Frau Mermet

Nun also doch. Eine Abteilung mit dem Titel “die zweite chance”*. Und dem Untertitel in Arbeit: neues vom ramschtisch. Eine traurige Abteilung, eigentlich. Warum? Das erfahren sie in nachrubrizierten, vorangegangenen Texten. Die Rubrik ist sozusagen als Ergänzung zu das sieb (kln) zu lesen. Paradoxerweise befinden sich in diesem Gefäss immer noch Novitäten kleiner Formen, die aber vom Buchhandel geköpft wurden. Die Überreste fische ich aus exponierten Kisten mit den grossen Schildern und klitzekleinen Preisen: Immer Montags, wenn ich mit meinem kleinen Sohn die Buchhandelsriesen der Stadt beehre. Heute also Jürg Amann, Pornographische Novelle, ein kleines Bändchen aus dem Tisch-7-Verlag (vgl. auch Herbsts jüngsten Erzählungsband), das nun nach etwas weniger als einem Dreivierteljahr auf diese Weise das Zeitliche segnet. Ich kaufe es fast verschämt, befindet sich doch auf der Vorderseite der flüssig gezeichnete Anblick einer nackten Frau von unten. Aber, das Bändchen hat es in sich. Neben kleinen Formen, also, die dieses Thema komplett literarisieren (oder verschwurbeln), ein Anhang mit Robert-Walser-Brief-Montagen, gerichtet an Frieda Mermet. Wie liest sich das?: Liebe Frau Mermet. Gute Frau Mermet. Liebe gute Frau Mermet. Schätzenswerte Frau Mermet. Hochgeschätzte Frau Mermet. Liebe, hochgeachtete Frau Mermet. Allergediegenste, beste Frau Mermet. Meine sehr liebe und hochgeschätzte Frau Mermet. Meine liebe Frau Mermet // Verzeihen Sie, Frau Mermet. Verzeihen Sie, liebe Frau Mermet. Sie werden mir verzeihen, liebe Frau Mermet. Aber, aber, Frau Mermet. // (S.69). Zu empfehlen: allen Robert-Walser-Sammlern. Und Positivisten.

* edit, 22.03.06: aus konzeptionellen gründen wurde die abteilung in “lektyren=synthesen” umgetauft.

Zur Halbwertszeit kleiner Formen

Aber dann müsste ich eine neue Rubrik eröffnen. Die zweite Chance würde ich sie vielleicht nennen. Und: Material dazu würde ich finden: in Hülle und Fülle. Nachdem vor wenigen Wochen ein taufrischer Band von Björn Kuhligk („Grosses Kino“) aus einer Restpostenkiste gefischt und gerettet wurde, finde ich dort gestern einen Band von Kurt Aebli („Der ins Herz getroffene Punkt“). Im ersten Falle handelt es sich um den Berlin Verlag und man weiss, dass dieser nicht gerade zimperlich ist, was die Festlegung der Halbwertszeit seiner Publikationen und damit ihre Verramschung angeht. (Vgl. auch: Alban N Herbst, Buenos Aires. Anderswelt.)

Aber im Falle Aebli: Es handelt sich dabei um einen Titel des von mir sehr geschätzten Basler Urs Engeler Verlags. Der Titel landete Ende letzten März noch als Novität auf meinen Tisch. Und wird heute schon bei Thalia aus dem Sortiment entfernt. Ganz klar: der Titel dreht zu wenig, wie man so schön sagt. Ich kann mir nun nicht vorstellen, dass das im Sinne Engelers ist. Die neuen Geschäftspraktiken …

Es ist ein charmanter Band mit kleinen Formen aus dem ich nur eine repräsentative Stelle nenne: Nach einer unruhigen Nacht ist die ganze Wahrheit anders grundiert. Kaum wiederzuerkennen die Umgebung, nichts Vertrautes mehr. Harte unversöhnliche Stimmen reißen Löcher auf in seinem Empfinden. Die Dinge unter dem Vorzeichen eines grundlosen Schmerzes. Die von ihm beurlaubte Sprache tobt sich im Verborgenen aus. (s. 57). Dann sind wieder Gedichte, Anrisse, kleine, aphoristische Formen und krude Beobachtungen zu finden, aufgereiht, alle aus der Hand des gedachten alter Autorenegos und Skeptikers Wellenberg stammend (so die Konstruktion): viel zu schade eigentlich für den Krabbeltisch, und doch die letzte Chance der im verborgenen Tobenden. (Was natürlich paradox ist, denn schliesslich profitiere ich davon … und: Ambivalenz heisst das andere Wort).

HAUSACH. DIE EISENBAHNSTRASSE

Einmal im Herbst

waren die Hügel

eigenwillige Tierrücken

jemand wie ich ging vorsichtig

die Hände in den Taschen

zu keiner Bitte bereit

(Björn Kuhligk, Großes Kino, S.48, 2005 )

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vgl. kommentar, hierzu. nachrubriziert aus “das sieb (kln)”