Paare am Morgen VIII

Er beobachtet sie im Spiegel, während sie die Zähne putzt, und überlegt. Er sieht immer mehr Menschen, die Selbstgespräche führen. Es sieht für ihn so aus, als würden immer mehr Menschen zu sich selbst sprechen. Er weiss nicht, ob sie etwas sagen, ob sie flüstern oder nur die Lippen bewegen. Ob ihre Rede Sinn macht oder ob es nur Laute ohne Ordnung sind. Sie richten ihre Rede an niemanden – ihre Worte fahren ins Leere.

Er weiss nicht, ob er das als Bedrohung oder gegeben nehmen soll. Er hat über diese Beobachtung noch mit niemandem gesprochen. Er würde wohl für verrückt gehalten werden, aber er denkt darüber nach, immer öfter, über diese Auffälligkeit und würde es bald äussern. Laut.

Paare am Morgen VII

Was sein kann, ist. Doch es sind nicht die Wörter, die wurden verbogen – entstellt und wieder gerichtet. Und nur noch schätzbar: die Orte und Zeitpunkte, an denen sie vor ihrer Entstellung geäussert wurden und die aus Sicht der Beteiligten auf eine Schieflage, auf eine unterschiedliche Haltung, auf eine Missstimmung hinwiesen, mit der zu leben war. Es war die potenzielle Möglichkeit praktischer Wahrheit, die in jedem theoretischen Handeln erzählerischer Substratbildung steckte. Doch nur, wenn Wahrheit als solche akzeptiert würde.

Es sind die kleinen Persönlichkeiten, die gemeint waren. Die damit verbunden und dahinein gewickelt und gelesen wurden, und von denen gedacht wurde und die so eingeschätzt wurden, jeder müsse sie erkennen und jeder würde sich auf der Spur eines Geheimnisses ahnen. Einen Wissensvorsprung erhalten – dem Schreibenden gegenüber, den Beteiligten gegenüber. Jenen gegenüber, denn wer dies lesen würde, würde unerkannt bleiben, und dessen Lesen und Verstehen nicht steuerbar. Und eine Rechtfertigung damit unmöglich, und ein Beschluss unausweichlich, und eine Bestrafung unerlässlich.

orte des leids

(ein plot / fragment)

1-11

anstelle eines prologs: den schlaf, den er braucht – ein einatmen, ein luftanhalten

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das telefon klingelt. umständlich tastet er nach seiner brille im dunkeln, findet sie schliesslich zwischen radiowecker und nachttischlampe, setzt sie sich auf. 1h20 in der früh. er nimmt den hörer ab. ja, er könne sehr gut verstehen. nein, er sitze nicht, er liege, müsse sich nicht entspannen und etwa tief durchatmen. ja, er habe über einen freund mitbekommen, dass peschel das handtuch geworfen habe, und er habe auch in den letzten tagen sehr oft äusserungen von ihm gehört, die dieses ankündigten. ja, er könne sich an ihre abmachung erinnern und er habe sich auch angemessen fit gehalten, den umständen entsprechend eben. aha, die friseuse sei schon unterwegs und der arzt. nun, er könne es sich immer noch vorstellen den schlappen, depressiven peschel zu ersetzen. nein, kein mensch würde etwas bemerken, die ähnlichkeit sei ja doch zu frappierend. ja, er würde das schon irgendwie durchhalten, und wenn es bloss um das durchhalten ginge … und er würde sich pünktlich zur teambesprechung einfinden und peschels startnummer morgen übernehmen. ja, er mache das. er hängt den hörer wieder auf, setzt sich auf seine bettkante und beginnt seine waden zu massieren. er könnte peschel sein, peschel werden. und dies ist kein traum.

