Dranmor II,1c

(Unterm Dach)

Seit zwei Tagen sitze ich unterm Dach in meiner Mansarde. Ich sitze dort nicht die ganze Zeit, natürlich nicht, nur, wenn ich nicht arbeite, was offiziell als Arbeit bezeichnet wurde, nur wenn ich nicht unten in meiner Wohnung, die Distanz zweier Stockwerke, zu tun habe, also nun, ausgiebig, es ist fast Wochenende.

Hier oben lese und schreibe ich. Innerhalb von zwei Tagen habe ich das kleine Dachzimmer, geschätzte fünf Quadratmeter, aufgeräumt, entrümpelt, Dinge fortgeworfen, verdichtet und weggepackt, um diesen Raum nutzen zu können, zu bewohnen. Die Vermieter, Hausverwalter hatten mich darauf aufmerksam gemacht, ich möge doch nicht in der Wohnung rauchen, wie sie es von meinen Nachbarn erfahren hätten. Es wäre nicht vorgesehen, das Treppenhaus enthielte nun unangenehme Gerüche, und das Streichen der Wände der Zimmer, zöge ich einmal aus, obläge dann mir, wie sie es formulierten, also diese Bitte.

Ich mache mir diese kleine Kammer hier oben zunutze. Ich möchte weiter lesen und schreiben und kann nur weiter lesen und schreiben, wenn ich dabei rauchen kann. Um die kahlen, putzrissigen Wände der Kammer zu decken, um eine andere Akustik zu erreichen, nicht dass ich hier oben spräche oder andere Geräusche verursachte, um eine Wohnlichkeit herzustellen, habe ich Bilder aufgehängt. Kleine, im Verfallen begriffene Holzrahmen mit Schwarzweissphotographien von Verwandten, einer älteren Generation, die ich nicht mehr zuordnen kann, hier oben verortet, von denen ich mich nicht trennen konnte.

Den kleinen, wurmstichigen Holztisch habe ich im Keller gefunden, ebenso ein wackliges Bücherregal, nun mit modernen Apokryphen bestückt. Zwei grosse Strandmatten decken den Boden, um Schmutz und Staub zu kaschieren und den Raum barfuss begehbar zu machen.

Dranmor, Ferdinand Schmid, wie er ursprünglich hiess, wie er eigentlich heisst, so sein Taufnahme, aber Dranmor, Selbsttaufe, warum auch immer, ist in keinem einschlägigen Lexikon verzeichnet. Kindlers und das KLG ignorieren ihn vollständig. Im Internet waren nur ein paar vage, unwahrscheinlich klingende Satzfetzen zu finden – seine Werke, ein schmales Werk, eigentlich, einbändig, längst vergriffen, aber von mir in einer Kurzschlussaktion auf einer Auktionsplattform im Netz ersteigert.

Ein schmaler Band liegt vor mir unter dem Dach auf einem wurmstichigen Tisch und eine Zigarette verglüht daneben. Frauenfeld. Die vierte Auflage von 1900 der Gesammelten Dichtungen. Ein Eingangszitat runzelt die Stirn: Die Dichtkunst als lange Liebe – von Jean Paul. Ein prätentiöser Einstieg, finde ich. Ob es hier oben Insekten gibt? Oder Flöhe? Meine Wade reibt sich an einem rauhen Tischbein, das ich bequem von dem Schaukelstuhl aus, ebenfalls ein Kellerfindling, erreiche. Ich überblättere das Vorwort, die Vorworte – Vorwörter? – zu den verschiedenen Auflagen, wundere mich, dass sie alle in diesem Band erschienen, mitgeschleppt wurden, und lande hinter dem letzten.

Wanderbuch, der erste Titel, nein kein Gedichttitel, eine Kapitelüberschrift, wieder mit gewichtigen Zitaten: Exilium vita est, so der Untertitel des ersten: Ein Kind, des Geistes Schwingen kaum entfaltend, / Las ich von Thaten, kühnen, wunderbaren, / von Abenteuern, märchenhaft, gestalten, /

Märchenstunde. Ich inhaliere tief und blättere wieder ein paar Seiten zurück zu einem biographischen Teil – fresse mich darin fest. Von Zeit zu Zeit muss ich an dem Buchrücken schnuppern, süss und rauchig, eine schöne Ausgabe, Goldprägung, Ornament, das Initial des Wahlnamens, Coverschmuck, verspielt. Dunkle Andeutungen über ihn, im Vorwort, ein paar Namen werden genannt, von solchen, die es besser wüssten, man wolle hier nicht zu viel mutmassen, aber doch: ein seltsames Leben, trotz seinem konventionellen Schaffen, oder war es umgekehrt? Ich notiere ein paar Randdaten und Hinweise auf weiterführende Literatur in ein kleines Heft.

Die Bibliothek war noch geöffnet. Ihr Katalog hatte den gleichen Titel, die gleiche Auflage verzeichnet, dort also keine Möglichkeit, Gerüche unterschiedlicher Zeiten zu vergleichen, wie ich es vorhatte, aber ein anderer Fund, wie ich recherchierte, Fundstücke, Mosaiksteine, Erinnerungssplitter, eine Reihe von Artikeln, die in einer Schweizer Literaturgeschichte der Sechziger Jahre letztmalig verzeichnet waren. Und tatsächlich: zumindest zwei wurden mir von einer freundlichen Bibliothekarin als Kopie ausgehändigt, mit dem Hinweis, ich müsse mich mit den anderen etwas gedulden, sie müssten bestellt werden. Auf ein anderes Mal, unsere Verabschiedung in den Abend.

Ich gehe zu Fuss nach Hause, durch die Altstadt, den Berg hinunter am Hirschengraben vorbei, in der Tasche etwas Fleisch für Captain Trelawney, wie ich hoffe, mit dem Kopf schon unterm Dach.