(In den Krähenkrieg / Genealogie)
Ein Novembermorgen drängt sich auf. Langsam, durch mein Bürofenster hindurch, hinein, und stört, wo er nur kann. Die Zeitung meldet nichts Gutes. Ein Vogel beobachtet meine Lektüre vom Handlauf des Balkons aus, vor dem Fenster – durch das Fenster. Ein neugieriger Spatz, belesen, mustert, wenn er kann, das Rauminnere, die Bücher in den Regalen, den Schreibtisch, auf dem kein Platz mehr ist, mich. Du stehst nicht auf der Todesliste noch nicht. Zunächst zieht der Kanton in den Krähenkrieg, will die – einigen offensichtlich zur Last gewordenen Rabenkrähen mit Maiskörnern betäuben und dann töten. Krähenkrieg, die Schlagzeile. Aufmacher. Schadensverursacher. Die Obstanlagen. Die Symbole. Ist die Rabenkrähe fort, mein Freund, wird man sich nach anderen Störern umschauen. Vielleicht bist du der nächste.
Die Arbeit fliesst nicht von der Hand. Der Rückstau an Büchern, die Stapel der Prospekte, zu schreibende Protokolle, in ihrer Menge unübersichtlich, werden verdrängt: An den Rand des Tisches, in Schubladen, in geheime Schränke. Spleeniges, subjektive Hartnäckigkeiten, fixe Ideen im Vordergrund: Es muss doch etwas da sein. Vorhandensein. Einige, fast alle Aufsätze zu Dranmors Dichtung und Leben sind gekommen, fast alles, was lieferbar oder kopierbar war, so die Bibliothekarin. Habe ich schon einmal erwähnt, dass ich nicht mit Unvollständigkeiten leben kann? Der einzige Fingerzeig, die Vettersche Anspielung, dass etwas nicht in Ordnung war eine Zweideutigkeit, eine Unregelmässigkeit vor einhundert Jahren.
Ich finde einunddreissig Einträge zum Namen Vetter im städtischen Telefonbuch. Der Kollege gegenüber wird bald sein Frühstück nehmen, den Raum verlassen, hoffe ich, es ist bald Neun, ich warte; ich kann warten auf glühenden Kohlen.
Die Masche ist so einfach wie genial: Unter falschem Namen gebe ich mich als Literaturwissenschaftler aus, der hierher gereist war, um über einen Berner Dichter zu forschen, einen, der zu Unrecht vergessen wurde, um ihn posthum zu würdigen. Das ginge ans Berner Herz. Kantonaler und familiärer Stolz würde den telefonischen Eintritt in die Wohnzimmer der potentiellen Urenkel des Zeitzeugen erleichtern. Ich schildere die Umstände, erfundene Tatsachen, präzisiere Fragen. Freundlich, oft, die Antworten, man könne mir leider nicht helfen, es bestünde in ihrem oder seinem Falle keine direkte Verwandtschaft. Rita Vetter, endlich, eine Kioskbesitzerin, erinnert sich, einen Urgrossvater mit dem Vornamen Ferdinand gehabt zu haben. Ein paar Verwechslungen zuerst: Die Vornamensvetterschaft Ferdinand Vetters und Ferdinand Schmids alias Dranmor, die mir in meinen Recherchen auch zu schaffen machte, ich verhaspele mich ein paar mal, bis ich die Zusammenhänge für sie und mich befriedigend erklärt habe. Sie könne eigentlich nicht viel über ihn wie ihn sagen, hätte auch keine weiteren Verwandtschaften hier in Bern. Im übrigen sei gerade viel Kundschaft in ihrem Geschäft, ob ich nicht vielleicht heute Abend um Sieben nach Ladenschluss bei ihr vorbeischauen, mit ihr sprechen möchte, es gäbe möglicherweise noch Briefwechsel, Unterlagen aus der Zeit. Ich notiere mir ihre Adresse und sage zu.