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er würde verlieren, das scheint ihm sicher, möglicherweise letzter werden, dieser mannschaft schaden und einen umso grösseren bekanntheitsgrad erreichen. er wusste nichts, gar nichts, als sie ihn vor ein paar monaten fragten. warum gingen sie dieses risiko ein und heuerten ihn als pseudopeschel? warum er? warum sollte er täglich in abgelegenen wäldern oberbayerns auf diesem rad mit dem härtesten sattel, auf dem er jemals gesessen hatte, trainieren? was gab, was gibt es da für interessen? steckt der geheimdienst dahinter? gar der sid? wer ist peschel und warum soll er ersetzt werden? die nachtundnebelaktion. seine verladung nach lannemezan, einen ort den er kaum aussprechen kann. er soll auch nicht sprechen, eine unterhaltung so gut wie möglich vermeiden. interviews verboten! ist es überhaupt ein ort, oder vielleicht nur ein ausgangspunkt? er hat ihn nie in einem atlas nachgeschlagen. wie kann man nur so blöd sein und sich auf eine reine äusserlichkeit verlassen. eine ähnlichkeit mit einem drittklassigen fahrradfahrer, der bald nicht mehr radfahren kann, wird oder will. zu spät nun für diese fragen. bald wird er ein paar vitamine bekommen und sich aufwärmen müssen. bald würde er in diesem radfahrerpulk stehen, in die pedale treten und so tun, als hätte er nichts anderes in seinem leben getan.

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die beiden beine. die waden und oberschenkel – sie sind nicht zu granit geworden, zu festem fleisch. jene zähe, schwabbelige masse: zwei fette klöse mit grossen blauen adern, hässliche fortbewegungsmitteln, die auf dem boden bleiben sollten, die sich durch sein damals eher beiläufiges training in zufälligem gelände hätten transformieren sollen und es nicht taten. ein griff an die jetzt radelnden waden, drei finger der rechten hand vollführen kreisrunde bewegungen während der fahrt, um den schmerz zu lindern, fühlen jetzt auch die traurigen sehnen; und dann die erinnerung an das bild, den zeitungsausschnitt mit dem jungen, nun ja, nicht mehr ganz so jungen, etwas blöde grinsenden sportler im profil, mit der seltsamen, viel zu klein geratenen schildmütze – jeder nur halbwegs interessierte würde sofort merken, dass es sich bei ihm nicht um den peschel, dass es sich bei ihm viel mehr um einen pseudopeschel handelte. er muss nun, wenige kilometer vor nîmes, wo sich die massen an den strassenrändern verdichten, darauf achten, dass niemand so genau und schon gar nicht die kameras, seine beine taxierten. er muss sich anstrengen, um vielleicht doch noch das letzte feld, das abgeschlagene zu erreichen, um darin zu verschwinden.

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das eigentümliche, die WORTeigentümlichkeit einer bergwertung ist, denkt er am steilen hang des col des limouches, dass nicht eigentlich der berg bewertet wird, sondern die leistung, die an dem berg erbracht wird; die geschwindigkeit, der verbrauch der energie, das an-der-spitze-sein bzw. der erste und schnellste zu sein: das bemessen und gewürdigt werden; der berg, in dieser konstruktion scheint also bloss hindernis, verhinderung normaler leistung, objekt zur objektivierung von leistung durch verhinderung von normalleistung oder modifikation der parameter der leistungslieferung unter normalen umständen. was soll das bezwecken? eine sprachkrise am berg ist die bergkrise schlechthin. er muss keuchen. hat er doch prinzipiell nichts gegen eine erhebung von leistungsdaten, der verschärfung einer versuchsanordnung und dann einen nochmaligen blick auf die ergebnisse, die leistung der fahrer, in diesem falle der radler, wie er sie gerne nennt; ob ergebnisse signifikanter oder neue chancen für andere teilnehmer entstehen würden. allein der begriff und dass er nun so lange über ihn nachdenken musste, bringt ihn in rage und er verliert darüber seinen rhythmus, seinen atem – das kostet ihn erst zwei plätze, dann sieben, dann zwanzig …

