Dranmor IX,5a

(Kaum günstigere Bedingungen)

Und ob man mir bitte wieder Füsse und Hände von diesen Fesseln lösen könne, frage ich sanft und in durchaus vernünftigem Ton, denn ich kann mir vorstellen, dass eine andere Strategie scheitern wird. Das würden sie sofort, Sabina, mit Blick auf die anderen, ich bräuchte wohl etwas Flüssigkeit. Viel Flüssigkeit.

Man hätte zu dieser Massnahme greifen müssen, man kenne schliesslich die Symptome. Letztlich hätte mich selbst verletzen können. Busch zieht seine eng um mich geschlungenen Wurzeln und Äste zurück und gibt meine Beine frei. Das Eichhörnchen zernagt sorgsam geflochtene Handschellen, die mich an einen gestürzten Baum fixierten. Dann weisst man mir, wo die Kleider hängen, diejenigen, die ich tragen dürfe, die frische Luft habe mir gut getan, eine gesunde Farbe, ja, vor allem im Gesicht, ich sähe sehr, sehr viel gesünder aus. Und nun dürfe ich mich anlegen. Die kurze Hose hier, die reiche schon, und, nun gut, wenn ich unbedingt wolle, auch das alte Hemd.

Und, ich werde ironisch, das sei aber sehr nett, dass ich mein Hemd behalten darf und mich nicht von ihm trennen muss, wie von der Jogginghose, der Jacke, den Schuhen und: Wo eigentlich die Notizen seien? Und: die Strümpfe?

Aber nein, ich könne mich wirklich an nichts erinnern und das sei eigentlich auch gar nicht schlimm. Sie haben ja recht, ich wisse ohnehin nicht mehr, was daruf gestanden habe, auf den Seiten, denke ich an sie zurück, an ihre Oberflächen, sind da nur noch Muster und nichts von irgendeiner Bedeutung, auch nichts Rückwärtiges, auch nichts nach oben oder unten Lesbares, oder von hinten, vielleicht.

Und im Teich: da schwimme es sich gut, da fahre bestimmt bald ein Schiff, das breche sicher entzwei, dann wären sie nützlich, das ihr Sinn, ist die Schrift, das Gedruckte nicht bis dahin gelöst oder zerlaufen, bis dahin. Bis dann.

Ein Vater? Ich lache. Eine Mutter? Schwester, Freunde, Schulkameraden? Ein kleines Arbeitsleben? Ihr habt sie mir gut gespielt. Aber nicht gut genug. Ihre Tatsächlichkeit sei doch sehr unwahrscheinlich. Und: Habe ich nicht die meiste Zeit mit euch verbracht? Mit dir, Sabina, meine Verlobte, und mit dir Eichhörnchen, guter Freund und Sprechkamerad, und dir, Busch, Haus und Hütte, und dir natürlich, Maximilian, mein Schweigsamer, mein Fisch, meine Sprache. Ich sei pathetisch? Habt ihr mich nicht Jahrzehnte durch die Wälder begleitet. Und davor? Ihr habt gesagt: war nur ein schlechter Traum.

Ich möchte das schon selbst glauben, was ich sage. Und ich glaube, was ich da sage. Da sage ich: Ich sage immer, was ich glaube. Hört ihr mich? Hallo?

Ich habe ein wichtiges Alter erreicht, so Sabina. Wie sie das meine, frage ich. Ich sei nun in das Stadium einer gewissen Volljährigkeit eingetreten. Das erreichten nicht allzu viele Menschen in meinem Alter. Die Weisheit, nein, so wolle sie das nicht nennen, es sei ein zu seltsames Wort, aber, ich verstünde schon, ein gewisses Quantum an zu Erlebendem sei nun vorhanden, und: ich könne nun mit ihm umgehen. Ich hätte mit all den Erfahrungen auch das Recht erworben, mich ihr anschliessen zu dürfen. Ob ich mich darüber freue?

Natürlich, ich freue mich mechanisch darüber, aber, was sie denn damit meine, „mich ihr anschliessen zu dürfen“. Wir seien doch schon ein Paar. Wir könnten uns doch kaum noch näher kommen, und, sicherlich, wir könnten mehr Zeit mit uns alleine verbringen. Ich werfe dabei einen verschwörerischen Blick über die Schulter in Richtung der anderen.

Das meine sie nicht. Wie ich mir das denn vorstelle? Überhaupt: Bald würde es wieder kälter werden und sie müsse sich in ein anderes Klima orientieren. Ob ich mir vorstellen könne, mitzukommen. Ich müsse das irgendwie probieren. Ich müsse es einmal versuchen, ja, wenigstens einmal versuchen mit ihr die Luft zu teilen. Und: ob ich ihr das verspräche. Und: ob wir das nicht bald versuchen sollten? Die Bedingungen dafür könnten nicht günstiger sein. Auch Busch, auch Maximilian, auch das Eichhörnchen echoen: Nicht günstiger. Kaum günstiger.

Ich überlege einen kurzen Moment, stimme dann aber ein in den Chor der nun alle Erfreuten: Er wird es versuchen. Ich werde es versuchen. Wann? Wo? Jetzt. Sofort? Komm mit.