Dranmor IV,1e

(Wilde Wehen)

Das kommt dabei heraus. Das kommt dabei heraus, wenn man sich nicht vorbereitet hat, wenn man denkt, einfach mal nur so eine zweite Zeugung anzustreben, zum Stift zu greifen und ins Blinde zu faseln. Das dann, wenn man es noch einmal genau besieht, keine eigentliche Produktion ist, viel mehr eine Menschenfresserei aus sich selbst. Debe mara pa! Und das dann: Die Ausscheidung. Ein dürres Häufchen Zeichen, das zu keiner Ordnung gehört. Ein pilziges Gewimmer, das Trauer bereitet. Ein Nicht-Text. Ein Zuviel der Aufregung. Eine Nichterwähnenswürdigkeit. Eine Missgeburt – nicht überlebensfähig. Wahrscheinlich. Vielleicht.

Aber was nutzt ein Vielleicht, wenn man es nur vielleicht sagen kann? Wenn es nur vielleicht so ist, nicht so erkennbar, wenn es ganz anders wäre, wenn man es noch einmal genau besehen müsste. Etwas ganz einfaches, das man sich viel schwieriger ausgedacht hatte, richtig ausgeheckt hatte. Gemalt hatte, gepresst hatte, gedrückt, in eine Badewanne (der Spiegel sollte auch mal wieder …), ins Blaue, ins Ungefähre hinein. Etwas, das man nach zwei Flaschen Wein gut und konkret gedacht hatte, und jetzt, genauer betrachtet, bei Licht sozusagen, jetzt wird festgestellt, es ist vielleicht etwas ganz anderes, und damit nichts wert!

Man möchte es ja nicht mehr anschauen. Diese Sauerei. Dieses Werkchen. Dieses Textchen, in dem er noch nicht einmal vorkam. Mit ihm gar nichts zu tun hat. Nicht einmal im entferntesten. Vielleicht das Debe mara pa: ja, vielleicht war er ein Menschenfresser, oder Opfer eines Menschenfressers, oder Vielfrass, oder einfach nur ein Spatienfresser und schlechter Verdauer. Schlecht konstruiert! Vergessen wir das! Unbrauchbar.

Man möchte es ja nicht mehr anschauen. Ich möchte mich mit diesem Kopf gar nicht mehr an die Entzifferung dieser traurigen Zeichenfolge machen. Es muss, es sollte schon anders sein. Es sollte schon etwas geordneter zugehen. Es hilft ja nichts, geradezu ins Blaue, ins Wilde zu fabulieren. Irgendeinen Phantomschmerz, irgendeinen Daumenschmerz an einer anderen Stelle, in einen fruchtbaren Bauch hinein, über ein Blatt Papier auszuleben, auf ein Blatt Papier zu kompensieren, irgendeinem vermeintlichen Druck nach zwei Flaschen Wein und dem ganzen Korn nachzugeben und es irgendwo hinzurotzen und zuzusehen wie es wird, und mehr. Es hilft nicht! Was hilft? Wer hilft? Wer kann da noch helfen? Andererseits: Es muss eben auch nicht alles mit Dranmor zu tun haben, oder?

Ich bin nun wir, das hört sich besser an. Wir rekonstruieren: Wir setzen uns eine lustige, weisse Mütze auf, und fangen noch einmal von vorne an:

Das Erdbeben morgens um Vier, die Krähe, ich mache mir Notizen, ich beobachte mich mit meinem dicken Bauch, und es zieht und es ist nichts und ich frage und man sagt, es sei nichts, noch nicht, und ich nehme ein Bad, und der Fleck über dem Fenster ist vielleicht ein paar Zentimeter grösser und ein bisschen dunkler geworden, aber es ist nichts. Und ich lege mich wieder ins Bett, und die Blase platzt. Einfach so, als ob nichts sei. Und man macht sich ans Werk. Die Entleerungen: Oben. Unten. Hinten. Vorne. Die Konsistenzen: Flüssig. Fest. Flüssig. Fest. Dann wieder Hunger. Dann das Loch und ein Riss. Dann wieder nichts.

