Schröder, Dirk: Was sind statistische Gedichte?

Statistische Texte mache ich nur noch selten. Ich bin, weil mich auch die Frage nach dem Eigentum am Text bewegt, das ich nicht will, weitergegangen zu Wörterlisten. Ich wurde aber nach einer kurzen Erklärung gefragt, was es denn damit auf sich habe. Hier kommt sie. Die lange hat in den letzten Jahrzehnten genau vier Leute interessiert, darunter kein Deutscher. Das Wort „machen“ ist dabei übrigens mehr als angebracht, wie man gleich sehen kann. Vorab noch ein Satz zur „Zukunftsfähigkeit“ des statistischen Gedichts, einer weiteren Frage. (Für „echte Gedichte“ wäre sie eine Beleidigung.) Ich sehe sie nicht. Man kann sie nur genießen, solange die Sprache, aus der sie entstanden sind, sich nicht verändert. Sprache verändert sich aber ständig. Mit den Sprach- und Hörgewohnheiten von heute zu spielen heißt, morgen nicht mehr verstanden zu werden, zumindest nicht mehr genossen. Nun gut.

Auf ein Wort folgt ein anderes. Welches? Irgendeins – doch oft ein bestimmtes, sein „häufiger Nachfolger“. Das lässt sich auszählen aus Zeitungsartikeln, aufgezeichneter Rede oder aus Gedichten. Auf dieses zweite Wort folgt wieder eins. Dafür gilt das Gleiche. Und was für Wörter gilt, gilt auch für Redensarten, sie bevorzugen bestimmte Umgebungen. Löst man sich vom konkreten Ausdruck, kann man Metaphern, Bilder untersuchen. Zwar steht der Fels in der Brandung, aber wo brandet die an? So viele Küsten sind es nicht. Auch der Rhythmus eines Gedichts wird in Wörtern ausgeführt, haben wir ein Tamtam herausgehört, ahnen wir oft, wie es weitergeht. Was es mit häufigen Reimwörtern auf sich hat, zumindest im Kitsch, dürfte geläufig sein. „Es hat die Mutter ein Herz wie …“ Na? Und wie im Großen, so im Kleinen. Silben, Morpheme, Vokale und Konsonanten und ihre Nachbarschaften lassen sich listen und klassifizieren. Hübsche Bilder kann man malen nach der Vokalverteilung in einer Ballade – aber auch Hunderte auswerten und nach Gemeinsamkeiten suchen. Aus solchem Wissen lernen wir etwas über Erwartungen, was wir hören, legt nahe, was häufig tatsächlich nah ist. Diese Erwartungen binden die gedichtige Rede über Reim, Rhythmus und Wortwahl hinaus, z.B. durch Assoziationen, ablesbar an den Häufigkeitsgruppen. Das alles treibt jeder, auch unbewusst, aus dem Bauch heraus. Kommt Absicht dazu, wird es schwieriger. Schwitters z.B. hat seiner Anna Blume alles mitgegeben, was er über das Liebesgedicht an sich wusste. Eine großartige Leistung, heute aber leichter zu erreichen, nämlich durch Sieben und Berechnung. In diesem Sinne funktioniert das statistische Gedicht. Man kann es mit der Collage vergleichen, wenn dem Ausschneiden, was Schwitters empfahl, mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird, also gerade kein Zufall waltet. Je gründlicher man arbeitet, desto kitschiger wird das Resultat. Am Beispiel des Liebesgedichts heißt das: der typische Inhalt mit den typischen Mitteln in der typischen Form (- nicht gerade einfach übrigens, ein Programm zu schreiben, das Sonette schreibt; Sonette sind dagegen ein Kinderspiel). Zum Glück gibt es viele Arten von Liebesgedichten, man kann eine Menge Statistiken erstellen. Zu einem Ergebnis kommt man bei der Collage, indem man das Ausgeschnittene wieder zusammenklebt. Das kann eine Software übernehmen, ein Generator, der wesentlich durch den Input, das in Tabellen sortierte Schnittgut, gesteuert wird. Ein solcher Generator soll nicht unendlich viele Gedichte erzeugen, sondern genau eins. Summarizer, Analyse, Listen und Generator zusammen schaffen das statistische Gedicht. Wie man wohl gleich vermutet, ist es nun sehr langweilig. (Hier ein primitives [1] und hier ein langes, langweiliges Beispiel, hier seine Dekonstruktion.) Aber es ist schon verfallen. So, wie wir mit dem Klang der Wörter spielen, können wir es mit den Erwartungen halten. Allzu glatt taugt nicht.

