Dranmor II,3

(Vita brevis)

[Ohne auch nur eine Zeile von ihm zu kennen, der Blick auf sein Bild, stolz, herrisch blickt er da, die Haare ins Übliche der Zeit frisiert, wäre es kein Stich, sondern ein Portrait in Farbe, man würde bestimmt dunkle Augenringe an ihm vermuten, auch ein skeptischer Blick, ein verzweifelter aus dem doch ins feiste gehende Gesicht, ein kräftiger Hals im gestärkten Kragen, ein Zweireiher, ein sauberes Hemd, eine Binde, ein Oberlippenbart. Eine Unterschrift. Dranmor. Ein Kringel am D. Viele bögen, nach rechts ausgerichtet. dann, unvermutet, ein Strich nach dem R, wie ein Blitz nach links unten, ein ungezückter Säbel.“>

Der Dichtungenband von 1873 liegt vor mir, alt, verstaubt, mehrfach umgebunden, ich zögere ihn zu öffnen, so fragil scheint er, ein Kopieren ausgeschlossen, ein Werk würde vernichtet, entbunden, ein Loseblattwerk würde entstehen. Auf der ersten Seite, ein Schenkungsvermerk, schwer lesbar, möglichicherweise die Handschrift Dranmors, ich entziffere mühsam Geschenkt der Fa. Hr. Ruetschi, Bern, vielleicht aber auch ein Geschenk eines Herrn Ruetschi an die Bibliothek oder jemand ganz Anderem – wer kann das noch rekonstruieren? Die Dichtkunst ist eine lange Liebe dann unter dem Titel, ein Jean Paul Zitat, auf der nächsten Seite ein Montaigne-Zitat auf Französisch. Sympathisch, eigentlich, mein erster Gedanke, aber schnell verwischt, nach der Durchsicht der folgenden Seiten und der Feststellung, dass vor jedes Poem ein Zitat kanonischer Grössen vorangestellt wurde. Einschreibungsversuche also, grosser Respekt also, Zeichen der eigenen Verunsicherung, eigene Erkenntnis eines Sinnstiftungsdefizits, sein Beinahezeitgenosse T.S. Eliot hatte ganz recht …

Wo Anfangen? Mit dem Anfang? Dem Inhaltsverzeichnis? Nach Zufallsprinzip? Das Buch öffnet sich, möglicherweise ein Effekt der mangelhaften Bindung auf Seite 111. Das zwanzigste Poem mit dem Titel Don Juan: Einer albernen Fabel / Opferte dich, den Helden / Spanischer Minne, / Deutsche Klatschbaserei; / „Tausendunddrei“, / Sagen die Frommen achselzuckend, / …

Ich unterbreche hier. Ich denke, dass ich vielleicht doch einen systematischen Zugang wählen sollte, denke wieder an Vetter, durch den mein eigentliches Interesse an Dranmor gewachsen ist. Meine morgendliche Lyrikmail enthielt ein Gedicht von Dranmor, und wie immer recherchierte ich ein bisschen nach, fand hierzu erstaunlicherweise nur wenig, einen Aufsatz von ebenjenem Ferdinand Vetter. Das war gestern. Ich fand ihn bei der kursorischen Lektüre eines Sammelbandes von Berner Rezensionen des vorletzten Jahrhunderts. Zeit ist vergangen, ich habe mich hineinfallen lassen, in dieses Jahrhundert, in dieses alte Papier, die Sprache, und weiss nicht, noch nicht, was ich damit anfangen kann oder will, habe mich hineingefressen in Dranmor und seinen Biographen und stehe noch ganz am Anfang.

Bei einer weiteren Recherche stiess ich auf einen grösseren Eintrag, wieder jenes Gedicht:

Wiedersehn, dich wiedersehn?

So bin ich versucht zu fragen,

Wenn an schwülen Nachmittagen

Böse Geister auferstehn;

Wenn Erinnerung mich stört,

Die von dir nicht abzulenken,

Zauberin! wenn all mein Denken,

All mein Wünschen dir gehört;

Bis des jungen Tages Kuß

Mich vergessen läßt die deinen,

Daß ich, statt um dich zu weinen,

Unsre Trennung segnen muß.

Ist das Schlimmste jetzt vorbei,

Ach, nur wenig atm’ ich freier!

Mit dem Gürtel, mit dem Schleier

Reißt nicht jeder Wahn entzwei.

Weiß nicht, wie dies alles kam,

Daß du so mich überwunden;

Doch es waren gute Stunden

Und ich bin dir nimmer gram.

Denn mich reut nicht, was geschehn;

Aber soll mir’s je gelingen,

Ganz von dir mich loszuringen,

Darf ich nie dich wiedersehn.

Dranmor (1823-1888)

Darunter eine kleine Vita zum Autor: D., eigentlich Ludwig Ferdinand Schmid, geb. am 22.Juli 1823 in Muri bei Bern als Sohn eines Bankiers, 1840 wird er nach dem Tod des Vaters gegen seinen Wunsch Geschäftsmann, er hat aber den Vorsatz, ins Ausland zu gehen, nach einer kaufmännischen Lehre in Basel lässt er sich 1843 in Brasilien nieder, zuerst in Santos, später in Rio de Janeiro als Handelsvertreter einer großen Firma, in den Jahren 1847-1851 reist er durch ganz Europa, 1852 wird er zum österreichisch-ungarischen Generalkonsul in Rio ernannt, er erhält von der österreichischen Regierung die große goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft, 1865 heiratet er die Französin Lise Aglae aus Rouen, 1868 erscheint in Wien ein dem Kaiser gewidmetes Klagelied: »Kaiser Maximilian«, er kehrt nach Europa zurück und lebt einige Jahre in Paris, ab 1874 ist er wieder in Brasilien und hat dort mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, das letzte Lebensjahr verbringt er in seiner Heimatstadt, er stirbt am 17. März 1888 in Bern und wird dort auf dem Ostermundiger Friedhof begraben.