I. Der Nachbar
Mein Nachbar ist Tourist. Ihn zieht es in fremde Städte, die er nach einem mir unbekannten Schema bereist. Er ist süchtig nach deren Abbildung. Mehr noch: deren Abbildung mit seiner Person. Allerdings habe es keinerlei Sinn, diese lediglich mit ihm abzubilden, oder einzufangen, wie er sagt, da die Städte dadurch ihren Charakter verlören.
Er müsse sich dagegen in so viel wie mögliche Sujets anderer Fotographen drängen, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Um sich und das Bild der Stadt schadlos zu erhalten. Dass er nie das Ergebnis der Aufnahmen und deren Ort zu Gesicht bekäme, störe ihn nicht.
II. Kontingenz
A: Aber warum photographieren Sie all diese fremden Menschen, wenn Sie auf Reisen sind? Sie haben sie doch noch nie gesehen und werden Ihnen doch wahrscheinlich nie wieder begegnen in Ihrem Leben, oder sind Sie etwa daran interessiert, regionale Typen zu archivieren?
B: Sicherlich nicht. Ich sehe in diesen Menschen keine Typen bestimmter Regionen oder Länder und sammle diese auch nicht, wie andere Leute Konzertkarten, Bustickets oder Speisepläne … überhaupt sind auf meinen Bildern keine Menschen oder Bauten, die stellvertretend sein sollen für ein Land, das ich besucht oder bereist habe, die also wiederum meine Reise, meine Weltbeweglichkeit bezeugen sollen.
Ich werde es Ihnen erklären. Schauen Sie, hier zum Beispiel, hier ist eine ältere Frau zu sehen, wohl in ihren Fünfzigern, die genauso ausschaut so stelle ich es mir zumindest vor wie die Schwester meiner Partnerin, jetzt in ihren frühen Dreissigern, aussehen könnte, in zwanzig Jahren; erstaunlich, nicht?
Oder hier ein anderes: eine junge Frau, die, so ahne ich, die Züge einer Bekannten trägt wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber eben zehn, fünfzehn Jahre jünger ich habe nie ein Jugendbild der Bekannten gesehen.
Zu Hause habe ich Bilder von Menschen, die alle mit den von mir vorgestellten zukünftigen oder vergangenen Gesichtszügen oder anderen Auffälligkeiten oder Ähnlichkeiten von Personen aus meinem Verwandten- oder Freundeskreis ausgestattet sind fein säuberlich sortiert, in seriellen und parallelen Biographien gesammelt und archiviert, aber nie hatte die Herkunft dabei eine besondere Rolle gespielt.
Ich habe Bilder meines Bruders, zukünftige und ältere, darauf sind Schwarze oder Japaner zu sehen. Es scheint wohl Ausdruck oder Mimik zu sein, die sie zusammenhalten, die universell und zeitlos Biographien schreiben, nicht der betroffenen, darzustellenden Person, aber wohl meiner Ahnung möglicher Zukünfte und Vergangenheiten von Freunden und Anverwandten, die ich dokumentieren möchte … Aber, Sie haben recht, diese Sichten und Sammlungen sagen wohl mehr über mich, als über alle anderen Beteiligten aus.
A: Ein seltsames Hobby haben Sie da.
B: Ich muss Sie korrigieren. Das ist nicht mein Hobby, sondern mein Beruf.
III. Brief
Ich flehe Sie an, helfen Sie mir. Ich habe ein anonymes Paket erhalten, darin, Sie werden es kaum glauben, eine grosse Anzahl von Photographien, auf denen ich abgebildet bin. Ja, seit meiner frühen Kindheit wurde ich dokumentiert. Das letzte kann nur wenige Tage alt sein. Ich befinde mich darauf gerade bei einem Einkauf an der Supermarktkasse. Ich habe keine Ahnung, wer mir dieses Paket geschickt haben könnte, ja, wer überhaupt auf die Idee käme, mich mein Leben lang zu verfolgen. Bitte weisen sie mich nicht zurück. Sie sind der letzte, der mir noch helfen könnte.