Dann zur Nachuntersuchung. Wir nennen es Kritik. Fast eine Besichtigung. Drei Leute, eine Besuchergruppe Lernender, die daran rummachen darf und raunt. Raunen um die Therme herum: Raunen. War das etwa Ihr zweiter Versuch?

Was will er auch tun? Ist es überhaupt ein Er? Inaugenscheinnahme nenne man so etwas. Er weint, aber was will er auch machen: kein Grund zum Greinen; es ist die Beste aller Welten. Das wird er schon noch merken. Ich mache nichts als Notizen. Beobachte das Raunen. Beobachte mich und wie ich beobachtet werde. Das Niesen. Normal – muss ja alles raus. Das trinken ging gut? Ja? Es säuft. Er säuft schon. Wenn Sie ihn bitte hierhin legen könnten. Hände desinfizieren. Spender sind überall im Raum. Zur Repetition: Wie haben hier eine spontane Geburt. Der Beugetonus überwiegt. Der Hängetonus und die Kopfkontrolle. Achten Sie bitte auf vorhandene Symmetrien. Die Haut ist rosig. Das ist wichtig. Der Übergang von der Intrauterie zur Extrauterie? Die Umstellung – nicht so gelungen. Ausziehen: Die roten Füsse, die Extremitäten. Die Pickel sind harmlos. Sogenannte Melien – haben nichts zu bedeuten. Aber die Lanugobehaarung und die Furchen an der Fussunterseite. Auch wichtig: die Abgrenzbarkeit der Lamellen. Das Penisgefälte. Werfen Sie bitte auch immer hier ein Auge darauf … Wer weiss denn, ob? Der orangerote Fleck in der Windel? Uratkristalle und Ziegelmehl. Wir führen eine kleine Auskultation durch. Das Abhören. Sehr wichtig! Kann man auch an anderen Stellen? Den Puls? Am besten elektronisch. Und die Bedeutung der ersten Schreie: Wie hier bei dieser protrahierten Geburt. Es kam zu einer verzögerten Adaptation. Jetzt weint er. Wie macht man das? Ein bisschen Grappa, äh Traubenzucker, das ist schön süss, da geben die Babys dann wieder Ruhe. Und die Kreislaufsituation? Die Stigmata: Hier auch nicht die Ohrmuscheln und die Lidachse. Und erst die Fontanellen: Die Dreiecksfontanelle fühlt man kaum. Streichen Sie ruhig mit dem Finger über den Kopf. Nun, die grosse Fontanelle kann sich später noch verschliessen. Zählen Sie die Finger und Zehen. Denken Sie nur an Hexadaktylie. Und hier unten, wir drehen ihn mal, das Sakralgrübchen. Die Plexusparese und die Spontanbewegung. Alles nur wenig ausgebildet. Palpieren Sie die Mundhöhle. Ist es ein Gaumenspalter? Und die Augen? Hat jemand eine Lampe? Keine Lampe? Dann lassen wir das heute. Wieviel sieht man denn in diesem Alter? Nur hell-dunkel und nur direkt vor dem Gesicht. Schauen Sie sich nur den Nabel an: Drei Blutgefässe – hier nur zwei. Die Infusionen. Der Nabelvenenkatheder. Der Nabelarterienkatheder. Und die neurologischen Aspekte: Die Greifreflexe. Die Beinmuskelreflexe. Dürftig. Hier eine Asymmetrie – das kann was bedeuten. Überprüfen Sie auch den Muskeltonus. Das hier ist eher eine normale Schreckreaktion …

Meine Hand ist eingeschlafen. Aus ihr sind Dinge geflossen. Zeichen. Spuren. Wie kann man sich anmassen, sie so zu deuten. Und die Schelte: Man solle ja nicht nur zeugen. Man muss ja auch austragen können. Alles andere sei keine Geburt. Man sehe es ja sofort. Alles andere ist das Gegenteil einer Geburt. Ist eine Fleischfresserei, und was folgt? Ausscheidung. Vielleicht etwas Blut und Fleisch. Vielleicht atmet es sogar und streckt sich auch an manchen Stellen. Aber viel grösser wird es nicht. Ich lese den Text noch einmal langsam und laut: