Eine Frage der Teilzeit

Teile ich mir die Zeit ein: teile ich gedanklich meinen Nachbarn in zwei Hälften. Verwuschle ich sein Haar und in seine Uhrenkette mache ich Knoten. Der Uhr verpasse ich einen Kokon aus Resten von Gel. Die Flügel am Hinterkopf laufen ihm stromlinienförmig zusammen. Am unteren Ende befestige ich einen Manschettenknopf. Da sucht er nach seinem Fahrschein.

Teile ich mir die Zeit ein: klingelt mein Telefon volkstümlich. Bin ich ganz Dienstleister in der Dienergesellschaft. Meide ich Menschen ohne Sozialleben. Gemietete Leben. Auf Saubohnenplantagen.

Teile ich mir die Zeit ein: versuche ich mich an Wegen der Darstellung und Herstellung persönlicher Ordnung. Es ist eine Ordnung vergeblicher Zeichen. Aber immerhin wirksam der Schein meiner Dinge durch diese. Berücksichtigungen. Beschwichtigungen. Kontinuitäten.

Teile ich mir die Zeit ein: gewährleiste ich Existenz durch Klassifikation ins Vorhandene. Entdecke ich in Köln-Ehrenfeld nicht ein Kaufland sondern den Potsdam-Simulator.

Teile ich mir die Zeit ein: erbreche ich mein Vomitiv in Geschichten. Das Elend der Welt im jungen Pennerpärchen zum Beispiel. Er, schlafend, komatös in einem fremden Traum. Sie, streicht ihm den Speichel vom Kinn, liebevoll. Oder eine andere: Vom Tramnebenan, der in seinem Handy Anruflisten bedient. (Ein schräger Blick, meinerseits). Ein Blättern von „Schatz1“ zu „Schatz2“.

Teile ich mir die Zeit ein: teile ich mich, ich mich mit, mit mir selbst, und die Welt.

Die Bilder (Varianten, Entwurf)

I. Der Nachbar

Mein Nachbar ist Tourist. Ihn zieht es in fremde Städte, die er nach einem mir unbekannten Schema bereist. Er ist süchtig nach deren Abbildung. Mehr noch: deren Abbildung mit seiner Person. Allerdings habe es keinerlei Sinn, diese lediglich mit ihm abzubilden, oder einzufangen, wie er sagt, da die Städte dadurch ihren Charakter verlören.

Er müsse sich dagegen in so viel wie mögliche Sujets anderer Fotographen drängen, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Um sich und das Bild der Stadt schadlos zu erhalten. Dass er nie das Ergebnis der Aufnahmen und deren Ort zu Gesicht bekäme, störe ihn nicht.

II. Kontingenz

A: Aber warum photographieren Sie all diese fremden Menschen, wenn Sie auf Reisen sind? Sie haben sie doch noch nie gesehen und werden Ihnen doch wahrscheinlich nie wieder begegnen in Ihrem Leben, oder sind Sie etwa daran interessiert, regionale Typen zu archivieren?

B: Sicherlich nicht. Ich sehe in diesen Menschen keine Typen bestimmter Regionen oder Länder und sammle diese auch nicht, wie andere Leute Konzertkarten, Bustickets oder Speisepläne … überhaupt sind auf meinen Bildern keine Menschen oder Bauten, die stellvertretend sein sollen für ein Land, das ich besucht oder bereist habe, die also wiederum meine Reise, meine Weltbeweglichkeit bezeugen sollen.

Ich werde es Ihnen erklären. Schauen Sie, hier zum Beispiel, hier ist eine ältere Frau zu sehen, wohl in ihren Fünfzigern, die genauso ausschaut – so stelle ich es mir zumindest vor – wie die Schwester meiner Partnerin, jetzt in ihren frühen Dreissigern, aussehen könnte, in zwanzig Jahren; erstaunlich, nicht?

Oder hier ein anderes: eine junge Frau, die, so ahne ich, die Züge einer Bekannten trägt – wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber eben zehn, fünfzehn Jahre jünger – ich habe nie ein Jugendbild der Bekannten gesehen.

