anstrengend heimisch geworden: Dieses Heimische kann von den Augen kaum überwunden werden. Das Wiedererkennen ereignet sich an jeder Ecke. – Ich empfinde zum ersten Mal Überdruß beim Anblick zweier Mädchen auf der Ufermauer; überhaupt geht mir Feininger auf die Nerven. Er ist berechenbar geworden. Als fülle er bald einen mir bekannten Raum nur noch aus, als kenne ich bereits seine Formel.

“Aber nein”, antwortet er mir, “Mädchen sind unergründlich – wir wissen nie, was wir von ihnen wollen.”

Der blinde Sohn zerrt eine junge schwarze Ziege am Seil über die Wiese. Mit den Augen des einbeinigen Alten, der ihm Anweisungen gibt, bindet er sie an einem Holzpflock fest. Zufrieden gehen sie Arm in Arm (der Blinde ist bemüht, seinen Vater zu stützen), Schritt für Schritt zurück zum Haus. – Die junge schwarze Ziege versucht sich anfangs loszureissen … – ich lese auf der Terrasse (ein Brief von Anne, später Starobinski), während sie zu jammern beginnt, herzzerreißend schreit nach ihrer Mutter. – Ein bemerkenswerter Plan der beiden, ungeliebte Nachbarn in den Wahnsinn zu treiben: nach einer halben Stunde die ersten Mordgelüste aus Mitleid.

Aus “Gestell und Ungestalt. Fassung erster Hand” von Rainer Hoffmann. Gestell und Ungestalt ist soeben bei etkbooks erschienen.