Der Kiosk liegt direkt am Ende der Bahnlinie Drei. Ich verlasse das Tram, gehe zielstrebig auf das kleine Ladenlokal zu, zähle Schritte. Ein Eiscremewimpel flattert im Wind, ein voller Papierkorb neben der Eingangstüre bewegt sich nicht. Aus dem Ladeninnern dringt nur schwaches Licht auf die Strasse. Restlicht aus dem hinteren Bereich, der Schein einer Kerze, ein Kerzenleuchter. Ohne anzuklopfen trete ich ein, zucke zusammen über das Läuten winziger Glöckchen über der Türe, ein Hund bellt am Ende der Strasse. Der Vorraum vor der kleinen Theke ist verraucht: Tabak und Räucherstäbchen. Soweit ich im Dämmerlicht sehen kann mit Zeitungspaketen und Warenkisten verstellt. Mein zaghaftes Hallo. Auf der obersten Reihe einer Zeitungsauslage die üblichen pornographischen Periodika, darunter Regenbogenpresse, meine Hand greift nach einer Schlagzeile.
Guten Abend. Eine schwache Deckenbeleuchtung flackert auf und zeigt einen braunen Raum. Ich müsse entschuldigen, sie habe gerade ein Bad genommen und musste sich noch etwas überwerfen, ihre Wohnung liege im hinteren Teil des Gebäudes. Rita ist Mitte Fünfzig und trägt ihr dunkles, an den Seiten ergrauendes, langes Haar offen ihr schwarzer Bademantel scheint hastig verschnürt. Sie freue sich sehr über Besuche nach der Arbeit. Nach dem Tod ihres Mannes passiere das nicht mehr allzu häufig. Ob ich eine Tasse Tee mit ihr trinken möchte? Ich möchte lieber nicht. Komme gleich zur Sache.
Die Urenkelin des Biographen des Dichters. Die Umstände des Todes ich fasse zusammen, möglicherweise etwas wirr, aber ja, sie habe noch einen Karton mit alten Schriftstücken, Briefen, sie konnte sich nicht davon trennen, vor allem wegen der Briefmarken, die vielleicht noch einen Wert darstellten. Ich solle doch mitkommen, gleich hier hinten könne ich Einsicht nehmen. Ich folge ihr durch einen kaum begehbaren Gang. Schuhe und Kleider auf dem Boden, Muff bis unter die niedere Decke, trete ich in ein kleines Zimmer, einer Art Wohnküche, ein. Schauen Sie in dieser Kiste nach. Sie öffnet den Deckel: Alte Briefe, Staub, Dokumente, ich müsse sie mir einmal ansehen, sie habe noch nicht darin gelesen, nur geblättert, die Schrift, Handschrift mache ihr etwas Mühe, eigentlich sei für sie alles unlesbar. Ich beuge mich über die Kiste, greife nach dem ersten Papier, als mich ihre dünne Hand am Hals zu streicheln beginnt. Ich ignoriere sie. Der Brief, alle Briefe wahrscheinlich, nicht aus dem 19. oder frühen 20. Jahrhundert. Ein Ferdinand Vetter als Absender oder Adressat, sicher, aber die Poststempel, auch vereinzelte Datierungen – aus den Dreissiger Jahren. Unmöglich also eine Beziehungsmöglichkeit dieses Vetters zu Dranmor; die Hand streicht weiter, mir nun über den Rücken und will sich an meiner Hose zu schaffen machen. Ich drehe mich entrüstet um. In diesem Licht sieht Rita elend aus. Rabenhaft. Krähenhaft. Ihr Bademantel ist nun halb geöffnet, ich kann eine verdorrte Brust erkennen. Komm, sagt sie. Ich entschuldige mich höflich, ich müsse weiter und entreisse mich ihrer Umklammerung, eine Hand versucht noch mich an einem Jackenärmel zu halten. Beim hektischen Gang durch die Diele stolpere ich über ein paar Schuhe, kann mich aber wieder aufrappeln und finde den Ausgang des Ladens. Corvus corone corone. Ein paar Glöckchen läuten.