Zu Hause habe ich Bilder von Menschen, die alle mit den von mir vorgestellten zukünftigen oder vergangenen Gesichtszügen oder anderen Auffälligkeiten oder Ähnlichkeiten von Personen aus meinem Verwandten- oder Freundeskreis ausgestattet sind – fein säuberlich sortiert, in seriellen und parallelen Biographien gesammelt und archiviert, aber nie hatte die Herkunft dabei eine besondere Rolle gespielt.

Ich habe Bilder meines Bruders, zukünftige und ältere, darauf sind Schwarze oder Japaner zu sehen. Es scheint wohl Ausdruck oder Mimik zu sein, die sie zusammenhalten, die universell und zeitlos Biographien schreiben, nicht der betroffenen, darzustellenden Person, aber wohl meiner Ahnung möglicher Zukünfte und Vergangenheiten von Freunden und Anverwandten, die ich dokumentieren möchte … Aber, Sie haben recht, diese Sichten und Sammlungen sagen wohl mehr über mich, als über alle anderen Beteiligten aus.

A: Ein seltsames Hobby haben Sie da.

B: Ich muss Sie korrigieren. Das ist nicht mein Hobby, sondern mein Beruf.

III. Brief

Ich flehe Sie an, helfen Sie mir. Ich habe ein anonymes Paket erhalten, darin, Sie werden es kaum glauben, eine grosse Anzahl von Photographien, auf denen ich abgebildet bin. Ja, seit meiner frühen Kindheit wurde ich dokumentiert. Das letzte kann nur wenige Tage alt sein. Ich befinde mich darauf gerade bei einem Einkauf an der Supermarktkasse. Ich habe keine Ahnung, wer mir dieses Paket geschickt haben könnte, ja, wer überhaupt auf die Idee käme, mich mein Leben lang zu verfolgen. Bitte weisen sie mich nicht zurück. Sie sind der letzte, der mir noch helfen könnte.

Ein Gleiches

Nach einem harten Arbeitstag in den Weihnachtswochen kam zu einem Buchhändler, den wir der Kürze halber B. nennen eine Kundin, die wir der Kürze halber K. nennen mit einem Kind in seinen kleinen Laden in der Vorstadt und es ereignete sich folgende Geschichte.

Sehr erzürnt und etwas umständlich nestelte K. unter mürrischen Beilauten des Kindes ein Bilderbuch aus einem Leinensack und präsentierte B. einen Kassenbon, der den Kauf dieses Buches in eben diesem Laden vor ein paar Tagen quittierte.

Man wollte es umtauschen in ein anderes dieser Reihe, oder eben dasselbe, wenn es dieses denn ohne Schreibfehler gäbe. Zum Beweis ihres argen Vorwurfs öffnete sie eine mit einem Zeitungsausschnitt markierte Seite und wies auf den bildbegleitenden Text, der tatsächlich das Wort Ganse enthielt, obwohl es Gänse heissen müsste, schliesslich beschreibe es ein Rudel Gänse auf der gegenüberliegenden Seite und das, wie K. nun beschwor, in einem Verlag, der sich bekanntermassen auf besonders didaktische Bücher verstieg, und sie als Lehrerin, wie sie nun betonte, doch Recht- und Genauschreibung vermitteln müsse, kreidete diesen Fehler an und erweiterte ihre Forderung, doch gleich das investierte Geld wieder ausgezahlt zu bekommen.

Der Buchhändler B. war nach diesem harten Arbeitstag nicht sehr glücklich über die Einlassungen seiner Kundin und konnte sich aber, trotz zunehmender Ungeduld des Kindes zu einem Scherz durchringen, nahm einen Faserstift und ergänzte flugs die fehlenden Punkte über dem Vokal mit der Bemerkung in etwas onkelhaftem Ton, nun könnte das Buch, fänden sich nicht etwa weitere Fehler darin, unbesorgt zur Lektüre weitergereicht werden.

