alpenlauschen II

alpenlauschen – Ein Neuwerlich, Lustig, Ernsthafft Poetisch Gastmahl und Gespräch zweyer Bergen in der löblichen Eydgenoßschafft und im Berner Gebiet gelegen: nemlich des Niesens und Stockhorns als zweyer alter Nachbaren – Zweyter Theyl

INFO | was bisher geschah

     nihil bonum sub solem, könnte man meinen, lauschte man den beiden grantlern niesen (n) und stockhorn (s), und, haben sie nicht recht? ist das leben aus der sicht eines berges etwa ein zuckerschlecken? vielleicht ist aber auch der mangel an grosszügigkeit und selbstbespiegelung das ausgeprägteste merkmal ihrer moraldiskurse.

bild: paul klee – Der Niesen („Ägyptische Nacht”, 1915)

n: ich habe von ihrem seitensprung gehört. jetzt schon zum zweiten mal. ich muss schon sagen: nanana

s: pst! nicht so laut, das muss ja nicht die ganze welt erfahren. im süddeutschen, olala, In Meyens lust wer serr spatziert / in schönem gut sich erlustiert /– sie verstehen was ich meine?

n: Dennoch er sich umbwenden muß / Und heimwertz richten seinen Fuß / (223) . das hatten wir ja schon mal. und wie wars mit italien?

s: ich kann ihnen erzählen. groß reichthumb / lust / und kurtzweil /. aber wie sie schon sagten, daheim ists halt doch am schönsten.

n: ich weiss nicht so recht. sie wissen ja, ich bin nicht unbedingt ein politischer berg, aber wenn man dem treiben hier so zuschaut. überall quärulanz und miesepetrigkeit dort unten. man wäre recht froh, wenn man mal abstand gewinnen könnte. der mensch ist ein trauertropf. Bald ist er krank und fürt groß klag / Das ihn niemans geschweigen mag / (414)

s: Jahaa. Was einer lobt der andre schilt / So sach es an nur wie du wilt / Der kranke Mensch geht drob zugrund /. wem sagen sie das? die humanoide jammerkonstante. Den felts in Reben / Den am Weib / Die ist zänckisch / treibt mutwill / keib / Die lieb ist hin / verkeert in haß / Sie spinnet gern nur beym Weinfaß / (415/6). ach, wie wir reimen können. mir ist so recht parnassisch zumute.

n: wo wir gerade davon reden, ich bin schrecklich hungrig und durstig, hätten sie vielleicht ein glas saft und etwas zu knabbern da?

s: ein paar flechten, hölzer und gletscherwasser, wohl bekomms! habe ich ihnen schon von dem neu eröffneten naturlehrpfad auf mir berichtet? ich sage ihnen, dort erfahren sie alles, was sie wissen müssen. warum die ameise im nadelwald lebt, und der specht im buchenwald, warum das edelweiss kalkige böden bevorzugt. selbst einen obstlehrpfad, einen “öpfelchüechliwäg” haben sie nun eingerichtet.

n: (schmatzt) erlebniswege. schlimm, was schon alles gegen das vergessen veranstaltet werden muss. ich sage ihnen, gehen sie auf einem erlebnisweg, ist das ganze erlebnis weg. haha. ich sage ihnen, wir werden schon von einer so richtig primitiven spezies bewohnt, ja, bewohnt sage ich. häuser bauen sie auf mir, tunnel graben sie in mich hinein und richtens sich so richtig wohnlich ein. ich an deren stelle …

s: ja, das ist schon der gipfel! rocky pathless melancholy! man kommt sich so richtig missbraucht vor. ich liess mir ja schon einiges gefallen. nehmt mein gold, mein erz, taucht unter in meinen heilquellen. Das wer manchem süß Himmetltaw / Da wurd mancher sein gut verzeeren / Mancher in Baden sich erneeren / (455). aber, muss man sich denn alles gefallen lassen? bin ich ein zauberberg, der für alles herhalten muss?

n: (hustet)

s: passen sie auf, dass sie sich nicht an den drähten verschlucken!

n: die eitelkeit macht den menschen blind: kan er drey linien ziehen sein / so wil er schon Euclides sein / Poeten habens troffen recht / keiner sein dichten halt für schlecht / (477). jaja die dichter, man hört nicht mehr auf sie, und es scheint, als könnten, als wollten sie nicht mehr visionen entwickeln.

s: kein mensch hört mehr auf die dichter. stattdessen erlebniswege. die ameise im nadelwald, der specht im buchenwald. interfakultäre koordinationsstellen für allgemeine ökologie in jeder kleinstadt.

n: sie alter romantiker! was erwarten sie in zeiten der massenwanderungen? dass sie unberührt davon blieben? dass das nur im kopf stattfände?

s: nein, ich habe nichts gegen freiheiten, wenn nur jeder eine vernünfftig grenze ziehen könnte, in sich selber. kein mensch käme dann auf die idee, mich mit einem schokoriegel zu besuchen.

n: was sie verlangten, wäre dann ein zeitloses sittenbrevier. ein kategorischer definitiv. ein vertrag zwischen berg und mensch. ein wahrhaft olympischer gedanke!

s: das haben sie gesagt.

n: und zwischen berg und berg, ich sage nur: die süddeutsche, die italienische. ohne die lust auf den unterschied, den vergleich …

s: sie haben mich ertappt!

n: ich meine ja bloss. von hier oben lässt sich ja im allgemeinen einiges sagen. vor allem, wenn man nicht drinsteckt.

s: gelehrte selbstgerechtigkeit meinen sie?

n: Bist du recht g’leert niemands veracht / Was lieb und demut sey betracht / Den spreissn sichst beim Nechsten dein / Sein Wort und Werk muß unrecht sein /

s: Und du bey dir sichst nicht dein Sparren / Bist offt thorhaffter dann die Narren. / (436/7). sie haben ja ein gedächtnis!