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(pseudo peschels lyrisches credo:)

jeder tritt stösst den gedanken

jeder meter die sekunde

zur pflicht

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die kameras sehen nicht. sie sehen auch und gerade nicht die vielen dinge, die er sieht, sehen muss, wenn er durch die landschaft, die kleinen orte, die strassen von städten fährt, mal in einer gruppe zu vielen, mal mit einem kleinen abstand auf irgendwelche anderen radfahrer, die transparente, die gesten und haltungen der zuschauer, die reaktionen der fahrer, seine reaktionen, die er selbst nicht sehen kann, die er nicht abschätzen kann. das ist gut so, so kann er unentdeckt bleiben. unerkannt bleiben, und weiterhin in die pedale treten, aber nicht als der, für den er sich ausgibt, ausgeben muss. und sie hören nicht. sie können nicht hören, wie er hören muss, und eine atmosphäre erahnen, abbilden, das wollen sie auch nicht. sie wollen nicht hören und zeigen, was er gehört hatte, die verleumdungen und beleidigungen, für die sie indirekt verantwortlich waren, für die sie keine verantwortung übernehmen wollten. er hört sie, und sie treffen ihn nicht, gottseidank nicht, sie treffen einen anderen und zerstören konzentration. dezentrieren diesen. aber nicht ihn, auch wenn er mitleid hat mit diesem opfer, er muss sich um sein eigenes durchkommen kümmern, um ein mediales durchkommen von einem, den er darstellt. er ist nicht peschel. aber das wissen nur wenige.

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ist die wasserflasche halb voll oder halb leer? vor zehn kilometern gab er sie einem mitfahrer, an dessen hinterrad er sich geklebt hatte, half ihm über einen engpass hinweg, wollte kein egoist, kein kameradenschwein sein. er wusste, bis zur nächsten verpflegungsstation würde es noch weit sein und seine geste ein wirklicher freundschaftsdienst. die plastikflasche hatte er wieder zurückbekommen, mit einer entschuldigung: der verschluss, an dem während der fahrt erst immer gezogen und gezerrt, der mit den zähnen geöffnet werden musste, war mitsamt dem flaschenhals abgebrochen. die flasche – nun offen, ungeschützt, nun wasser verlierend, bei jedem tritt, sodass sich sein fahrstil auf die offene flasche einstellte und er nun versucht, sich nur geringstmögliche schwankungen beim bergantritt zu leisten oder sonstwie den wasserverlust möglichst gering zu halten. er versucht sich vorzustellen wie es wohl sei, jetzt in diesem moment auszubrechen. er versucht sich die frage zu beantworten, ob denn die wasserflasche noch halb voll oder schon halb leer sei, auch wenn er gar kein wasser mehr verbrauchen müsste.

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sie öffnet das expresspacket. 1 gepunktete schildmütze (supermarché champion), 1 journal de mickey, 1 packung instantkaffee, 1 regenponcho mit tourlogo, 1 kleine umhängetasche (gifi), 1 lila einkaufstasche (la redoute), 1 kugelschreiber, 1 einkaufswagenpseudomünze (pro cycling team), 1 undefinierbares spielzeug (knautschavocado “findus“). ein zettel: liebe grüsse vom col de la faucille. sie kann den absender erahnen.

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er wittert die ziellinie. gleich hat er es geschafft, denkt er. dann müsse er sich nur noch unbemerkt davonmachen. man wird sicher für sein klammheimliches untertauchen gesorgt, einen wagen bereit gestellt haben, in dem er verschwinden würde. kein mensch würde sich für einen hinteren platz interessieren. er weiss immer noch nicht, was er da getan, für wen er das gemacht hatte. aber es ist gutes geld, und seine kleinen verbindlichkeiten – neutralisiert! seine beine, bleimaschinen, orte des leids. aber er hatte geleistet, was er leisten konnte. er war mitgefahren, als pseudonym, als einer in einer fremden haut. und es ist unbemerkt geblieben. bis jetzt zumindest, der rest würde sich ergeben. die kameras, sie suchten ihn nicht. krisen – sie wurden nicht augenfällig. “jeder meter die sekunde zur pflicht” hatte er sich notiert. er ist durstig, sehr durstig. bald wird er mehr als genug trinken können. ob sie seinen gruss bekommen hatte? ob sie sich an ihn erinnerte? er würde sich bei ihr melden. bald schon.