(Puna)
Es sitzt sich so gut auf den Eisenstühlen vor dem Bundeshaus. Anfängliche Kälte weicht aus dem Körper, bildet einen Wall zwischen Dufflecoat und Strickjacke, Felle, Schichten, schützen vor noch kälterer Kälte des Aussen. Ein Herzschlag normalisiert sich. Rum ist ein Getränk dieser Jahreszeit und macht das sich an den Oberschenkeln einfrierende Stuhlgeflecht vergessen. Eine Schweissperle sucht sich ihren Weg von der Stirn zum Hals, um sich in einem Kragen zu verstecken, um dort vielleicht zu trocknen. Salzwerdung. Das Aussen.
Ein kitschiger Caspar-Wolf-Blick über das Aaretal führt hinauf zum Gurten, Hausberg der Stadt, lässt meine Augen bald kneifen, zusammen, schaue ich mit ihnen in die Ferne hinauf. Die Anordnung verschwimmt zu erhabenem Weiss mit dunkler Borte, Baumreihen, Himmelskanten, darüber grauer Nebel und nichts.
Dieser Mittwochabend ist ein Abend, der nach dem Mittagessen beginnt. Ein halber freier Tag macht einen Tag zum Tag und erinnert an Leben. Ein Wenig. Einkäufe. Papiertüten meine zwei Begleiterinnen zur Rechten und Linken, frösteln am Boden. Etwas dampft aus ihnen. Warmer Kartoffelsalat vielleicht, der sich gerade an die Temperatur anpasst. In der anderen der Leberkäse. Sie müssen wieder aufgewärmt werden. Später, sollte ich Hunger bekommen. Ich rekonstruiere ein unbefriedigendes Gespräch mit Roman in den Drei Eidgenossen. Er versteht nicht. Wenn ich ihm etwas nicht sagen will, und das mitteile, ist das nicht verhandelbar. Wie es mit dem Schreiben vorangehe. Wenn ich noch nicht einmal ein Thema nennen könne. Was es ihn angehe, wenn ich Mittags nun ein Bier anstelle eines Milchkaffees trinke. Nicht verhandelbar. Keine Antwort auf diese Frage auch, wenn sie gar nicht gestellt wurde. Ich erzähle lieber von Menschenfressern in Brasilien. Dass es sie immer noch gäbe. Dass das Menschenfressen auch heute noch durchaus verbreitet sei, auch hier in Europa. Es sei gerade wieder im Kommen. En vogue.
Roman sah heute anders aus. Rosiger. Etwas hatte seine Gesichtsproportionen verändert. Die Haare. Sie waren dunkler als sonst. Hatte er etwa seine Haare getönt? Ich weiss noch, wie stolz er auf sein erstes graues Haar war. Schläfenhaar, das er stolz an einem Abendessen herauszupfte und herumreichte. Theatralisch angewidert und stolz. Vor acht Jahren? In seiner damaligen Lockenpracht fiel die angehende Melierung nicht weiter auf. Aber heute war das Haar dunkler. Frischer. Jünger. Nein, noch eine andere Sache: Er hatte sich seinen dünnen, flusigen Oberlippenbart abgenommen, sich von dem kleinen, stacheligen Flaum getrennt. Will er sich verjüngen? Vielleicht muss ich seine Bemerkungen zu meinem Äusseren neu verstehen. Ob meine Waschmaschine kaputt sei? Ob ich mir nun einen Bart wachsen liesse? Ob nicht Ob ich mich nicht gehen liesse? dahintersteckte. Ein Dreitagebart stünde mir gut. Es sei ja nun auch Winter, und … Er meint es nicht so.
Ich suche nach einem Papiertaschentuch in meiner Manteltasche, trockne die feuchten Hände, mit denen ich unvorsichtiger Weise die Stirn berührte, mir Schweiss ins Haar gestrichen hatte, um es zu formen. Unbewusst versucht hatte den halblangen Haaren Form zu geben, in Form zu bringen. Das Problem vom Kopf in die Hände gelagert.
Ich sollte sie bald waschen, sie beginnen langsam zu stinken. Hatte ich an das Shampoo gedacht? Vielleicht auch einfach nur abschneiden. Die radikale Lösung: noch heute den Schädel kahl rasieren mit einem Barttrimmer, wo war er noch, bestimmt im Keller, in der Elektroschrottkiste, wie finden?, die Jugendfrisur, es habe mir immer gestanden, dem nachhängen, eine Verjüngung, ebenfalls, würde Roman dann sagen, vielleicht doch nur waschen.
Vielleicht sollte ich mich vor dieser Entscheidung mit jemanden beraten. Vielleicht sollte ich mich generell mehr beraten lassen. Warum aber eine Veränderung im Angesicht der Veränderung, die logische Frage, darauf? Das Bleiben und So-Bleiben wäre als Thema auch zu vermeiden gewesen. Ob er es darauf bezogen hatte? Nur bleiben zu können, wenn man nicht so bleibt. Ich hatte vehement protestiert, von einem An-und-für-sich-Bleiben gesprochen. Plädiert, beinahe. Eisern verteidigt. So musste die Auseinandersetzung begonnen haben. So hat es sich entwickelt. So könne man nicht mehr leben, hatte er gesagt. So könne das Sosein sein, habe ich entgegnet, ich sei das beste Beispiel dafür. Roman: Dass ich kein Beispiel sei. Dass hier überhaupt nichts Spielerisches am Werk sei. Dass ich schlicht etwas beiläufig sei im äussersten Falle. Unter uns, als Freunde. Zuviel. Zuviel. Ich hatte dann etwas gesagt, worauf er ging. Ein Michanstarren der Leute in der Bar. Was war es oder war ich zu laut? Oberlippenbärte sind heute etwas durch und durch Hässliches. Das sei objektiv. So etwas zu haben, passiere nicht im Zufall. Es sei eine gewollte Entstellung, wenn man damit nicht gerade eine ungewollte kaschieren wolle. Es brauche Mut so einen Bart zu tragen. Es brauche Bescheidenheit. Tiefste Bescheidenheit. Demut. Roman hatte ihn sich abgenommen und sich gleichzeitig aus einer umfassenden Bescheidenheit verabschiedet. Das sei ja nun auch eine Bescheidenheit. Aber anderer Art: Die Inkaufnahme eines Verlustes. Des Verlustes der Möglichkeit in einem Tal zwischen zwei Bergen zu hocken, also dort leben zu können. Man verpflichte sich gleichzeitig einen Gipfel zu definieren und ihn zu nehmen. Es sei doch Wahnsinn. Im übertragenen Sinne.
Hatten das alle gehört? Einige schauten betreten in ihre Gläser und Tassen. Schwamm drüber, würde er vielleicht sagen. Ich hoffe. Die drei Phasen der Bergkulisse verschwinden. Schwimmen ineinander. Das Weiss der verschneiten Matten wird dunkler, das Dunkel des Waldsaumes der Spitze heller. Der Nebel legt einen Schleier über die Kanten. Alles wird grau. Kartoffelsalat und Leberkäse: kalt und grau. Laternen blitzen auf und leuchten einen Bogen zur Strasse.