Der Workshop

von einer kleinen Form von Andrea Heinisch-Glück inspiriert, fällt mir ein alter Schubladentext, man kann fast sagen eine “Jugendsünde” aus dem vergangenen Jahrtausend (wie man derlei hier manche finden kann) ein. Ich zerre sie hiermit ans Licht, vielleicht kann man ja irgendwann mal etwas daraus machen …

Der Workshop

Er muss wieder zittern. Aber bald hat er es ja hinter sich. Hoffentlich fällt es niemandem auf. Peinlich, wie ihm beim letzten Workshop mit dieser Gruppe vor vier Wochen das Tablett mit der Kaffeetasse über die üppig gedeckte Cateringtafel gefallen ist. Alle starrten ihn an und er ärgerte sich, dass er errötete. Wie gerne hätte er diese Unachtsamkeit ungeschehen gemacht. Er hasst nun seinen Job ausgiebig, seit er festgestellt hat, dass er die Symptome seines alltäglichen Durstes nicht mehr hundertprozentig vor anderen verbergen kann.

Als Unternehmensberater hat er es weit gebracht, fühlt sich aber zur Zeit etwas in seiner Wichtigkeit unterschätzt. Doch er findet, dass er für sein Alter immer noch klasse aussieht, wenngleich er immer öfter mit einem hautfarbenen Abdeckstift seine rotgeäderte, etwas grobporige Nase kaschieren muss.

Seine Goldrandbrille verleiht ihm etwas Distinguiertes, sein ins Weiße gehende Haar suggeriert Seriosität. Er ist gleichmäßig gebräunt und der dunkelblaue Strellsonanzug schon etwas abgetragen, aber für diesen Anlass soll es reichen. Seine gleichaltrigen Kollegen sind sicherlich auf seine großen, ebenmäßigen, blitzenden Perlweißzähne eifersüchtig, und nur manchmal verrät ein leises Schmatzen, dass die Hälfte dieser Pracht Potemkinsche Dörfer sind. Leider muss sein Atem von Zeit zu Zeit mit einem Pfefferminzkonfekt nachgebessert werden.

Diese Workshopreihe zur Neustrukturierung der Dokumentationsabteilung eines Verlagskonzerns geht ihm – das wird ihm nun endgültig klar – langsam auf die Nerven. Es ist eine reine Alibiveranstaltung, denn die Pläne zu einer neuen, wirtschaftlicheren Organisationsform liegen schon seit längerer Zeit in den Schubladen der Hierarchie. Doch man muss etwas Basisdemokratie heucheln.

Er versteht diese Leute nicht, was sperren die sich gegen eine andere Organisationsform.

Er als Key-Accounter einer angesehenen Unternehmensberatung meint es doch bloß gut mit ihnen, denn einige Stellen werden so oder so abgebaut werden müssen, ja, man müsse ihm eigentlich dankbar sein, denn durch seine Arbeit können sogar vielleicht einige gerettet werden. Und die Hierarchie hat ihre Schuldigen. Nämlich ihn und seine Vorgesetzten. Aber da er ja dann bald wieder weg sein wird, ist es ihm noch erträglich. Eigentlich machte ihm sein Job Spaß.

Doch warum lachen die alle gerade so komisch? Lachen sie etwa über ihn? Woher soll er denn wissen, dass es bei Büchern feste Ladenpreise gibt? Was gehen ihn denn bei dieser Aufgabe Bücher an? Und dass das Buchgeschäft nicht so funktioniere? Natürlich läuft es so. Äpfel, Zahncremes, Versicherungen, Bücher. In den Ratgebern, die er geschrieben hat, sind das lediglich Produkte und sein Metier ist die Profit-Maximierung. Schluss. Punkt. Aus.

Da können die sich auf den Kopf stellen. Natürlich müssen Input von Output, und Output komplett von der Logistik entkoppelt werden. Was soll das heißen? Informationsverlust? Dann sollen sie sich doch ein weiteres Telefon anschaffen! So einfach ist das.

In Gedanken ist er nun in seinem kleinen Heimsolarium im Hobbyraum seines, das heißt Verenas Hauses.

Jetzt zwickt es wieder. Ob er jetzt schon aufs WC und dort schnell sein Beruhigungssäftchen … ?

Warum gibt ihm der Neue nur noch diese Art von Jobs? Moderationen. Mein Gott, was waren das noch für Zeiten, als er selber noch Teams koordinierte.

Jetzt muss er sich mit diesen starrköpfigen Langweilern herumschlagen. Was die auch für eine Sprache reden. Aber er muss das unbedingt einmal nachschlagen, dieses Dingsda, diese Repressive Entsublimierung oder so ähnlich. Die scheinen das ja alle verstanden zu haben, was einer ihrer Gewerkschaftsheinis, diese linke Zecke, da gefaselt hat.

Ach wäre jetzt doch Natascha bei ihm. Er hat ja nie gedacht, dass er bei diesen jungen Dingern noch einmal landen könne. Sicher, sie meint wohl über ihn endlich einen Beratervertrag zu bekommen. Vielleicht aber nur solange, bis sie merkt, dass sein Einfluss geschwunden ist.

