Die Scherben

(E3)

Wir wissen nichts voneinander. Eigentlich: Fast nichts. Entfuhr es Röhrling an einer Stelle. Draussen begann es einzudunkeln und wieder fiel ein Lichtkegel auf die geöffnete Balkontüre, zwängte sich durch die Rahmen und fächerte das Rauchgitter an die Wand zu hellen, schlanken Schatten auf. Röhrling sag aus wie ein Toter. Wie sein eigener Tod. Diese Hose besitze ich nun schon seit beinahe dreissig Jahren, fuhr er fort. Die Cordstruktur hatte sich schon gänzlich aufgelöst in ein feines Netz aus Fäden, ein Geflecht aus weichen Fasern, das nur noch mit Mühe und Not decken, aber sicher nicht mehr wärmen konnte. Darum also die zweite Schicht, das Pyjamaunterteil, das sich auch farblich perfekt unterordnete, ihm Schutz bot und ihm die Scham nackter Haut ersparte, dachte Benedikt. Das Unpassende. Ungehörige, gegen ein anderes getauscht, das weniger schamlos schien, das sich ins eigene fügte.

Ich kann einfach nicht davon lassen. Sie war ein Geschenk. Ist immer noch etwas besonderes. Oder besser: wird immer besonders sein. Sagen wir, sie befindet sich in einem steten Prozess der Besonderung, erklärte Röhrling fast etwas entschuldigend. Ich trage sie noch an Jahrestagen, und heute ist so einer.

Benedikt wollte nun den Anlass dieses Gedenkens erfahren, da fiel sein Blick in Gegenrichtung des Lichts und blieb an der Strassenlaterne gegenüber hängen. Ein Betrunkener entleerte sich dort gerade, mit einer Schulter gegen sie gestützt. Röhrling griff hinter sich unter einen Teewagen aus Holzimitat, der ihm als Ablage für allerlei Zeitschriften diente, und zog eine Flasche Rotwein hervor, knipste eine kleine Tischlampe an und setzte sich seine Lesebrille zurecht. Ein … Er blinzelte mit den Augen, kniff sie streng zusammen, doch er konnte das Etikett nicht entziffern. Naja, lesen Sie selbst. Jedenfalls ein 1989er. Und öffnen Sie ihn. Dann gab er Benedikt die Flasche und darauf einen Schlüsselbund, der ihn bis dahin die Hose an der rechten Leistengegend ausgebeult hatte. Daran hing ein Taschenmesser mit Korkenzieher. Der Kork franste aus, als Benedikt ihn bearbeitete. Sie müssen das auch nicht wissen. Was denn? Benedikt blickte auf. Das mit der Hose. Ein anderes Mal vielleicht. Röhrling kippte etwas Wasser in beide Gläser, schwenkte sie hin und her und goss den Auswusch in eine verholzte Yuccapalme auf seinem Balkon. Dann rieb er sie mit einem Stück Stoffe aus, von dem Benedikt nicht wusste, woher es so schnell genommen wurde.

Während Benedikt die Gläser füllte, machte es sich Röhrling wieder gemütlich. Das ist nicht ungefällig, da haben Sie sicherlich recht. Erträglich. Pointiert, vielleicht. In Ordnung. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Aber was bezwecken Sie damit? Worauf wollen Sie hinaus? Wie gesagt: wir wissen wenig voneinander. Wir beide. Was das Private angeht. Aber auch Ihre kleinen Figuren und ich. Was haben wir miteinander zu tun? Sie haben mir hier jetzt ein paar „Fälle“ vorgelegt. Wie viele waren es gleich? Vier, gab Benedikt gedämpft zurück. Vier? Schön. Vier kleine Leben, die da mit wenigen Strichen skizziert werden. Mich interessiert: wie hängen diese zusammen? Überhaupt: was haben diese mit Ihrem Thema zu tun? Sie werden mir doch nicht ernsthaft erzählen wollen, dass es sich mit einer fortlaufenden Aneinanderreihung kleiner Formen getan hätte?

