(Man müsse)
Es täte ihm sehr leid. Dass es immer so weit kommen müsse. Es sei ja nichts Ungewöhnliches, habe er gelesen. Die Erwartungen. Das Unausgesprochene. Das Angestaute. Dann die plötzliche Lösung. Man müsse das nächste Mal eine andere Lösung finden. Vorher darüber sprechen, habe er gelesen; man müsse den Möglichkeiten von Eskalationen aktiv begegnen, einer Situation den Wind aus den Segeln nehmen. Man müsse Bedürfnisse artikulieren, ganz frei. Man müsse dem anderen Raum geben, ihn nicht zu manipulieren versuchen. Man müsse auch versuchen, nicht alles besprechen zu wollen, das könne man auch gar nicht. Besonders in Familien mit schwierigen Charakteren. Eine gehörige Portion bewusster Verdrängung gehöre auch dazu. So könne es gelingen. Wenn nur jeder seinen Teil dazu beitragen würde sei dort gestanden. In vielen Artikeln: in der Hörzu, im Tagblatt, überall. Es sei absolut verständlich. Man müsse es das nächste Mal vielleicht so versuchen. Ja, das müsse man, antworte ich, dann lege ich bald den Hörer auf.
Den ganzen Tag war die Wohnung nicht zu heizen. War es so, als würde ins Nichts geheizt werden, ein ständiges Brennen, nun auch im Magen, zerlodert, gleichförmig, klamm.
Die andauernde Entzündung des Daumens, die offene Stelle, Fehlen der Haut es ist nicht besser geworden.
Kruste, darunter einmal gelbe, dann wieder rote, gräuliche Flüssigkeit, sämig, ein Bakterienmeer, wahrscheinlich, es hört nicht auf. Es will sich nicht schliessen, verschliesst sich nur einer Heilung. Bewegungen machen Mühe, eine Abwinkelung ist ausgeschlossen.
Die Notizen, die entstehen, ich kann sie nicht mehr in meinen Laptop übertragen. Die Handschrift, Erstellung von Manuskripten ist möglich, viele, ein Berg Manuskripte, ein loser Blätterhaufen, erst die Maschine, eine Überführung ins Digitale würde Ordnung schaffen, eine eigene Ordnung nach eigenen Gesetzen.
Der Berg also auf dem Küchentisch ein anderer im Wohnzimmer auf einem Stuhl. Notate. Kurzschlüsse. Exzerpte von Dranmorgedichten. Eigenes. Unverwertbares. Dazwischen eine Lage mit Namen, die ich meinem Vater gab. Gesetzestafeln, die damit erstellt wurden. Auch etwas Eiter, auf dem einen oder anderen Zettel, weil sich das Wundprodukt einschreiben will, weil eine Wunde sprechen kann.
Ich bin nicht unglücklich über den anhaltenden Schmerz, die steigende Intensität, ausgehend von dem Daumen, die sich nun langsam der ganzen Hand bemächtigt, auf den linken Unterarm zuzuwandern scheint. Der wandernde Schmerz, der sich ausbreitende als stabiler Bezugspunkt. Als Referenz. Tröstend. Etwas, worauf ich mich konzentrieren kann, immer wieder, wenn der Haufen, der Stapel Papier unter seiner Höhe zusammenbricht, der ganze Sinn aus der Nichtordnung fährt, dann meldet sich der Daumen. Eine faule Daumenordnung, die Aufmerksamkeit sie wird abgezogen, wird gebündelt, konzentriert sich, macht mich begreifbar.
Die Kontrolle dann, bis an ein weiteres Aushalten nicht mehr zu denken ist, bis ich zur Arznei greife, um mich wieder zerstreuen zu können; bis die Langeweile des Schmerzes entsteht und wieder vergehen muss, eine andere Unterhaltung gewünscht ist. Das Medikament wirkt langsam. Dann aber, wenn schon gar nicht mehr an Wirkung geglaubt wird.
Dann wird auch wieder der Hunger wahrgenommen. Sie müssen mehr essen und Sie müssen sich dazu zwingen und Das vergrössert auch die Chancen Ihrer Genesung und Ich gebe Ihnen etwas hiervon, das wird Ihren Appetit anregen. Das eine mit dem anderen nehmen. Die Steuerbarkeit. Es so kontrollieren zu können, erleichtert mich.
Ich wähle eine Nummer, die ich auswendig kann. Eine Pizza Napoli, kleiner gemischter Salat, Flasche Montepulciano, Casa d`Italia dankt. Man könne es in fünfundzwanzig Minuten abholen.
Grauer Schwarzpulvertag. Ein beissender Geruch. Rotes zerfetztes Papier auf den Strassen, die kleinen schwarzen Löcher in den grauen Schneebergen der Ränder. Wäre nicht der Schmerz, wäre andere Langeweile. Müsste ich Roman anrufen oder schreiben, würde ich ihn nicht treffen, weil er keine Zeit hätte. Könnte ich mich aber mit dem Nichttreffen auseinandersetzen. Was passiert wäre. Und dem Hunger und der Langeweile. Es riecht nach Krieg. Nach einer jungen Schlacht, die noch nicht zuende ist. Ich halte mir ein Taschentuch vor die Nase. Beschleunige.
Roman nicht da. Nicht vor nächster Woche. Bis dahin: Der Daumen. Der Schmerz. Die Arznei. Der Hunger.
Raketen am gestrigen Himmel im heutigen Film, zerschossene Hüllen auf gedecktem Asphalt. Das Öde. Nichts Öderes als ein Bild eines Neujahrstages der kleinen Strasse. Man müsse das verbieten.
Morgen werde ich zum Arzt gehen. Spätestens übermorgen. Ich muss den Daumen in Ordnung bringen lassen. Er muss mich in Ordnung bringen.