Er muss jetzt ein bisschen aufpassen. Sie schaut ihn nun seit einiger Zeit vor allen anderen immer so aufdringlich an. Ja, er muss jetzt ein bisschen aufpassen. Aber sie würde es niemals Verena erzählen. Das kann sie nicht machen, er weiß ja auch einige Dinge über sie. Eines jedoch scheint ihm sicher: Verena würde ihn sofort verlassen. Das hat sie gesagt. Wenn so etwas noch einmal vorkommen würde, ja, Verena würde dieses mal Ernst machen. Aber diese Praktikantinnenstellen sind ein wahre Fundgrube. Was würde er nur tun, wenn es so eine Natascha oder diese Wiehießsiedochgleich nicht gäbe? Hieß die andere Hübsche nicht Maria Verdana?

Ob er was gelesen habe? Es gibt ein zweites Kick-off-Protokoll? Natürlich hat er das nicht gelesen. Er bejaht aber selbstsicher und kann geschickt auf seinen Assistenten verweisen. Da der Workshop nur noch wenige Minuten dauern wird, entschuldigt er sich mit einem wichtigen Termin, verabschiedet sich mit einem bedeutungsschwangeren Kopfnicken und geht lächelnd auf die Herrentoilette.

erzählen (analog / dialog)

i.

der gehilfe ist dazu da, zahlen zu notieren. zur ausübung seiner tätigkeit benötigt er platz und versperrt dabei den weg zum tisch auf dem eine wasserflasche steht. daraufhin wird er zusätzlich mit der aufgabe betraut, wasser auszuschenken. natürlich macht er sich mit dieser leistung weiter unentbehrlich. nun schon zweimal. bald dreimal. bald viermal. bald hat der gehilfe helfer und ist für deren leitung zuständig. und das berichtwesen.

ii.

viele behaupteten es vorher. aber erst als r. die übereinstimmung bemerkte, besser gesagt, die symmetrie zwischen der spannweite des mächtigen kriegsadlers auf seinem steinernen sockel, aus der perspektive der liegenden im park, und dahinter, dem ins dunkel ragenden kran, deren paralleles sichanschmiegen an den nachthimmel, wurde bedeutungsweise klar, dass kunst sich nicht nur nach dem leben richtete, sondern das leben immer auch nach der kunst, dass also eine politische aussage vor allem eine ästhetische war.

iii.

sie: was das denn heissen solle: das sei eine historische und keine phantastische sicht? was ich denn da erzähle? und was das mit den karten zu tun hätte? ich: aber! vor dir auf dem tisch stehen drei berge mit münzen. die bank, das ist der zettel mit den spalten und langen zahlen, spricht von schulden in grosser höhe. das phantastische: die überschätzung des materiellen, des real vorhandenen, des sicht- und greifbaren in form der münzen, steht für dich gegen das abstrakte, den geschriebenen zahlen, der letztendlichen bilanz. das phantastische ist also das nicht-buchbare. das historische dagegen berücksichtigt die bilanz mit all seinen unsichtbaren posten. der eigentliche, der historische realismus aber vernachlässigt, dass nur mit münzen gespielt werden kann. sie: das historische wäre dann eine erweiterte spielart des phantastischen. ich: das historische ist das eigentlich phantastische. du gibst.

iv.

über den zuverlässigen erzähler. die frage nach der zuverlässigkeit des erzählers führt direkt zu der frage nach der zuverlässigkeit der sprache. damit: dem geborgensein in den wörtern.

es gibt kein realistisches oder unrealistisches erzählen, sondern nur potentiale, die von lesern ausgeschöpft werden oder nicht. und potentiale der sprache, die von einer glücklichen oder unglücklichen hand erzeugt und arrangiert wurden oder nicht. und es gibt den geschmack. so viele geschmäcker, wie es realitäten gibt. und zufälle der übereinstimmung. aber der schlechte geschmack?

talschlüsse 5

niemand stirbt oder kommt zu schaden. oder? die protagonistin und erzählerin katharina in olga flors talschluss (ich möchte dieses buch an dieser stelle ausdrücklich empfehlen) erwacht am anderen morgen neben einer kuh. oder ist es der junge artur, den sie nächtens vernascht hat? auf jeden fall ist atem da. derweil trifft in wilen das debriefing-team ein. onkel micha und sechs blaue zweigelt finden sich auch um mitternacht rasch zurecht.

das ufer des sarnersees, gefasst, in sperriges holz gerahmt. ölgeruch und faules. es lässt sich dennoch verweilen. am anderen morgen scheint sonne durch die wolken. auf der terrasse gibt es buttergipfel. aufgewärmt, gekocht wird nicht nur wasser, sondern auch die geschichten, die passierten, und über ereignisse gesprochen, die nie geschahen.

der kiosk öffnet wieder, der bäcker und auch die metzgerei. (der aussenstand wurde eingepackt, ein umsatz wurde kaum mehr gemacht). schadensbegutachter scherzen. zwei wege führen nun durch die stadt und morgen vielleicht schon drei. was war, wird in manchen köpfen als vier-, fünf- oder sechsstellige ziffer erinnert werden. oder als etwas, das man so noch nie gesehen hatte. (man hört das immer wieder).

ps. die hubschrauber. ich habe vergessen, die hubschrauber zu erwähnen. die hubschrauber fliegen immer noch.