Die Dichter (der VB) / A3S2(1)

(D22)

Akt 3, Szene 2

Licht in R1 bis R3. Käs und Sachwitz sitzen vor ihren Computern, während hinter ihren Rücken laufend weitere Bücherwägen gerollt und abtransportiert werden. Flitz und Flugs befinden sich in R2 vor den Informationswänden und hängen Papiere auf und wieder ab. Dabei kommt es ab und an vor, dass der eine Papiere des anderen abhängt und gegen eigene ersetzt. In R3 steht Dr. Weber vor einem Spiegel und spielt an einer neuen, noch strahlenderen Uniform herum. Fröhlich versucht mit einer Fusselbürste seine Schulterklappen zu reinigen. Nach einer Weile geht er zum Mikrophon und ordnet davor ein paar Papiere.

R3

AUTOMATENSTIMME: Durchsage 2136.

WEBER (liest beinahe vom Blatt ab): Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wie Sie vielleicht erfahren haben, werden einige Teile unseres Bestandes ausgelagert werden. Diese Massnahme ist notwendig geworden aus verschiedenen Gründen, die ich hier leider aus Zeitgründen nicht ausführen kann. Sie werden aber hierzu in einem gesonderten Schreiben informiert werden.

Wir sind über diesen Umstand aber nicht nur betrübt. Seit vielen Jahrhunderten machen sich Denker und Dichter daran, ein Buchwesen zu ersinnen, das sich von dem uns bekannten sehr unterscheidet. Es ist auch die Vorstellung einer Bibliothek, wie es sie noch nie gab und wovon man eigentlich dachte, sie würde es nie geben. Geben können.

Es waren so bekannte Dichter, wie, aber was erzähle ich Ihnen, Sie kennen sie alle bestens. Sie haben auch auf Gefahren hingewiesen. Sie haben darauf hingewiesen, dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Sie haben von einem unumkehrbaren Prozess gesprochen.

Wir wissen, dass wir da alle umdenken müssen, und dass es noch ein weiter Weg sein wird, den wir zurücklegen werden. Aber ich sage „noch“.

Denn wir haben den ersten Schritt gemacht und uns der neuen Realität gestellt. Wir haben einen Weg eingeschlagen, der uns richtig und konsequent erscheint und der allerdings nicht mehr zu revidieren ist.

Wir blicken nach vorne. Wir erfüllen uns einen Traum. Wir arbeiten an einer Utopie und zerstören sie gleichzeitig, denn sie wird wahr werden. Wir zeigen, dass es uns möglich sein wird, zu verzichten – ohne zu verzichten. Zu verzichten, um zu gewinnen (räuspert sich.)

Eine buchfreie Bibliothek, das hört sich etwas seltsam an. Eine buchfreie Bibliothek, wird sich so mancher fragen, ist das noch eine Bibliothek? (Räuspert sich, zunehmende Verwirrung und Erstaunen in R1 und R2).

Es ist eine Bibliothek, sagen wir. Und diese gab es schon immer. Allerdings nur in unseren Vorstellungen.

Ein Wissen ohne Katalog, wird sich so mancher fragen, wie ist das möglich? Ist es noch Wissen? Und wir sagen: Ja, es ist möglich. Denn wir leben alle schon in dieser Ortlosigkeit und sind mit ihr bestens vertraut. Wir alle schöpfen schon aus den Möglichkeiten neuer, ja, virtueller Bedingungen, und wir (räuspert sich, raschelt nervös mit den Zetteln), wir äh, sind bestens vertraut, äh, ausgerüstet, können uns alle schon sehr gut bewegen in, äh, digitalen Umgebungen, und äh, möchte ich sagen, so ist es wiederum nur ein kleiner Schritt, ein weiterer kleiner Schritt in die richtige Richtung, der der vollständigen logistischen Effizienz und der (raschelt, räuspert sich) Inanspruchnahme neuester, informationstechnischer Errungenschaften, den wir nun unternehmen. und den Sie vielleicht alle schon sehnlichst erwartet haben. Es ist unsere Pflicht.

Natürlich werden wir nicht von jetzt auf nachher, oder von heute auf morgen, äh, denn es wird seine Zeit dauern, bis alle Bücher und Dokumente den Ihnen schon bekannten Verfahren unterzogen sein werden, und wir werden auch in Zukunft nicht auf das eine oder andere Buch verzichten können. Aber schon allein unsere physische Verschlankung wird uns beweglicher machen, wie wir es nie zuvor waren. (Räuspert sich, Pause, rascheln.)

Wir haben die Abteilungsleitungen weiter beauftragt, Ihnen noch Handreichungen zukommen zu lassen, wie in Zukunft diese Zukunft ausschauen wird. Wir haben uns Gedanken gemacht, wie in Zukunft mit allfälligen Neuanschaffungen zu verfahren ist, um ein Beispiel zu nennen. Es wird sicher nicht mehr alles den alten Konzepten entsprechen. Auch dieses Problem wurde breit diskutiert und man ist zu einer Lösung gekommen.

Um unser sicher hochgestecktes, aber absehbares Ziel zu erreichen, bitten wir Sie wieder, liebe Kolleginnen und Kollegen, um Ihren gewohnt vollen Einsatz und uns sogar vielleicht noch ein bisschen mehr zu unterstützen.

Wir verlassen uns auf Ihre Schnelligkeit. Und auch auf Ihre Gründlichkeit und Erfahrung. Wir bedanken uns bei Ihnen jetzt schon sehr herzlich und freuen uns mit Ihnen auf unsere Virtuelle Bibliothek.

AUTOMATENSTIMME: Ende der Durchsage.