Happel, Wilfried: Oben ohne

Oben ohne

Seit den 60er-Jahren war ich zügellos.

Ich wollte offen über alles reden und nahm kein Blatt vor den Mund, vor allem in Gesprächen mit meinen Eltern nicht, in M., einer Kleinstadt in der Provinz.

In M. trugen die Leute Hüte, die ihnen wegen ihres immensen Gewichts zwar jeden klaren Gedanken unmöglich machten, deren Spitzen aber bis in den Himmel reichten, weswegen man sie salopp Wolkenkratzer nannte.

Ich selbst lehnte es vehement ab, einen Wolkenkratzer zu tragen. Lieber ging ich oben ohne und nannte es freie Körperkultur.

Die freie Körperkultur ermöglichte es mir, meinen Großonkel Georg derart in moralische Entrüstung zu versetzen, dass er, nachdem er wiederholt der Nacktheit meines Kopfes ansichtig geworden war, einen Herzinfarkt erlitt.

Noch auf der Intensivstation brachte er meinen Vater in Gewissensnot. Der Wolkenkratzer sei obligatorisch, gerade für die jüngere Generation, wo komme man denn sonst hin? Er werde unserer Familie keine Besuche mehr abstatten, wenn ich, der Sprössling, nicht wie alle anderen, und zwar auf der Stelle, einen aufgesetzt bekäme.

Großonkel Georg machte seine Drohung wahr und besuchte uns dann nicht mehr.

Auch mein Besuch an seinem Grab steht noch aus.



(c) / aus: Wilfried Happel, Abstecher ins bürgerliche Jenseits, edition pudelundpinscher 2009.

Wilfried Happel, 1965 in Nürnberg geboren, lebt als Autor und Theaterregisseur in Berlin. Theaterstücke im Verlag der Autoren: Das Schamhaar (1994); Mordslust (1995); Kleiner Zwischenfall in den französischen Alpen, Hörspiel (1996); Fressorgie oder der Gott als Suppenfleisch (1997); Der Nudelfresser (2000); Die Wortlose (2001); Mein Onkel Bob (2003); Fischfutter (2004); Stück mit zehn Titeln (2006). Prosa in der edition pudelundpinscher: Abstecher ins bürgerliche Jenseits (2009). Gedichte in Anthologien und Literaturzeitschriften

DOI: 10.17436/etk.c.009

Grosz, Andreas: Meine Geliebte

Meine Geliebte

Ich liebte sie, doch nackt hatte ich sie noch nie gesehen. Und wie viel mehr würde ich sie lieben, sähe ich sie erst nackt, sagte ich mir.

Der Saal war voll. Viele Bilder hingen an den Wänden, barockes Zeug mit nackten Gott- und Halbgottheiten, eine Gemäldeausstellung, hätte man meinen können. Und meine Geliebte saß irgendwo in der Menge, an einem der Pulte. Ich selbst nahm nicht Platz, sondern blieb bei der Tür stehen.

Ein Schüler stand auf und ging zum Katheder. Ein zweiter, dritter, ein vierter folgten, und es wurden immer mehr, alles junge Kerle, die nach der Küche ihrer Mutter rochen. Dann gingen auch Schülerinnen nach vorn, die Reihen lichteten sich hinten, und um den Katheder herum drängten sie sich alle und entkleideten sich gegenseitig.

Ich suchte meine Geliebte unter ihnen, reckte den Kopf, stand auf die Zehenspitzen, aber sie ließ sich nicht blicken. Von hinten legte mir jemand die Hände auf die Augen und sagte: »Nicht erschrecken, ich bins.« Es war ihre Stimme.

»Wie bist du an mir vorbeigekommen, ich stehe doch die ganze Zeit schon hier neben der Tür?«, fragte ich.

»Nackt bin ich unsichtbar. Das wusstest du nicht?«



(c) / aus: Andreas Grosz, Fahnenflucht mit der Lokalbahn, edition pudelundpinscher 2007.

Andreas Grosz, 1958 geboren, lebt in Unterschächen UR. 1982 Übersetzerdiplom. 1994 ZUG (mit Guido Baselgia). 1996 Die Ameisenstraße im Schrank (Gedichte, mit Zeichnungen von Daniela Raimann). 2007 Fahnenflucht mit der Lokalbahn (Prosa)