Dies brachte die Kundin derart in Rage, dass sie B. mit einem längeren Sermon über die Verantwortung von Verlagen und ihren Helfershelfern insbesondere für die Sprache vereinnahmte, und den armen Buchhändler, nachdem er ihr bald eine Gutschrift, bald einen Umtausch samt Korrespondenz mit dem Verlag, endlich die Herausgabe des von ihr gezahlten Geldes sowie einer sehr unterwürfigen Entschuldigung abnötigte, worauf diese den Laden mit dem inzwischen blau angelaufenen Kind und grusslos verliess.

Anmerkung: Das Ereignis mutet uns wie ein Gleichnis an und es schlössen sich fast erzwungenermassen ein paar wichtige Fragen und Diskussionen zu den verschiedenen Fehlleistungen der Kundin K., aber auch des Buchhändlers und anderer Beteiligter an.

Man könnte schnell über die Fallhöhe von Fehlern und ihre Behebbarkeiten ins Verhandeln kommen. Über pragmatische versus grundsätzliche Problembehandlungsansätze auf einem äusserst schwierigen Terrain sinnieren.

Man könnte diese Geschichte als eine Allegorie auf den Umgang mit dem Fehlenden Anderen begreifen, und solchen, die ohne dies nicht leben könnten oder wollten.

Aber wir ziehen es vor, für heute unseren kleinen Laden zu schliessen, denn den Gänsen, die davon gänzlich unbeirrt in diesem Buch weiter schnattern, wie sie es auch mit dem Mangel ihrer Bezeichnung getan hatten, ist es ein Gleiches.

Fette Kapitälchen

Führen zu langen Diskussionen mit Lektorinnen und Lektoren. Darüber beispielsweise, ob man diese gleich zu Beginn eines Romans setzen sollte, vor allem in Verbindung mit einer wörtlichen Rede, die nur ein End-, keinesfalls aber ein Anführungszeichen beinhaltete (beinhält? beinhielt? beinhülte?). Der Roman begönne damit also nicht einmal nur hypothetischerweise mit einem Schlusszeichen, liesse man den ersten Satz ausser Betracht, sondern tatsächlich. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass der erste Buchstabe als fettes Kapitälchen gesetzt wurde und man deshalb auch auf das Anführungszeichen verzichtet habe, weil mit ihm das ganze unschön, und überhaupt: dass man dafür nicht unbedingt den Autoren, sondern viel wahrscheinlicher das Lektorat in die Verantwortung nehmen müsse. Natürlich könne man sich ein Anführungszeichen in einer Kapitälchenreihe auch mühelos im Kopf ergänzen, aber, so im weiteren Verlauf der Diskussion, bliebe da immer noch ein ästhetisches Unbehagen, für die- oder denjenigen, der sein Fehlen entdeckte. Sind die Lektorinnen und Lektoren aber nur ausgedachte, dann lösche man an dieser Stelle das Licht und versuche zu schlafen. Dieses Thema bietet Stoff für lange Winternächte und wir haben doch erst Oktober.

Heliosis – 60 Stunden Sonne (51-60)

dieser text wurde bearbeitet und zu den readern verschoben …

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mit dieser lieferung wurde der letzte teil von heliosis zugänglich gemacht. natürlich ist es wie immer eine vorläufige arbeit / version, an der noch weiter gefeilt werden muss. es gab hierzu ein paar kritische stimmen. mündliche, schriftliche, die ich auf diese letzte lieferung vertröstet habe & anhand der die bauform, das prinzip, letztlich der sinn von heliosis – 60 stunden sonne sichtbar wird. ich hoffe, es wird nun klar. zusätzlich arbeite ich gerade an einem text mit dem arbeitstitel „literatur und hitze“, der einerseits noch einmal das heliosis-prinzip thematisiert und es dann – im moment etwas essayistisch-glossenhaft – weiter entwickelt. vielleicht ist dieser text schon nächste woche einsehbar …