ENDE szene II

alpenlauschen I

alpenlauschen – Ein Neuwerlich, Lustig, Ernsthafft Poetisch Gastmahl und Gespräch zweyer Bergen in der löblichen Eydgenoßschafft und im Berner Gebiet gelegen: nemlich des Niesens und Stockhorns als zweyer alter Nachbaren – Ersther Theyl

INFO | was bisher geschah

     ein zufall? ein aufbegehren? eine erweckung? endlich gefasster mut zur renitenz? vierhundert jahre nach ihrem seltsamen gespräch treffen sich die optimisten niesen (n) und stockhorn (s) wieder, um sich abermals den zustand der welt zu erklären

bild: ferdinand hodler – Thunersee mit symmetrischer Spiegelung

vor Sonnenaufgang, 1904

n: tag!

s: tag!

n: der herr stockhorn, nehm ich an?

s: ah, der herr …, hm, wie war doch gleich …? vierhundert jahre sind ja auch kein pappenstil.

n: niesen, wie hatschi, nein, ich scherze nur, aber, wenn man so selten gefragt wird … den namen habe ich nicht etwa vom nasensäuselnden niesen, sondern vom gelben enzian. die fiebersenkende, appetitanregende, magenstärkende, blutverbessernde und leistungssteigernde heilpflanze blüht auch heute noch an mir. der alte name für diese pflanze lautete «yesen», und yesen wird in einer urkunde aus dem jahre 1357 erstmals in verbindung mit dem niesen erwähnt: darin wird eine alp beschrieben, die am «yesen» liege. aber ich schweife ab …

s: jaja, wir alten berge, ich erinnere mich noch genau an unsere letzte plauderei. wir sassen zu tisch im sonnenuntergang und sie rezitierten einen alten meister. Ein g’schirr mit wasser gfüllt zu hauff / wirt es in d’ründe steigen auff / (72). ein richtiges wasserlob stimmten sie an, als ob es hier nicht …

n: täuschen sie sich nicht, mein schwärmen ging bald darauf ins steile.

s: richtig: es wurde dann ja doch eine tractation von der gantzen welt ingemein, unter besonder berücksichtigung von …

n: … uns!

s: genau! eine sicht auf die welt als hühnerei, wie ein späterer kommentator unserer neckereien meinte, einer welt als buch, das noch einer ordnung gehorchte. aber, schaue ich so an mir herunter, mir wird so übel, ich könnte glatt eine lawine fahren lassen.

n: passen sie auf, es könnte sie jemand dabei beobachten.

s: sie haben recht, da unten, mengen gewürm, ach, ich sehe schlecht, es wird sich wohl um menschen handeln, nun, sie werdens für ein klimaschauspiel halten.

n: ein schauspiel? ein naturschauspiel ist gut! allein, was bringts den unvernünfftig thieren, die da alles so beleben, und die zeichen nicht deuten können, deuten wollen, sag ich. im ernst, geben sie ruhig ihren bedürfnissen nach, der zeichen brauchen sie viele bevors klingelt. letztendlich muss man immer beim nachwuchs ansetzen, sonst ändert sich nichts.

s: verstehe. Umb ihre Jungen wers gethan / Wann also d’Erden solt umbgan (99) . schreckliche dialektik, denk ich an die Blümlin (…) groß und klein (115) . doch lassen wir das. wie geht’s ihnen denn so?

n: ach, auch nicht mehr so wie früher. gold, silber, ertz, jaja man muss federn lassen. ein globales phänomen, wenn man sich so umhört. vorbei die guldin zeit / da noch auf erd kein Krieg noch streit / da noch kein statt gebawen war / kein Schwert / noch Pfeil noch krieges Gfahr (259) . ich fange schon wieder zu jammern an, dabei sollte man froh seyn, dass man noch nicht abgetragen wurde.

s: ich bitte sie! sie doch nicht! schaun sie sich doch mal an. thronen doch noch mächtig und prächtig hier über dem thunersee. neinnein, sie sind noch schwer in form, in urform sozusagen. so eine pyramide muss man erst mal nachmachen, da werden ganz andere dinge geschützt. denken sie doch bloss mal an das unterbewusste, da wird bestimmt nicht dran geschraubt …

n: wie meinen?

s: na, das unterbewusste der menschen. ich sage ihnen, da kenn ich mich aus. ohne sie, keine annähernde idee von perfektem berg, ungeheurer schiefriger schichten, der alpenfaltung schlechthin. und erst ihr fruchtbares vorgebirge (332) …

n: nun machen sie aber mal einen punkt, ich beginne zu erröten. gutgut, ich habe mich noch ganz ordentlich gehalten, aber schaun sie hier, und hier. pickel, narben, juckende ekzeme …

s: auffahrtsstrassen, bergbahnen, gasthäuser nennen sie das.

n: das ist mir egal, wie die das nennen. ich nenne das den beginn einer schuppe. sie hats wohl auch ein bisschen mitgenommen?

s: hm, reden wir nicht darüber …

ENDE szene I

index: die fetten


die fetten

eine farce in drei akten

SZENEN

I,1 | I,2 | I,3

II,1 | II,2 | II,3

III,1 | III,2 | III,3

© bernd hellmuth franzen*

oben: version 0.1 (arbeitsfassung eins)

in arbeit: version 0.2

(19.12.04): version 0.3 (pdf)

NEU (aug. 05): version 0.4 (pdf)

*bh franzen ist kein(e) unbekannte(r) [bhfranzen (at) gmx net“>.

bh franzens text entstand aus einem langen briefwechsel mit sich selbst.