„Ein paar Jahre auf sich warten / dazu noch sich sehen lassen“ ist ein so erzeugter Satz, den kann man ändern, ‘brechen’ nenne ich das. In diesem Beispiel eignet sich dafür das Wort „sehen“, weil es mit „lassen“ (nur textstatistisch) ziemlich fest verbunden scheint. „Wachsen“ wäre eine Alternative. „Ein paar Jahre auf sich warten / dazu noch sich wachsen lassen“ – wohin? „In den Himmel“ (sehr häufig), „über den Kopf“ (auch nicht selten) oder, nächster Bruch, „über den Himmel“? Oder beides? Oder mit „in“, dann aber nicht „den“, sondern das häufige „dich“, weil es mit „sich“ zusammenklingt. „In dich“ und(!) „in sich“ frisst man statistisch „hinein“. Das käme dann so: „Ein paar Jahre auf sich warten / dazu noch sich wachsen lassen / über den Himmel, in dich hinein.“ Das hat doch schon was und ist kein Kitsch, kein reines Destillat mehr. Alles klar? Wahrscheinlich nicht. Ich habe, nachdem mich vor bald dreißig Jahren Jule Schneider darauf gebracht hat, sehr lange gebraucht, mich hineinzufinden. Sie fragte mich damals, warum ich den Computer nur zur Texterzeugung, nicht zur Textanalyse verwende und fügte an: „Warum nicht beides verbinden?“ So fing es an. Als wenig hilfreich erwiesen sich Benses Vorschläge zur Textstatistik, die mich allerdings in anderer Hinsicht bereichert haben. Mehr gab es nicht. Wenn auch die Verse trivial erscheinen, das Verfahren ist es nicht. Was man sonst über Gedichte weiß und dazu braucht, das bleibt alles erhalten, die Textstatistik tritt nur hinzu.

Wenn aber das Gedicht nicht nur der Maschine entstammt, nicht vom Zufall, sondern von Absicht geprägt ist, kann es auch wieder Kunst sein und gehören. Und was gehört, das ist tot. Drum gleich weiter zu den Wörterlisten, für die ich neben der bloßen Auszählung oft ähnliche Methoden nutze, nur auf die hübschen Förmchen für die Ausgabe verzichte.

Quelle 1 (2006)


[1]

Märchen kaputt

“Adieu, Herr Hans,

was soll ich tun,

ich armer Mann?”

“Guten Tag, Gretel!”

Hans kommt zur Gretel.

“Wo bist du gewesen?”

“Guten Abend, Mutter.”

“Was bringst du Gutes?”

“Guten Abend, Hans,

guten Tag, Hans.”

Warum auch nicht,

ich bin schon da.

“Adieu, Frau Gretel!”

Drum ist sie mein –

nun nimmermehr.

Das wär des Kuckucks.

Und das war Recht.

“Was du verlangst,

und wo bist du,

was sprichst du da?”

“Was macht mein Kind,

was macht mein Reh?”

Was will sie denn?

Schon gut gemacht.

Und Treppe hoch:

“Mutter, Adieu.”

“Wohin, mein Hans?

Hans, mach es gut.”

Einmal war Gretel.

Hans wenn sie nicht …

Ich hab’s heraus.

Na, was willst du?

Quelle 2 (2006)


DOI: 10.17436/etk.c.032

Dirk Schröder lebte in Berlin. Seit 2016 lebt er in Metzingen. Mehr / Website Autor

Beaulieu, Derek: That’s not writing

That’s not writing

‚That’s not writing, that’s typewriting.‘
Truman Capote on Jack Kerouac
‚That’s not writing, that’s plumbing.‘
Samuel Beckett on William S. Burroughs

