Auf Sils

(Eine Artikelanbahnung, vielleicht)

Ein Ich in Gerhard Meiers* Ob die Granatbäume blühen kann sich dem Auratischen des Nietzsche-Hauses in Sils-Maria nicht enziehen. Der Geist des großen Wanderers scheint noch in den Räumen vorhanden zu sein, so daß dieser auch durch die Fahnen geweht haben muß, nachts vor allem, denn tagsüber führten wir diese mit, bis ins Bergell zum Beispiel, nach Soglio (…). Ich bin ein gutmütiger Leser. Ich kann über viele Dinge wohlwollend und zügig hinweglesen, solange ich dabei noch um mich selbst kreisen kann. Einige Dinge machen mich allerdings misstrauisch. Ich hake in harmlos scheinende Wendungen ein und klammere mich urplötzlich an die Aussenwelt. An Kirschbäume. An Schnitzereien. Auch an Handkesche Sätze. Überhaupt: An Handkefahnen. Macht der Wörter? Nicht nur das. Ich bin manchmal zwanghaft. Ich begehre dann einen stattlichen Abgleich der Bilder. Ich begehre die Urspur. Ich mache ernst. Ich reise zu solchen Schauplätzen und plane ihre Inaugenscheinnahme. Ich löse kein Rückfahrtticket. Ich nehme nichts mit, ausser einem kleinen Koffer mit Waschzeug und etwas Wechselwäsche. Die entrissene Seite mit dem Zitat natürlich, ein paar leeren Zetteln, ein paar Stiften und vielleicht, wenn da noch etwas Platz ist in dem kleinen Knechtenkoffer: eine Kamera. Möglich, schiesst sie mir ein Erinnerungsphoto.

Ich erhoffe mir da nicht viel. Sehr wahrscheinlich, dass ich nur mit ein paar Schnurrbarthaaren zurückkehre, das wäre ein grosser Erfolg. Oder einem Prospekt des dort ansässigen Kunstvereins. Vielleicht auch mit einem missratenen Gedicht oder trunkenen Lied. Erwarten Sie sich nicht zuviel. Bis nächste Woche. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht, und ich kaufe mir dort eine Insel und verbleibe für immer. Ihre taberna kritika.

* G.M.: von so einem Ernst durchdrungen und dabei ohne Möglichkeit des Spiels. Schade.

doch noch: nachlese

in mond 0 werden auf dem planeten nova plüsch rosa getränke gereicht. zweimal rosa im krug, und die steinsitze verlieren ihre härte, überziehen sich mit hautdünnem stoff derselben farbe und der raum federt sich langsam ein. überhaupt: wie alles farbe wird. und die gäste sympathischer, und die musik geschmeidiger, ganz so, als hätte man drei dunkle eggerbiere getrunken, die man tatsächlich auch trank. ganz so, als wäre man auf einer lesung eines kleinen verlags gelandet, deren protagonisten man in die protagonisten des lesetextes verwandelt, die hirmer und nathanael heissen oder auch vogel und fitzpatrick, als ein echo, wie es auch der gelesene text vorsieht, der nun vor mir liegt (wirklich hübsch, die black-ink-heftchen, auch ein reclamecho), den es gar nicht zu bestellen gibt, der sozusagen gar nicht erhältlich ist, der ebenso echo ist, (aus der zukunft vielleicht), also wird der text beta genannt. ein text, der sich in neun erfahrungsräume strukturiert und diese erkundet, eigenräume, wie sie auch hofmanns nathanael durchwandert. ich bin gespannt auf die anderen welten. natürlich will ich auch noch paul huf erwähnen, der durch allgäuer dörfer wallfahrtete und last but not least thomas glatz, der aus seinen schlechtesten aphorismen las. einige waren sogar ganz gut.

à propos kleine prosa

vielleicht ist die kleine form doch nicht so ausgestorben oder zumindest wenig wahrgenommen, wie ich annahm. habe ich hier noch laut nachgedacht über eine mögliche labelung der Träume meiner Frau, bzw. hier hingewiesen auf ein ähnlich gelagertes projekt, landet mir heute ein bändchen auf dem schreibtisch, das ich zumindest lobend erwähnen muss. Die Truhenorgel versammelt in dieser disziplin kleine skurrile perlen, selbst- und sprachreferentielle miniaturen oder auch nur flüchtig niedergeschriebenes und lotet die ganze welt der 400 zeichen aus. jeder kleine text daraus könnte hier eigentlich zitiert werden, scheinen doch alle irgendwie stellvertretend für das buch. warum ich mich bei folgendem besonders angesprochen gefühlt habe?

Moskito

oder

Wie ein Text entsteht

Du spürst ihn schwirren. Du spürst es im Schlaf. Du hörst ihn heran. Mit den Zähnen. Jagen kannst du ihn nicht. Er ist unsichtbar. Du mußt warten. Bis er voll ist. Dann hockt er über dem Kopfende. In Reichweite. Vollkommen breit. Du nimmst ein Heft und schlägst zu. Am Morgen entdeckst du einen Daumenabdruck Blut. Auf dem Papier. An der Wand.

vielleicht auch, weil mir hier die mechanismen des geworfenseins wieder aufleuchteten. nicht ganz klar war mir die einteilung der textchen in sieben kapitel, deren titel allerdings so für sich selbst sprechen, dass – um der titel willen – irgendeine form der ordnung gerne angenommen wird. (bspw. Unsichtbar in den Kirschblüten saß kein Fink oder Die besten Fahrräder gibt es in Singapur oder Solange der Flügel passt – weg von der Stange)

ein empfehlenswertes bändchen, durch das man sich leider schon in einer stunde gewühlt hat.