Man müsste Sie gleichzeitig lesen können, zumindest aber müsste die Reihenfolge beliebig sein, aber das sei eine andere Frage, sagte Benedikt. Es gibt da einen Plot, der dieses Gefüge binden soll. Eine Art Kitt, doch doch. Benedikt kam langsam in Fahrt. Da ist ein Leser, der viele Bücher nur anliest, passagenweisse liest, Romane, Sachbücher, Sekundärliteratur, und versucht diese allmählich zu einem Buch zusammenzuzüchten. So etwas Frankensteinsches. Aus vielen Versatzstücken etwas Lebendiges zu schaffen. Ein Lebewesen. Ein Mensch, vielleicht, der gleichzeitig die Summe der einzelnen Teile verkörpert. Aber nicht nur das. Ist Ihnen nicht vielleicht aufgefallen, dass Frankensteins Geschöpf immer nur in Stresssituationen oder doch zumindest in Ausnahmesituationen geschildert wurde. Als hätte es da nicht auch Stunden, Tage oder Wochen gegeben, an denen nichts Schilderungswürdiges passiert wäre. Sehen Sie, so geht es den meisten Protagonisten. Dieses Geschöpf sollte nicht nur funktionieren oder nicht, und das in solchen Situationen. Es sollte sich irgendwie auch: bewähren. Sollte, hm, auch eine gewisse Normalität leben können. Ich weiss, ich bin da noch nicht sehr weit. Das kommt Ihnen vielleicht zurecht noch etwas abstrakt vor.

Röhrling nippte zufrieden an seinem Glas. Machen Sie weiter. Ich habe heute nichts mehr vor.

Was fühlt so ein Buch? Was fühlt dieses Buch? Oder dieses Lebewesen. Oder dieser aus verschiedensten Zeichenketten gemachte Mensch? Was denkt er über seine Identität? Was ist das für eine Identität? Wenn es sich nicht so präsentiert, wie es sich präsentiert. Als Einheit. was für ein Leben herrscht da zwischen den Zeilen? An den Nahtstellen?

Das ist mir jetzt aber doch etwas zu unausgegoren, was Sie mir da erzählen, unterbrach ihn Röhrling. Haben Sie nicht vielleicht auch noch etwas Handfestes?

Was die kleinen Formen angeht, so habe ich mir dafür schon etwas zurechtgelegt, holte Benedikt erneut aus. In einer ersten Beschäftigung mit spekulativen Bibliotheken bin ich über eine Passage von Gottfried Wilhelm Leibniz gestossen. Alles nur Internetrecherche, im Moment, ich muss das noch nachschlagen und prüfen. Aber am Ende eines Textes zur kombinatorischen Bibliothek kommt es bei Leibniz zu einer überraschenden Wendung. Vielleicht kennen Sie den Text? Nur die Monadologie, gab Röhrling einsilbig zurück. Jedenfalls verschiebt sich dort Leibnizens Interesse weg von gedachten, wissenschaftlichen Universalbibliotheken, hin zur Idee einer spekulativen Privatbibliothek. Einer Bibliothek, die sich aus Privatereignissen von Privatleuten zusammensetzte, und diese einen weitaus grösseren Erkenntniswert besässe, als jede andere, wie auch immer ideal gedachte Bibliothek.

Ich verstehe langsam, worauf Sie hinauswollen. Röhrling gab nun wieder seine liegende Stellung auf, brachte etwas Spannung in seinen Körper und setzte sich aufrecht. Dann nahm er die Seiten, aus denen Benedikt gelesen hatte und überflog sie. Wo war die Stelle gleich mit den Scherben? Benedikt zeigte sie ihm und Röhrling begann sie laut zu rezitieren.

Es werden nur Scherben gefunden werden, denn es werden nur Scherben produziert. ich selbst produziere nur Scherben. Auch und vor allem indem ich in dem Haufen des Vergangenen stöbere. Ich setze Teile zusammen, die vielleicht einmal ein Ganzes waren. Nur diese Tätigkeit hält alle meine Teile zusammen. Hm. das erinnert mich etwas an all die antiken Vasen, die aus Bruchstücken rekonstruiert wurden. Die Wissenschaft war einigermassen erstaunt, wie viele Sujets sich doch mit den täglichen Leben der Leute beschäftigte. Dass diese als abbildungswürdig angesehen wurden.

Das ist ein sehr interessanter Vergleich, den Sie da machen. Benedikt fühlte sich plötzlich sehr erleichtert und machte sich eine Notiz.

Er war persönlich interessiert, wie sich Benedikts Projekt weiterentwickelte, hatte er versichert. Mehr konnte er in diesem Stadium noch nicht für ihn tun. Aber Benedikt durfte mit ihm jederzeit wieder Kontakt aufnehmen. Ja, er hatte „besuchen“ gesagt. Offensichtlich hatte der Tag dem Alten Spass gemacht.

Eine Turmuhr schlug gerade Neun, als er durchs Treppenhaus auf die Strasse stiess. Auf die nächste Strassenbahn musste er zehn Minuten warten.