dort immer nur gewesen. (GuU11)

Sehr früh aufgestanden. Mit Kopfschmerzen im Ziegengebimmel. Eine Tasse Tee am Küchentisch. Plötzlich fährt eine Hand durch Solanges Einschlupfloch und drückt von unten innen die Klinke. Die Tür geht auf. Susana steht vor mir mit einem Teller “griechischer Krapfen”. Sie erschrickt („er ist schon wach!“), entschuldigt sich, erzählt, sie sei erkältet, und schimpft wie üblich, wie immer, über das Wetter.

Zu vertraut bist du, störende, kaum zu ertragende Figur. Ich drohe dir:  Bald vernehme ich nur mehr deine Stimme, registriere nur mehr deine Anwesenheit …

Spaziergang zu den Klippen hinter dem Hafen. Eine Mulde oben auf dem Plateau. Eine bewachsene Bühne mit Blick hinunter aufs Meer. Eine versenkte Ruine, eine junge Blumenwiese.

Erst das Verlangen, mich wie ein Fohlen auf ihr zu wälzen, mich in ihr zu panieren im gelben Blütenstaub. Im gleichen Moment, beinahe, ein stärkeres, zu bleiben. Hier, in der Ruine, zwischen den Trümmern ihres Fundaments, überwuchert von hohen Gräsern; jetzt, inmitten des Frühlings, die verschwindende Zeit.

Es ist mein Blick, der sie dehnt, die Landschaft endet. Hinter einer Reihe Pinien, an einem kleinen Kap – der erstarrten Zunge hinaus ins Meer.

Wie es sagen, jetzt, noch im Gesumme der Bienen? Andere Augen sogen hungrig das Bild in mich ein, ein Fremdes sprang in mir auf, erkannte es wieder und schwieg, und flüsterte doch: Du bist immer nur dort, dort immer nur gewesen.

Aus “Gestell und Ungestalt. Fassung erster Hand” von Rainer Hoffmann. Gestell und Ungestalt ist soeben bei etkbooks erschienen.

die Nacht und ihr Vertrauter. (GuU10)

Kühl, bedeckt, strahlend blaue, unwirkliche Risse. Solange schlüpft durch das enge Holzgitter neben der Tür …

Noch nahe einem unbekannten Traum, morgendlich traurig. Nicht die müden Augen – Augen in der Nacht gewachsen, voller Erinnerung dorthin. Nervöses, frühes Schreiben. Sprechender, mahnender Schlaf („Wieder bist du aufgewacht …“)

Klägliche Ordnung eines Relationengewirrs, Gleichzeitigkeiten von links nach rechts. Gerüche, Klänge, Bilder in Buchstabenketten gereiht. Das dunkle Gehirngeheimnis auf weißem Papier. Das Unsagbare als Attrappe. Was bleibt, sind schwarze Gestelle.

Kaffee und Zigaretten auf der Terrasse. Zwei verzweifelte Versuche, der Nacht zu entkommen: einen Strauß Blumen gepflückt auf der Wiese zwischen den Schafen und Ziegen; und Walter Hölderlin vorgelesen (Hyperion an Bellarmin über die Deutschen).

Die Nacht und die andere Natur; die Nacht und ihr Vertrauter.

Aus “Gestell und Ungestalt. Fassung erster Hand” von Rainer Hoffmann. Gestell und Ungestalt ist soeben bei etkbooks erschienen.

Kühle Brise. (GuU09)

Erstes Frühstück zu zweit (vier Spiegeleier, in Butter). Seit seiner Ankunft eine große Freude am Reden, überschwängliche Übungen am “lebenden Objekt” (der Arme!). Endlich! – Weniger die ungewohnten nahen Blicke, die vertrauten Gesten, seine wirkliche Mimik – nein, die unverhofften Fragen, Antworten, Widerreden … – und erst der fremde Klang der eigenen gesprochenen Gedanken nach all den englischen Konversationen!

Spaziergang am frühen Nachmittag. Die “Villa Garden” nicht gefunden (unser Domizil für die freie Zeit, den Urlaub mit den Frauen), Efthalou verfehlt! Eine Hoffmann‘sche Abkürzung wird zum Umweg („Dort unten müßte es liegen!“). Unglaublich, aber es war verschwunden oder doch noch sehr, sehr weit … Gestromert, durch die Landschaft vagabundiert (zwei plaudernde Schafe auf einer Blumenwiese). Küstenstücke, nun im Frühling, die an Irland erinnern.

Zigarettenpause. Junger roter Mohn am Meer. Hellblauer, tuckernder Fischkutter nahe den Klippen. Kühle Brise.

Aus “Gestell und Ungestalt. Fassung erster Hand” von Rainer Hoffmann. Gestell und Ungestalt erscheint im September 09 bei etkbooks.