Hans Peter Hoffmann: Die Truhenorgel. Gesänge, Capriccios, Kapriolen. Tübingen, Klöpfer & Meyer. 2006

In Domodossola

Keine Rezension, (keine Zeit), kein Dafür- oder Dagegenhalten, sondern eine kurze Umkreisung. Eine Art Kommentar (wie ich ihn hier versprochen hatte). Vielleicht nicht einmal ein Kommentar. Nur ein paar Notizen, aus denen vielleicht so etwas wie eine Rezension werden könnte.

KEINE SPOILER

1. Domodossola ist vielleicht der Ort, an dem man umkehrt undoder hängen bleibt. Hängen bleibt in Gedanken und umkehrt im wahrsten Sinne des Wortes.

2. Wir haben einen Erzähler. Einen Selbstgesprächler. Der Erzähler bist DU, denn es passiert DIR im Augenblick des Lesens. Wir haben einen inneren Monolog in zweiter Person, Singular. Wir haben einen DU-Erzähler. Wir sind uns ausgeliefert.

3. Warum in Domodossola? Ein Triebwerkschaden? Nein, ein Streik des Bahnpersonals. (…) Beobachtungsreihen zur Feldstärke, meist in Magnetogrammen festgehalten, unterscheiden sich nach dem jeweiligen Zweck der Untersuchung und berücksichtigen gemeinhin vier Vektoren. Fassbar ist die Deklination, also die Missweisung der Kompassnadel, weiter die Horizontal-, die Vertikal und die Totalintensität. Ergänzend muss erwähnt werden, dass die meisten Geodäten die Einheit der magnetischen Feldstärke, weiterhin Gauß nennen, obwohl sie seit 1930 mit Oersted bezeichnet wird. Die Wissenschaftler sträuben sich gegen diese Umbenennung, damit der Name von Gauß, dem der Erdmagnetismus so viel verdankt, nicht in Vergessenheit gerät. Aufgrund der Messdaten werden magnetisch ruhige und magnetisch gestörte Tage erfasst.

Folgst der Bahnschneise, schlenderst den ganzen Weg zurück, bis du wieder dort bist, wo du nie hast sein wollen, in Domodossola am Bahnhof. Als müsstest du dich deiner Sache versichern, gehst du erneut an einem Schwall koffeinhaltiger Buffetluft vorbei zu den Bahnsteigen. (…)
S.93/94

4. Solche hineingeschalteten, technischen Versatzstücke gibt es. Wir wissen nicht, warum der Erzähler (der wir sind), erstaunliche Kenntnisse auf dem Feld des Elektromagnetismus, des Erdmagnetismus hat. Das ist aber auch nicht wichtig, denn es geht nur um die Möglichkeit einer Analogie.

5. Und: Obiges scheint wohl etwas kryptisch. Kryptischer als der eigentliche Text. Für Freundinnen und Freunde eines Plots, liefere ich hier den Versuch einer Zusammenfassung in wenigen Sätzen:

Ein junger Mann (Du) strandet auf der Zugfahrt (Basel – Rom) zu seiner Liebsten, die nichts von seiner Reise weiss, in dem Städtchen D. Eine allmähliche Rekonstruktion des noch jungen (Pendel-)Beziehungsereignisses, eine Introspektion der Gefühle zu dieser italienischen Bäckerin findet statt. Mehr möchte und muss man nicht verraten, denn es ist, viel mehr noch als „Luchs“ (so viel mir bekannt ist) ein Roman, der eigentlich ein sprachlich-assoziatives Umherdenken ist. Der ein Denken darstellen soll, das in ein anomales geomagnetisches Feld geraten ist. Ein hin- und hergerissenes Denken im aussergewöhnlichen Zustand des (Noch-)Verliebtseins, des Zweifelns, der unsichtbaren Anziehungskräfte und der Abschiede und Ankünfte auf Bahnhöfen. Vor einem blitztraurigen Ende.

6. Eine Bewertung? Ich habe Mannharts ersten Roman „Luchs“ immer noch nicht gelesen und ziehe deshalb keine Vergleiche. Ich ziehe überhaupt keine Vergleiche. Aber, ich habe das Buch zu Ende gelesen und das ist für eine Novität ein gutes Zeichen. Ein gutes Zeichen ist es auch, dass ich einige Male lachen musste und mir Notizen machte, mir gute Zeichen und Wendungen aufgeschrieben habe (allerdings gibt es auch ein paar überflüssige Manierismen), die ich ihnen hier aber vorenthalte.

zu: Urs Mannhart, Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südöstlich von Domodossola. Roman, 2006

bible works

udo kier liest (spielt die stimme von) rainer werner fassbinder liest texte aus der bibel. eine offenbarung.

klick

die lippen, wörter, geräusche und bilder

ich lese kiers lippen in einem zug

ich höre kiers achternbusch

ich höre zerlett

ich lese zerletts achternbusch

ich höre achternbuschs kier

ich höre die bibel

ich sehe zerlett und kier

ich sehe achternbusch

ich sehe kier

ich bin ein kind

ich bin achternbusch

ich bin die bibel

hin- und hergeworfen in der entwicklung der problematischen frage nach dem ort (der position) des sprechers, des textes, der von kier in der form eines dialogs zwischen mann und frau dargestellt wird und der bei mir (vielstimmig auf umwegen in mir) landet; der die verwirrung noch weiter, auf die spitze treibt. der auch gender trouble macht – als textsorte.

letzte reise nach harrisburg gefunden von und bei christine marendon (dgf)