(Newton)
Sie würde ich nicht wiedersehen. Ich verwerfe den Plan, im Schmutz zu wühlen, weiter eine kriminalistische Spurensuche zu veranstalten, mit der Hoffnung auf einen Skandal. Skandalös ist das, was auf dem Weg, auf der Suche nach einem Skandal, einer Unschärfe, einer Passungenauigkeit, Unpässlichkeit, passieren kann, wie ich feststellen musste. Lächerlich, amateurhaft, meine Vorgehensweise. Ich nehme die Pizza aus dem Ofen und öffne einen Paternina, schenke mir Glas ein. Blue Label – zur Feier des Tages.
Spuren erfinden, legen, um sie dann zu suchen und zu finden. Und trotzdem eine fast kindliche Überraschung: Ich erinnere mich: Die Plastikfolie so erregt aufgerissen, so freudig, so gespannt auf die nächste Folge des Kindermagazins (oder war es schon für Jugendliche – ich Jugendlicher?). Am Anfang hatte ich es mir heimlich gekauft, nachdem es von den Eltern als pädagogisch wertlos eingestuft wurde. Comics waren auch darin. Die ganzen Schmutz- und Schund-Debatten der 60er und 70er konnten an diesem Heft, an mir abgearbeitet werden.
Aber auch Kreuzworträtsel und eine Witzseite. Das besondere an der Zeitschrift war aber das sogenannte Gimmick. Mal Spielzeug, Bastelei, Kuriosum. Eine Heftbeigabe. Spass und Spiel auf die ich eine Woche brannte, wenn das Heft noch am gleichen Mittag des Erscheinens zerlesen war. Etwas zum Sägen, Knobeln, Falten, anderes. Die Samen der Hängetomaten, beispielsweise. Ich hatte mich rührend um sie gekümmert, und tatsächlich entstanden Keime, die Pflanze wuchs, wenn deren Früchte auch bald auf dem Balkon von Vögeln geraubt wurden.
Von den Urzeitkrebsen, irgendwelches Wassergetier, das in einer Art Aquarium aus scheinbarem Staub erwachte, hatte sich meine Mutter geekelt. Als sie zu saufen anfing, erst heimlich, verlor sie langsam jeglichen Ekel, den man gegenüber manchen Dingen entwickeln konnte.
Ich glaube immer noch, Vater hatte sie auf ihren Wunsch ins Klo gekippt und hinunter gespült. Grosse Krise. Mein Tagelanges Schweigen. Ich konnte endlos Schweigen – ich denke, das hat ihnen Sorge bereitet. Mein langer Atem, was da Schweigen betraf. Schweigekraft. Ich hatte sie das erste Mal weichgekocht. Und wurde das erste Mal, eines der wenigen Male belohnt. Ich erhielt ein Jahresabonnement dieser Zeitschrift mit Gimmick. Offiziell, weil sie ja nicht ungerecht erscheinen wollten. Inoffiziell, weil ihr pädagogischer Plan Risse bekommen hatte. Die Detektivserie dann. Ich war mindestens ein halbes Jahr Detektiv. Die Dreieinhalbzimmer-wohnung war Detektei. Meine Schwester Sekretärin. Es gab immer Motive für Verbrechen. Meine Eltern immer verdächtig oder zu befragen. Gimmicks: Das Fingerabdruckpulver, das Flecken an der geblümten Esszimmertapete hinterliess. Schwarze Streifen. Ein Satz verschiedenster Identitätskarten und -ausweise. Ich nannte mich Newton, lange bevor ich wusste, dass es einen Wissenschaftler gleichen Namens gab. Mein Vornamenpseudonym hab ich vergessen. Der Satz kombinierbarer Phantomphotographien. Das selbstzubauende Spiegelrohr, mit dem man um die Ecke schauen konnte. Ich hatte diese Frau verfolgt, aus unserer Nachbarschaft. Habe sie nach allen Regeln der mir angelesenen Kunst beschattet. Offensichtlich nicht besonders diskret. Stümperhaft. Dann stand sie einmal vor unserer Haustüre und beschwerte sich. Sie hatte von einem kleinen Lüstling gesprochen. Die Eltern hatten sich über diesen Begriff lustig gemacht, sie oft imitiert, wie sie da stand, vor der Haustüre und sich in Rage redete. Der Vater des Lüstlings entwendete später dann doch die komplette Ausrüstung der Detektei, entsorgte sie. Die Detektei löste sich wieder in eine Dreieinhalbzimmerwohnung auf. Meine Mutter genehmigte sich zum ersten Mal einen. Meine Schwester war arbeitslos und glücklich. Das Schweigen brachte nichts mehr. Nein, ich war kein guter Detektiv. Ich werde mich mit dem zu beschäftigen haben, was vorhanden ist.
Der blaue Paternina enthält besonders viele Schwebeteilchen. Meine Lippen, besonders die etwas rissige Unterlippe ist purpurrot gefärbt, die Zunge fast blau. Ich schenke noch einmal nach. Auch der dritte biographisch geprägte Artikel aus einer Festschrift beschäftigt sich nur am Rande mit seinem Ableben. Verschweigt oder lenkt ab. Nimmt vor allem aber seine Unstetigkeiten unter die Lupe. Die Reisen. In bester positivistischer Manier zählt er die Orte auf, an denen Dranmor sich aufhielt, was dort jeweils entstanden war, führt Textstellen und Zitate an, die so unverschämt auf eigene, persönliche Befindlichkeiten umgedeutet wurden, dass man fast meinen könnte, der Autor hätte sich mit seinem Objekt verschmolzen. Besserwisserei. Trittbrettfahrerei. Kritiklosigkeiten. Weiß nicht, wie dies alles kam,/ Daß du so mich überwunden, heisst es an einer Stelle.