Wodka-Martini – bianco! – “Pfui Teufel!” (GuU08)

„Arcolian Nights”. So der Name der Band aus Mytilini. Das halbe Dorf ist dort und bleibt bis in die Morgenstunden. Begrüßungen: der schräge Vogel aus dem Kiosk, die Damen aus den Mini-Markets, die Blumenhändlerin, der junge Wirt. Fühle mich fremd wie ein Ethnologe. Snejanna, die alle Susana nennen, lächelnd und völlig überfordert hinter der Theke (ruppige Bestellungen der für diese Nacht engagierten Kellnerin, wenn sie mit ihren Zetteln von den Tischen kommt). Eine Touristen-Bar voll mit Eingeborenen.

Sie aber sitzt, den Kopf geneigt, in einem kurzärmeligen, weißen Kleid (das kurz über ihren glatten Knien liegt, sich in den Höhlungen darunter faltet) auf einem Barhocker auf der Bühne. Sie sieht auf und streicht sich im Scheinwerferlicht nervös ihr glattes, schwarzes Haar aus dem Gesicht (ein dünner, knochiger Unterarm kommt ins Bild, ein Händchen mit langen, kalten Fingern verdeckt für einen Moment das Profil ihrer griechischen Nase). Sie nimmt das Mikrophon in ihre linke Hand, blickt hinter sich, nickt dem Gitarristen zu und dreht sich wieder zurück (ihre Kollegen stimmen noch die Instrumente). Da sitzt sie, und wartet, einen Augenblick in stiller, gefrorener Schönheit …

Dann beginnt sie zu singen. Beinahe zeitgleich verteilt sich klebrig im Mund der erste Schluck von Snejannas Wodka-Martini – bianco! – “Pfui Teufel!”

Aus “Gestell und Ungestalt. Fassung erster Hand” von Rainer Hoffmann. Gestell und Ungestalt erscheint im September 09 bei etkbooks.

ins gespaltene Schreiben. (GuU07)

Nachmittags einsam, müde, melancholisch, leicht depressiv. Ein Ich läßt sich gehen, sehr angenehm. Bewölkt, diesig, beinahe trüb. Es ist kühl, als käme der Herbst. Holgers Kassette auf der Terrasse gelauscht (ein Zettel im Cover: “Im Flugzeug einlegen und weitere Anweisungen abwarten. Natürlich nie befolgen. Gut zuhören. H.“)

Ich friere, ich falle, ein Tagtraum beginnt:

Anne ruft mich an und wünscht sich, daß ich sofort zurück nach Aachen komme. Sie ziehe in zwei Wochen nach Oregon auf eine Farm und werde heiraten …

“Bist du verrückt?”

Nein, ihr sei es ernst. Sie habe sich schrecklich verliebt und könne nicht anders.

“Dummer Scherz!”

Nein, es sei wahr. Ich solle bitte kommen. Sie wolle mich noch einmal sehen.

“Wer ist der Kerl, der dir das Hirn gefressen hat?”

“Paul.”

“Und was hat der Paul, daß du plötzlich Hühner züchten möchtest?”

“Paul Auster …” Ich lache sie aus.

“Lach nur – aber bitte komm!”

“Wo hast du Paul Auster denn kennengelernt?”

“Nach einer Lesung in Aachen … – ist doch egal! Komm!”

“Einen Scheißdreck werde ich tun, Frau Stabler!” (nun wütend)

“Bitte. Vielleicht sehen wir uns …”

“Hör zu! Ich werde nicht kommen. Pack mein Zeug in Kartons und stell es in den Keller. Ich werde es mir dort abholen. Viel Glück in Oregon mit Paul Auster. Wir werden uns bestimmt wiedersehen …”

“Nein! Bitte komm! Das mit der Wohnung ist nicht das Problem! Er zahlt sie weiter.”

“Mensch! Paul Auster ist aber reich!”

“Hör auf! Ich will dich wirklich noch einmal sehen …”

“Verdammt, dann flieg nach Griechenland!”

(„Bitte!“ – “Nein!” – “Bitte!” – “Nein!“). Als ich den Sprung in der Platte bemerke, sehr spät, Abbruch.

Als gelänge der Traum an einen Horizont, als gerate sein Erzählen ins Stocken. Der Traum weitet sich, das Erzählen wird dünn und dünner, entläßt einen langsam aus seinem Bann. Man hört sich reden, man sieht sich gestikulieren (im Garten auf und ab gehen wie in einem zu kleinen Zimmer). Aus der Figur schlüpft der Schauspieler, der seinen Text vergessen hat. Der unsichtbare, anonyme Souffleur wurde langsam leiser, flüsterte nicht mehr, verstummte.  Man kehrt zurück, findet sich wieder auf einer leeren Bühne, als Zuschauer seiner selbst.

Und dann erinnert man die Tagträume plötzlich wieder als Figur desselben – nur ein kurzes, letztes kostbares Moment vor dem Fall in ein anderes, ins auch äußerliche:  ins gespaltene Schreiben.

Aus “Gestell und Ungestalt. Fassung erster Hand” von Rainer Hoffmann. Gestell und Ungestalt erscheint im September 09 bei etkbooks.