Dranmor II,4

(Brasilien)

Du wärst gerne nach Brasilien gegangen. Du hättest gerne einen der zwei Plätze in dem Austauschprogramm angenommen. Die Sprache hast du begonnen zu lernen, dich mit deiner möglichen Abwesenheit hier beschäftigt, dich gefragt, was wäre, wenn du woanders wärst, dir einen Platz suchen und finden könntest, um dich dort neu zu orientieren, eine Zäsur herbeizuführen, die nicht allzu schmerzhaft, die nicht mit allzu grossen Umständen zu bewältigen wäre.

Du hast vom Meer geträumt. Von der Freundlichkeit der Menschen, von einer friedlichen Koexistenz, von einer anderen Umgebung, die du erschliessen würdest – die du dir zurechtlegen würdest. Du wolltest deine kleinen Enttäuschungen beseitigen, dir nützlich sein, und das alles in einer gesicherten Struktur.

Diese Programm hätte dir all das ermöglicht. Du wärst finanziell abgesichert gewesen. Du wärst in ein soziales Umfeld geschickt worden, das es dir auf ganz einfache Weise ermöglicht hätte, ein Beziehungsnetz aufzubauen. Du hättest dich weiter um dein Studium, deine Arbeit kümmern können – wer weiss, vielleicht wärst du dort geblieben, hättest dir einen Freundeskreis aufgebaut, hättest dich wieder verliebt, hättest dich mit dem Klima abgefunden – du bevorzugtest eigentlich eher kühlere Regionen – und wärst dort glücklich geworden.

Du hast dich aber gehen lassen, verschleppen lassen. Du hast dich um nichts mehr gekümmert. Bist damals aus deiner Wohngemeinschaft ausgezogen, weil du nachdenken wolltest, wie du einmal gesagt hast. Du hast dir eine kleine Zweizimmerwohnung genommen, die schäbig war und die du kaum bezahlen konntest, die du für beinahe ein Jahr nicht mehr verlassen hast.

Du hast viele Dinge abgebrochen. Kontakte, die du geschätzt hast, einen Nebenjob, den du gemocht hast, stattdessen die Nachtschichten in der Druckerei, bei denen du mit niemandem sprechen musstest. War es das wert? War sie das wert? Du hast dir überlegt, die Stadt zu wechseln, sie über Nacht zu verlassen und anderswo ein kleines Leben zu führen, zunächst einmal. Dann hast du erfahren, dass sie weggegangen ist, nach Italien gezogen ist, nach Neapel, ihre abgöttisch verehrte Stadt. Dann hast du erfahren, dass sie sich dort verliebt hat, in einen ihrer Dozenten, dann hast du erfahren, dass Roman sich für einen Platz in Rio beworben hatte. Und in dieser ganzen Zeit warst du gelähmt und hast nichts gemacht.

Und du hast dieses und jenes gedacht. Und du hast über sie nachgedacht. Und du hast über ihn nachgedacht, über die beiden schliesslich, und was mit dir passiert sei. Was mit dir schiefgelaufen sei. Und dann hast du lange über dich nachgedacht, und dann noch länger gar nicht mehr.

An einer Offsetmaschine und in deiner Souterrainwohnung mit der schimmelnden Dusche und der stinkenden Küche. Bis zu deinem Unfall hast du in einer eisigen Verharrung gelebt.

Und in der Zwischenzeit sind sämtliche Termine verstrichen, und du hast Arbeiten nicht eingereicht, und du bist den anderen hinterhergehinkt, und Roman hat einen Platz in Rio bekommen, das hast du erfahren, denn er hat dich noch vor seiner Abreise um kleine Gefälligkeiten gebeten und du hast sie ihm in deiner Lähmung erfüllt. Und dann hat er dir Karten geschrieben. In immer längeren Abständen. Und du hast sie kaum gelesen, und geschrieben hast du ihm nie, denn du fandest seine Adresse nicht mehr. Vielleicht wolltest du sie auch nicht mehr finden. Auch von ihr hast du eine Karte bekommen. Wie glücklich sie jetzt sei. Und eigentlich hättest du nach Rio gehen sollen. Doch dazu warst du nicht in der Lage – damals. Der Strand. Die gnadenlose Sonne.