That’s not writing, that’s typing.
That’s not writing, that’s someone else typing.
That’s not writing, that’s googling.
That’s not writing, that’s pasting.
That’s not writing, that’s blogging.
That’s not writing, that’s wasted, unproductive, tweaking time.
That’s not writing, that’s stupid.
That’s not writing, that’s a coloring book.
That’s not writing, that’s coming up with ideas.
That’s not writing, that’s waiting.
That’s not writing, that’s mad scribble.
That’s not writing, that’s printing and lettering.
That’s not writing, that’s tape-recording
That’s not writing, that’s word-processing.
That’s not writing, that’s following the herd.
That’s not writing, that’s copying and pasting.
That’s not writing, that’s directing.
That’s not writing, that’s using high polluting” words to confuse readers.
That’s not writing, that’s aggregating, and there are already plenty of aggregators out there.
That’s not writing, that’s printing.
That’s not writing, that’s art.
That’s not writing, that’s Tourette’s.
That’s not writing, that’s posing.
That’s not writing, that’s button-mashing, and anyone can do that.
That’s not writing, that’s vandalism.
That’s not writing, that’s acting.
That’s not writing, that’s blabbing.
That’s not writing, that’s hiking.
That’s not writing, that’s just a knife he’s using to eat pie with.
That’s not writing, that’s bullying.
That’s not writing, that’s dentistry.
That’s not writing, that’s just endless blathering.
That’s not writing, that’s yelling.
That’s not writing, that’s butchery!
That’s not writing, that’s a fortune cookie!
That’s not writing, that’s emoting.
That’s not writing, that’s just dressing it up after.
That’s not writing, that’s just playing around.
That’s not writing, that’s daydreaming.
That’s not writing, that’s showing off.
That’s not writing, that’s keyboarding.
That’s not writing, that’s calligraphy.
That’s not writing, that’s mindless pasting.
That’s not writing, that’s an action flick.
That’s not writing, that’s a puddle.
That’s not writing, that’s a tragedy.
That’s not writing, that’s assembly line mass production.
That’s not writing, that’s transcribing.
That’s not writing, that’s computer-generated text.
That’s not typing, that’s data entry.


DOI: 10.17436/etk.c.031
In Beaulieu, Derek: The unbearable contact with poets. S. 11f.
Published by if p then q, Manchester
Text and cover image © Derek Beaulieu 2015
ISBN 978-0-9571827-8-3

Website Autor, No press

“Derek Alexander Beaulieu (born 1973) is a Canadian poet, publisher and anthologist. Beaulieu studied contemporary Canadian poetics at the University of Calgary. His work has appeared internationally in small press publications, magazines, and in visual art galleries. He has lectured on small press politics, arts funding and literary community in Canada, the United States, the United Kingdom and Iceland. He is the 2014-2016 Poet Laureate of Calgary, Alberta, Canada. He works extensively around issues of community and poetics, and along those lines has edited (or co-edited) the magazines filling Station (1998-2001, 2004-2008), dANDelion (2001-2004), and endNote (2000-2001). He founded housepress in 1997 from which he published small editions of poetry, prose and critical work until 2004. The housepress fonds are now located at Simon Fraser University. In 2005 he founded the small press no press. In 2005 he co-edited Shift & Switch: new Canadian poetry with Angela Rawlings and Jason Christie, a controversial anthology of new poetry which has been reviewed internationally. Beaulieu has shifted his focus in recent years to conceptual fiction, specifically visual translations/rewritings. His book Flatland consists of visual patterns based on the typography of Edwin Abbott Abbott’s classic novel Flatland and his book Local Colour is a series of colour blocks based on the original text of Paul Auster’s novella Ghosts. How to Write, a collection of conceptual prose, was published by Talonbooks in 2010. Beaulieu lives in Calgary, Alberta.” Mehr: Wikipedia

Anatol: when dann da / frühling here is …



In: “anachronism” – schreibmaschinen poesie von anatol knotek. “anachronism”, 32 seiten (16 poesien), handgebunden, DIN A6; “normalerweise ist ein buch nur eine kopie – hier ist allerdings jedes ein einzelstück. jede seite ist mit meiner schreibmaschine geschrieben, also weder ausgedruckt noch kopiert. von insgesamt ca. 50 meiner arbeiten wählte ich für jedes heft 16 aus, sodass in keinem die gleichen vorkommen”.

1977 in Wien (AT) geboren. Studium der Medieninformatik an der TU-Wien. Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht die konkrete und visuelle Poesie, die Kombination von Bild und Text. Anatol ist Mitglied der “Berufsvereinigung der bildenden Künstler Österreichs”. Mehr: http://www.anatol.cc/

DOI: 10.17436/etk.c.023