Zu dieser unendlichen, ominösen Neige bete ich.

Ich empfand eine mir fremde Nähe zu ihr, eine Verwandtschaft aus unvordenklicher Zeit – eine Art Verwandtschaft aus dem Meer. Mir war, als seien wir einst im selben Augenblick, am selben Strand als Nacktes, Verängstigtes angespült worden. Und auf lange, dünne, zittrige Beinchen gestellt.

Alte Liebe. – Immer wieder merkwürdig, wie wenig wir erinnern. Idioten sind wir, ohne Gedächtnis. Alles was bleibt, floh tiefer in uns.

Und sie legten Relationen,

unters Elektronenmikroskop.

Wenn die anderen nicht wären, säße ich länger beim Frühstück. Und sähe zu, wie die Farbe meines Morgenmantels verblaßt.

Mein Begehren, meine Verzweiflung: mich ständig zu verlieren – ohne mich je zu verlassen, ohne je verschwunden zu sein.

Zu dieser unendlichen, ominösen Neige bete ich.

p20

Sie war der Blumenladen, neben ihm, dem Friedhof.

Wir übersehen. – Verkleidungen, Verblendungen, Abhängungen. Sie springen uns nur mehr ins Auge, wenn sie das von ihnen Verborgene freigegeben haben, als defekte. Das unheimliche Geheimnis jeder Zeit – die Verstecke des Offensichtlichen.

Wolkenberge, Wolkenwiesen, Lichtflüsse und –seen, schwebend am Horizont, schwebend über ihren irdischen, schon schattigen Vorbildern. Und diese Himmelslandschaft, dies phantastische Flirren und Flackern, dies göttliche Gemälde entzweit vor mir ein Ehepaar:

„Alles nur, weil auch heute Abend die Erde sich dreht!“

„Psst … – sei still du Idiot!“

Jenes befremdliche Verlangen, in den eigenen Bildern zu verschwinden.

Sie war der Blumenladen, neben ihm, dem Friedhof.

Wir übersehen. Ein Ganzes, blind.

p19

Die Kunst hatte die Parabase erbrochen.

Die Kunst hatte die Parabase erbrochen. Sie schaute zwanghaft auf die Lache neben ihr, ekelerregt. Und rannte davon.

Vorbild. – Die Vorstellungswelt eines vor kurzem Erblindeten. Das Imaginierte muß praktikabel werden.

Kunstgeschichte. – Kaum sichtbare Bewegung von Erstarrtem. Gletscherartige Langsamkeit. Bruchkanten am Meer des Vergessens.

Es ist ihr Horizont, der sie einschnürt.

Tierkern. – Ein Kater kam zum mir gelaufen, legte sich auf meinen Schoß. Ich kraulte gedankenverloren seinen Kopf, streichelte sein Fell, ich weiß nicht mehr, wie lange. Ich fiel, verlor mich immer tiefer in diesem Tun und seinem wohligen Schnurren. Plötzlich, in dieser Selbstvergessenheit, beugte sich mein Oberkörper zu ihm hinunter, öffnete sich mein Mund … Er hob irritert den Kopf, schaute mich mißtrauisch an. Ich zögerte, hielt inne, erschrak: Ich spürte schon das Fell auf meiner Zunge.

p18

Gleichmütig traurig wie schwebende Seekühe.

International stranger. – Viele Male starrten meine müden Augen in sein Angesicht. Und jedes Mal strahlte er zurück, ritt immer wieder aufs Neue in den Sonnenuntergang. Er, „le cowboy dans la solitude de la vie sauvage“. Ich, der Abgerichtete unter vielen im Neonlicht.

In einer halben Nacht gelang es einer Maschine und ihren Hilfsarbeitern, das höhnende Bild von Billy The Kid für die französische Ausgabe eines deutschen Waffenjournals 40.000fach zu reproduzieren.

Gestern Sport. – Er bewegte sich wie ein animiertes Knetmännchen, dem sie jedes dritte Bild gestrichen hatten.

Einsam, verlassen, voller Erinnerung – ihm war wie ein Kinderspielplatz im Winter.

Wir lachen mit dem Tod, den wir in unserem Zwerchfell spazieren tragen.

Gleichmütig traurig wie schwebende Seekühe.

p17

Ihr Lob des Flexiblen dient immer nur den gleichen Zwecken.

Für Pascha und Tiger. – Tiere wachsen uns anders ans Herz. Leiser, ferner, unbemerkt. Und erst wenn sie gestorben sind, wird uns gewahr, wie sie es auch erwandelten. Vor ihrem Grab bleibt ein Tierkern zurück. Und wir lauschen in uns einsam seinem Selbstgespräch.

Weltschnipsel. – “Die sieben Konterrevolutionäre wurden am langen Sams… äh … letzten Samstag hingerichtet.” (SAT 1, „SAT-Blick“, 22.6.1989)

Das Harmlose wurde existenziell: das Geplauder am Gartenzaun übers Wetter.

Ihr Lob des Flexiblen dient immer nur den gleichen Zwecken.

p16